Anlasslose Speicherung: Justizministerium veröffentlicht Gesetzentwurf zur Vorratsdatenspeicherung

<p>Die Bundesregierung will Internet-Zugangs-Anbieter verpflichten, IP-Adressen aller Nutzer für drei Monate zu speichern. Das geht aus dem Gesetzentwurf zur Vorratsdatenspeicherung hervor, den das Justizministerium veröffentlicht hat. Das Gesetz betrifft auch Internet-Dienste wie E-Mails und Messenger.</p>
<figure class="wp-caption entry-thumbnail"><img width="860" height="484" src="https://cdn.netzpolitik.org/wp-upload/2025/12/BMJV-Stefanie-Hubig-860x48... class="attachment-landscape-860 size-landscape-860 wp-post-image" alt="Stefanie Hubig" decoding="async" loading="lazy" srcset="https://cdn.netzpolitik.org/wp-upload/2025/12/BMJV-Stefanie-Hubig-860x48... 860w, https://cdn.netzpolitik.org/wp-upload/2025/12/BMJV-Stefanie-Hubig-1200x6... 1200w, https://cdn.netzpolitik.org/wp-upload/2025/12/BMJV-Stefanie-Hubig-380x21... 380w, https://cdn.netzpolitik.org/wp-upload/2025/12/BMJV-Stefanie-Hubig-1536x8... 1536w, https://cdn.netzpolitik.org/wp-upload/2025/12/BMJV-Stefanie-Hubig-660x37... 660w, https://cdn.netzpolitik.org/wp-upload/2025/12/BMJV-Stefanie-Hubig-160x90... 160w, https://cdn.netzpolitik.org/wp-upload/2025/12/BMJV-Stefanie-Hubig.jpg 1920w" sizes="auto, (max-width: 860px) 100vw, 860px" /><figcaption class="wp-caption-text"> <span class='media-license-caption'> &#8211; Alle Rechte vorbehalten <a href="https://www.bmjv.de/DE/ministerium/hausleitung/min/min_node.html" >Bundesregierung/Sandra Steins</a></span></figcaption></figure><p>Die Bundesregierung nimmt den dritten Anlauf für eine Vorratsdatenspeicherung in Deutschland. Das Justizministerium von SPD-Ministerin Stefanie Hubig hat einen <a href="https://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/Gesetzgebung/RefE/RefE_IP_Sp... erarbeitet und <a href="https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/2025_IP_Speiche...öffentlicht.</a></p>
<p>Erneut versucht die Bundesregierung, den Begriff &#8222;Vorratsdatenspeicherung&#8220; zu vermeiden. Sie nennt den Gesetzentwurf &#8222;IP-Adressspeicherung&#8220;. Tatsächlich geht es wieder um eine verpflichtende und anlasslose Speicherung von Daten aller Internet-Nutzer in Deutschland auf Vorrat. Und es geht um weit mehr Daten als nur IP-Adressen.</p>
<p>Die Vorratsdatenspeicherung ist ein zentraler Streitpunkt in der deutschen Netzpolitik. Vor 20 Jahren haben <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Freiheit_statt_Angst">zehntausende Menschen dagegen protestiert</a>.</p>
<h3>Anlasslose Vorratsdatenspeicherung</h3>
<p>Das neue Gesetz soll Internet-Zugangs-Anbieter verpflichten, IP-Adressen und Port-Nummern sämtlicher Nutzer drei Monate lang zu speichern. Das betrifft jeden Internet-Anschluss in Deutschland, ohne Anlass und ohne Verdacht auf eine Straftat.</p>
<p>Ermittler sollen anhand dieser Daten die Endnutzer identifizieren und ihre <a href="https://netzpolitik.org/2025/bestandsdatenauskunft-2024-behoerden-fragen... erhalten. Das passiert auch ganz ohne Vorratsdatenspeicherung. Im vergangenen Jahr hat allein die Deutsche Telekom <a href="https://www.telekom.com/en/company/data-privacy-and-security/news/german... 290.000 Abfragen zu IP-Adressen</a> bekommen &#8211; wegen mutmaßlicher Urheberrechtsverletzungen im Internet.</p>
<p>Das Justizministerium hat beim Erarbeiten des Gesetzes mit den vier großen Mobilfunk-Netz-Betreibern gesprochen. Es gibt aber viel mehr Anbieter für Internet-Zugänge. Das Gesetz spricht von &#8222;circa 3.000 Verpflichteten, eine Marginalgrenze ist nicht vorgesehen&#8220;. Lokale WLAN-Anbieter wie Hotel-Betreiber sind ausgenommen. Ob öffentliche WLAN-Netze wie Freifunk betroffen sind, wird der weitere Gesetzgebungsprozess zeigen.</p>
<h3>Kein Nachweis für Notwendigkeit</h3>
<p>Die Vorratsdatenspeicherung ist ein Zombie der Netzpolitik. Es gab bereits eine EU-Richtlinie und zwei deutsche Gesetze. Alle Gesetze haben behauptet, die Vorratsdatenspeicherung sei notwendig und verhältnismäßig. Alle Gesetze waren unverhältnismäßig und rechtswidrig und wurden von <a href="https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/201...öchsten</a> <a href="https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:62012CJ02... gekippt.</p>
<p>Statt die Daten aller Menschen ohne Anlass zu speichern, könnte man auch potentiell relevante Daten schnell einfrieren. In Österreich gibt es ein solches &#8222;Quick Freeze&#8220;-Verfahren. In Deutschland wurde das nie ausprobiert. Vor einem Jahr hat die Ampel-Regierung <a href="https://netzpolitik.org/2024/statt-vorratsdatenspeicherung-wir-veroeffen... solches Gesetz vorgeschlagen</a>. Es wurde jedoch nie beschlossen.</p>
<p>Das Justizministerium behauptet erneut, dass ihre anlasslose Vorratsdatenspeicherung notwendig sei. Dafür gibt es jedoch keinen wissenschaftlichen Nachweis. Das Max-Planck-Institut für Strafrecht hat Strafverfolgung in Deutschland mit und ohne Vorratsdatenspeicherung untersucht. Das Ergebnis: Es gibt ohne Vorratsdatenspeicherung <a href="https://web.archive.org/web/20120216223116/www.mpg.de/5000721/vorratsdat... Schutzlücken in der Strafverfolgung</a>.</p>
<h3>Kein Nachweis für Verhältnismäßigkeit</h3>
<p>Selbst wenn die anlasslose Datenspeicherung notwendig wäre, müssen Umfang und Dauer der gespeicherten Daten auch verhältnismäßig sein. Das Gesetz schreibt eine Speicher-Dauer von drei Monaten vor. Diese Frist wird in der Gesetzesbegründung nicht konkret begründet.</p>
<p>Drei Monate sind ein politischer Kompromiss. In den Koalitionsverhandlungen wollte die Union sechs Monate, die SPD einen Monat, also haben sie sich <a href="https://www.koalitionsvertrag2025.de/sites/www.koalitionsvertrag2025.de/... drei Monate geeinigt</a>. Laut Bundeskriminalamt &#8222;wäre eine Speicherverpflichtung von <a href="https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/AktuelleInformationen/240118_... bis drei Wochen regelmäßig ausreichend</a>&#8220;.</p>
<p>Die neue Vorratsdatenspeicherung soll nicht überprüft werden: &#8222;Eine eigenständige Evaluierung ist nicht erforderlich.&#8220;</p>
<h3>E-Mails, Messenger und Apps</h3>
<p>Das neue Gesetz geht weit über IP-Adressen bei Internet-Zugangs-Anbietern hinaus. Ermittler sollen auch Internet-Dienste dazu verpflichten dürfen, Verkehrs- und Standortdaten mit einer &#8222;Sicherungsanordnung&#8220; zu speichern. Das Gesetz spricht explizit von Over-The-Top-Diensten wie Messengern und Sprachanruf-Apps als Nachfolger von SMS und Telefonanrufen.</p>
<p>Zu den verpflichteten Diensten gehören auch E-Mail-Anbieter. Die sollen beispielsweise speichern, wann sich welche IP-Adresse bei welchem E-Mail-Postfach eingeloggt hat, die E-Mail-Adressen von Sender und Empfänger einer E-Mail sowie &#8222;die Daten aus dem Header der E-Mail&#8220;.</p>
<p>Eine solche &#8222;Sicherungsanordnung&#8220; soll schon greifen, wenn die Ermittler diese Daten noch gar nicht &#8222;erheben&#8220; dürfen. Die Dienste sollen diese Daten auf Zuruf bereits extra abspeichern, damit Ermittler die später abrufen können, auch wenn beispielsweise &#8222;der Kunde seinen Account […] selbst löscht&#8220;.</p>
<h3>Funkzellenabfrage ohne Bundesgerichtshof</h3>
<p>Darüber hinaus ändert das Gesetz auch die Vorgaben für die Funkzellenabfrage. Bei einer Funkzellenabfrage erhalten Ermittler <a href="https://netzpolitik.org/2017/funkzellenabfrage-letztes-jahr-landeten-han... Verbindungsdaten aller Mobilfunkgeräte</a>, die in bestimmten Funkzellen eingeloggt waren.</p>
<p>Der Berliner Datenschutzbeauftragte hatte 2012 festgestellt, dass die Funkzellenabfrage <a href="http://regelmäßig Gesetze verletzt">regelmäßig Gesetze verletzt</a>. Der Bundesgerichtshof hat vergangenes Jahr geurteilt, dass die Funkzellenabfrage nur noch bei <a href="https://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2024/2... schweren Straftaten</a> eingesetzt werden darf.</p>
<p>Das Gesetz dreht jetzt das Urteil des Bundesgerichtshofs zurück. Die Funkzellenabfrage soll wieder bei &#8222;Straftaten von erheblicher Bedeutung&#8220; eingesetzt werden dürfen. &#8222;Dies entspricht dem Verständnis der Praxis, bis die Entscheidung des Bundesgerichtshofs ergangen ist.&#8220;</p>
<h3>Mehr Regulierung als EU</h3>
<p>Das erste deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung hatte die Bundesregierung damals noch mit <a href="https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ALL/?uri=CELEX:32006L0024">einer EU-Richtlinie</a> begründet. Diese gilt seit einem <a href="https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:62012CJ02... des Europäischen Gerichtshofs</a> nicht mehr.</p>
<p>EU-Kommission und EU-Staaten arbeiten aktuell an einer <a href="https://netzpolitik.org/2025/internes-dokument-eu-staaten-fordern-ein-ja... der Vorratsdatenspeicherung</a>. Die deutsche Bundesregierung hätte die EU-Gesetzgebung abwarten können, statt kurz vorher ein deutsches Gesetz zu machen.</p>
<p>In anderen Politikbereichen fordert die Regierung weniger Bürokratie und weniger Regulierung für Unternehmen. Nun aber schafft die Bundesregierung neue Regulierung und neue Belastung &#8211; gegen den expliziten Willen aller beteiligten Unternehmen und Anbieter.</p>
<h3>SPD steht für Vorratsdatenspeicherung</h3>
<p>Die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland steht und fällt mit der SPD. Das <a href="http://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&#038... deutsche Gesetz 2007</a> verantwortete SPD-Justizministerin Brigitte Zypries. Das Bundesverfassungsgericht <a href="https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/201... es 2010 gekippt</a>. Das <a href="http://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&#038... deutsche Gesetz 2015</a> verantwortete SPD-Justizminister Heiko Maas. Das Bundesverfassungsgericht <a href="https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/202... es 2023 gekippt</a>.</p>
<p>Jetzt versucht es SPD-Justizministerin Stefanie Hubig zum dritten Mal. Erneut behauptet das Gesetz, es stehe &#8222;in Einklang mit Verfassungsrecht&#8220; und es sei &#8222;mit dem Recht der Europäischen Union vereinbar&#8220;.</p>
<p>Das Gesetz geht jetzt ins Kabinett, dann in den Bundestag &#8211; und dann wieder vor das Bundesverfassungsgericht.</p>
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Autor/Gruppe: 
Andre Meister
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feed-date: 
Montag, Dezember 22, 2025 - 13:38