In Erinnerung an Devran
Devran ruhe in Frieden
MEINE MAMA FATMA BALAMIR, POLITISCH BEKANNT ALS DEVRAN, ENGAGIERTE SICH POLITISCH ÜBER VIELE JAHRE HINWEG. IN DEN FRÜHEN 1990ER JAHREN WAR SIE IN BERLIN TEIL ANTIFASCHISTISCHER BEWEGUNGEN.
WENN ICH ÜBER SIE SPRECHE, IST MIR WICHTIG ZU SAGEN: FÜR SIE WAR POLITIK NIE ETWAS ABSTRAKTES ODER THEORETISCHES. POLITIK BEDEUTETE FÜR SIE HALTUNG, VERANTWORTUNG UND KONSEQUENZ. NICHT WORTE MACHTEN SIE SICHTBAR, SONDERN DER MUT, DAS RICHTIGE ZU TUN.
SIE SETZTE SICH KONSEQUENT FÜR FRAUENRECHTE EIN, GEGEN PATRIARCHALE GEWALT UND FÜR DIE SELBSTBESTIMMUNG VON FRAUEN. GLEICHZEITIG ENGAGIERTE SIE SICH GEGEN RASSISMUS, FASCHISMUS UND STAATLICHE REPRESSION, FÜR DIE RECHTE VON MIGRANTINNEN, POLITISCH VERFOLGTEN UND ARBEITERINNEN. INTERNATIONALE SOLIDARITÄT WAR FÜR SIE KEIN SCHLAGWORT, SONDERN TEIL IHRES ALLTAGS UND IHRES POLITISCHEN VERSTÄNDNISSES.
IN BERLIN WAR MEINE MAMA TEIL DER ANTIFAŞIST GENÇLIK, EINER MIGRANTISCH GEPRÄGTEN ANTIFASCHISTISCHEN JUGENDORGANISATION. DIE GRUPPE ENTSTAND IN EINER ZEIT MASSIVER RASSISTISCHER GEWALT NACH DER WIEDERVEREINIGUNG UND VERSTAND SICH ALS SELBSTORGANISIERTE ANTWORT AUF NEONAZI-ANGRIFFE, STAATLICHES WEGSEHEN UND STRUKTURELLEN RASSISMUS. ANTIFAŞIST GENÇLIK WAR KEIN HOMOGENER ZUSAMMENSCHLUSS, SONDERN TEIL EINER BREITEN AUTONOMEN, ANTIKAPITALISTISCHEN UND ANTIIMPERIALISTISCHEN BEWEGUNG.
TROTZ ALLER UNTERSCHIEDE VERBAND SIE EINE KLARE HALTUNG: RASSISMUS UND FASCHISTISCHE GEWALT VERLANGTEN NACH WIDERSTAND UND KONSEQUENZ.
FÜR MEINE MAMA BEDEUTETE DIE ANTIFAŞIST GENÇLIK NICHT AKTIONISMUS, SONDERN VERANTWORTUNG INNERHALB EINER GEMEINSCHAFT. ES GING DARUM, STRUKTUREN AUFZUBAUEN, SICH GEGENSEITIG ZU UNTERSTÜTZEN UND SICHTBAR GEGEN RASSISTISCHE UND FASCHISTISCHE GEWALT STELLUNG ZU BEZIEHEN. VIELE DER BETEILIGTEN HATTEN EIGENE ERFAHRUNGEN MIT AUSGRENZUNG, GEWALT ODER POLITISCHER VERFOLGUNG GEMACHT.
EIN ZENTRALER TEIL IHRER ARBEIT BESTAND DARIN, SICH GEGEN RECHTE ÜBERGRIFFE ZU ORGANISIEREN, INSBESONDERE IN STADTTEILEN, IN DENEN MIGRANTISCHE JUGENDLICHE REGELMÄSSIG BEDROHT ODER ANGEGRIFFEN WURDEN. DAZU GEHÖRTEN GEGENSEITIGE INFORMATION ÜBER GEFAHRENLAGEN, GEMEINSAME PRÄSENZ BEI VERANSTALTUNGEN UND DAS BEGLEITEN VON MENSCHEN, DIE SICH NICHT ALLEIN SICHER FÜHLTEN.
IM APRIL 1992 KAM ES IM ZUSAMMENHANG MIT EINER ANTIFASCHISTISCHEN AKTION ZU SCHWEREN AUSEINANDERSETZUNGEN MIT BEKANNTEN NEONAZIS. FÜR POLIZEI UND STAATSSCHUTZ WAR SCHNELL KLAR, DASS SIE DIE VERANTWORTUNG BEI DER ANTIFAŞIST GENÇLIK SUCHTEN. DIE GRUPPE WURDE FORTAN OBSERVIERT, KRIMINALISIERT UND SYSTEMATISCH VERFOLGT.
IM ZUSAMMENHANG MIT DEM SOGENANNTEN KAINDL-VERFAHREN WURDE MEINE MAMA AM 15. NOVEMBER 1993 VERHAFTET UND IN UNTERSUCHUNGSHAFT GENOMMEN. DIE ANKLAGEN WAREN EXTREM SCHWER UND POLITISCH AUFGELADEN. SIE VERBRACHTE MEHRERE MONATE IN HAFT, ZEITWEISE IN VOLLSTÄNDIGER ISOLATION, UND WAR MASSIVEM DRUCK AUSGESETZT, AUSSAGEN ODER SOGENANNTE EINLASSUNGEN ZU MACHEN.
TROTZ DER AUSSICHT AUF LANGE HAFTSTRAFEN ENTSCHIED SIE SICH BEWUSST DAGEGEN. FÜR SIE HÄTTE EINE EINLASSUNG BEDEUTET, SICH POLITISCH ZU VERLEUGNEN. DIESE ENTSCHEIDUNG WAR KEINE EMOTIONALE, SONDERN EINE POLITISCHE. SIE WAR GETRAGEN VON DER ÜBERZEUGUNG, DASS WÜRDE, HALTUNG UND VERANTWORTUNG NICHT VERHANDELBAR SIND.
NEBEN IHREM POLITISCHEN ENGAGEMENT ARBEITETE ΜΕΙΝΕ ΜΑΜA ALS SOZIALARBEITERIN. IN BERLIN WAR SIE IN EINER WOHNGEMEINSCHAFT TÄTIG, IN DER JUGENDLICHE UND JUNGE ERWACHSENE LEBTEN, DIE AUS UNTERSCHIEDLICHEN GRÜNDEN NICHT IN IHREN FAMILIEN WOHNEN KONNTEN. DIE ARBEIT WAR GEPRÄGT VON ALLTAGSORGANISATION, KONFLIKT-BEGLEITUNG UND VERLÄSSLICHER PRÄSENZ WENIGER VON KONZEPTEN ALS VON KONTINUIERLICHER ARBEIT.
IHR ARBEITSALLTAG BESTAND AUS GESPRÄCHEN, KRISENINTERVENTIONEN UND PRAKTISCHER UNTERSTÜTZUNG. SIE HALF BEI SCHUL- UND AUSBILDUNGSFRAGEN, BEGLEITETE TERMINE BEI BEHÖRDEN UND WAR ANSPRECHPARTNERIN BEI KONFLIKTEN INNERHALB DER WOHNGEMEINSCHAFT. OFT GING ES DARUM, STRUKTUREN ZU SCHAFFEN, GRENZEN ZU KLÄREN UND GLEICHZEITIG ERREICHBAR ZU BLEIBEN.
VIELE DER JUGENDLICHEN, MIT DENEN SIE ARBEITETE, HATTEN WENIG VERTRAUEN IN ERWACHSENE ODER INSTITUTIONEN.
RÜCKBLICKEND WIRD FÜR MICH DEUTLICH, DASS SICH IHR POLITISCHES VERSTÄNDNIS AUCH IN DIESER ARBEIT ZEIGTE. NICHT ALS PAROLE, SONDERN ALS HALTUNG IM ALLTAG VERANTWORTUNG ÜBERNEHMEN, DRANBLEIBEN UND MENSCHEN NICHT AUFGEBEN. IHR ENGAGEMENT WAR KEIN ABGEGRENZTER TEIL IHRES LEBENS, SONDERN ZOG SICH DURCH VERSCHIEDENE BEREICHE POLITISCH WIE SOZIAL.
MENSCHEN WIE MEINE MAMA SIND FÜR EINE GESELLSCHAFT WICHTIG, WEIL SIE DORT HANDELN, WO STRUKTUREN OFT VERSAGEN. SIE ÜBERNEHMEN VERANTWORTUNG IM ALLTAG, BLEIBEN ANSPRECHBAR UND SORGEN FÜR STABILITÄT, OHNE DAFÜR SICHTBARKEIT ODER ANERKENNUNG ZU ERWARTEN. IHR HANDELN ZEIGT, DASS GESELLSCHAFTLICHER ZUSAMMENHALT NICHT DURCH GROSSE WORTE ENTSTEHT, SONDERN DURCH VERLÄSSLICHKEIT.
GLEICHZEITIG MACHT IHRE GESCHICHTE DEUTLICH, WIE WICHTIG ES IST, DABEI DIE EIGENE PSYCHISCHE GESUNDHEIT NICHT AUS DEM BLICK ZU VERLIEREN. ENGAGEMENT FÜR ANDERE DARF NICHT BEDEUTEN, SICH SELBST ZU VERLIEREN ODER DAUERHAFT ZU ÜBERFORDERN. EINE SOLIDARISCHE GESELLSCHAFT BRAUCHT MENSCHEN, DIE FÜREINANDER EINSTEHEN UND EBENSO RÄUME, IN DENEN SORGE FÜR SICH SELBST MÖGLICH IST. BEIDES GEHÖRT ZUSAMMEN: DER EINSATZ FÜR ANDERE UND DER SCHUTZ DER EIGENEN PSYCHE. NUR SO KANN ENGAGEMENT DAUERHAFT, MENSCHLICH UND TRAGFÄHIG BLEIBEN.
ICH ERZÄHLE DIESE GESCHICHTE, WEIL SIE ZEIGT, WIE VIEL EINZELNE MENSCHEN BEWIRKEN KÖNNEN AUCH JENSEITS VON AUFMERKSAMKEIT ODER ANERKENNUNG. DIE GESCHICHTE MEINER MAMA STEHT FÜR VERANTWORTUNG, FÜR HALTUNG UND FÜR DIE BEREITSCHAFT, NICHT WEGZUSEHEN.
ICH BIN STOLZ DARAUF, EINE MUTTER MIT MIGRATIONS-GESCHICHTE ZU HABEN, DIE SICH NICHT IN VORGEGEBENEN STRUKTUREN EINGERICHTET HAT, SONDERN SIE HINTERFRAGT UND DURCHBROCHEN HAT. SIE HAT SICH RÄUME ERARBEITET, IN DENEN SIE HANDELN KONNTE, UND DAMIT FÜR VIELE ANDERE MENSCHEN TÜREN GEÖFFNET. IHR WEG ZEIGT, DASS HERKUNFT KEIN FESTGESCHRIEBENER RAHMEN IST, SONDERN AUSGANGSPUNKT FÜR VERÄNDERUNG.
DIESE GESCHICHTE ZU ERZÄHLEN BEDEUTET FÜR MICH, SICHTBAR ZU MACHEN, WIE WICHTIG SOLCHE BIOGRAFIEN FÜR UNSERE GESELLSCHAFT SIND UND WARUM SIE GEHÖRT WERDEN MÜSSEN.
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Ergänzungen
Video zur Antifa Genclik
Antifa Genclik
Dokumentation über die selbstorganisierte MigrantInnengruppe
1992: In Berlin wird in einem Restaurant ein Funktionär der neofaschistischen Partei "Deutsche Liga" in einer Auseinandersetzung mit jugendlichen Türken und Kurden erstochen. Weitere "Deutsche Liga"-Mitglieder werden verletzt.
Polizei und Staatsschutz verdächtigen zunächst eine Kurdin.
Die junge Frau wird unter dem Vorwurf "gemeinschaftlichen Mordes" in Untersuchungshaft genommen, weil sie zur türkisch-kurdischen Jugendgruppe "Antifa Genclik" (Antifaschistische Jugend) gehört, die offensiv und öffentlich für den Widerstand gegen die rassistischen Neonazis wirbt.
Nach ihr werden weitere Mitglieder der Gruppe unter Mordverdacht festgenommen. Die Reportage im Magazin "Z" 14/94 berichtet über die Hintergründe und das, was wirklich passierte.
Für SAT1, mit dessen Geschäftsleitung wir als unbequemes, unabhängiges Fernsehfenster KANAL 4 schon in den Jahren zuvor immer mal wieder Ärger gehabt hatten, war diese Sendung Anlaß, den Sendevertrag zu kündigen. Ergebnis: Wir mußten am Ende das Magazin "Z" einstellen und durch das Magazin "TWIST" ersetzen. Das war, wie die Presse feststellte, aber auch nicht schlechter.
Autoren: Peter Kleinert und Manuel Zimmer, Auftraggeber: Kanal 4, Produktion: KAOS Film- und Video-Team Köln, Produktionsjahr: 1994, Länge: 29 min., Kamera: Dieter Königsmann, Tom Kaiser, Schnitt: Birgit Köster, Dorothee Plaß, Künstler: dogfilm, Erwin Stache, Ellen Strobel, Pia Hoffmann und Ernst Busch.
weitere Informationen unter:
Website: http://rassismus-toetet.de
Facebook: / rassismus.totet
Twitter: / rassismustoetet
Audiostreams zum Thema: http://www.mixcloud.com/rassismus_toetet
Video: https://www.youtube.com/watch?v=yACmW6WRPug