Eine Patientenakte für alle: Das gebrochene Versprechen
<p>Die „ePA für alle“ wird nun für Praxen und Co. verpflichtend, trotz fortbestehender Sicherheitsbedenken und anhaltender technischer Probleme. Die Misere ist hausgemacht und geht zulasten der Versicherten. Ein Kommentar.</p>
<figure class="wp-caption entry-thumbnail"><img width="860" height="484" src="https://cdn.netzpolitik.org/wp-upload/2025/09/marah-bashir-yCy29TG4j88-u... class="attachment-landscape-860 size-landscape-860 wp-post-image" alt="Ein gebrochenes Neonherz, das rot vor dunklem Hintergrund leuchtet." decoding="async" loading="lazy" srcset="https://cdn.netzpolitik.org/wp-upload/2025/09/marah-bashir-yCy29TG4j88-u... 860w, https://cdn.netzpolitik.org/wp-upload/2025/09/marah-bashir-yCy29TG4j88-u... 1200w, https://cdn.netzpolitik.org/wp-upload/2025/09/marah-bashir-yCy29TG4j88-u... 380w, https://cdn.netzpolitik.org/wp-upload/2025/09/marah-bashir-yCy29TG4j88-u... 1536w, https://cdn.netzpolitik.org/wp-upload/2025/09/marah-bashir-yCy29TG4j88-u... 660w, https://cdn.netzpolitik.org/wp-upload/2025/09/marah-bashir-yCy29TG4j88-u... 160w, https://cdn.netzpolitik.org/wp-upload/2025/09/marah-bashir-yCy29TG4j88-u... 1600w" sizes="auto, (max-width: 860px) 100vw, 860px" /><figcaption class="wp-caption-text">Einst galt das Versprechen, die ePA werde eine patientengeführte Akte sein. <span class='media-license-caption'> – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com <a href="https://unsplash.com/@marahbashir" >Maran Bashir</a></span></figcaption></figure><p>Als „größtes Digitalisierungsprojekt“ der bundesdeutschen Geschichte hatte Karl Lauterbach (SPD) sein Herzensprojekt beworben. Die elektronische Patientenakte (ePA) werde den Versicherten viele Vorteile bringen, versprach der ehemalige Bundesgesundheitsminister.</p>
<p>Inzwischen ist klar: Die ePA ist ein weiterer großer Fehlstart in der deutschen Digitalisierungsgeschichte. Es krankt bei der Sicherheit, die technische Implementierung in den Praxen und Krankenhäusern verläuft schleppend und nur ein Bruchteil der Versicherten nutzt die Patientenakte aktiv.</p>
<p>Die Misere kommt wenig überraschend – und sie ist hausgemacht. Von Anfang an stand bei der ePA Schnelligkeit statt Gründlichkeit im Mittelpunkt. Die Sicherheit geriet zur Nebensache, Datenschutz und Datensicherheit sollten beim Heben des „Datenschatzes“ nicht im Wege stehen. Das Nachsehen haben die Versicherten: Sie verlieren zunehmend die Kontrolle über ihre eigenen Gesundheitsdaten.</p>
<h3>Politische Verantwortung? Fehlanzeige.</h3>
<p>Das überstürzte Tempo gab der ehemalige Bundesgesundheitsminister Lauterbach vor. Offenkundig wollte er die ePA um jeden Preis in seiner Amtszeit einführen.</p>
<p>Obwohl Gesundheitsdaten zu den besonders sensiblen Daten zählen, wurden begründete Sicherheitsbedenken offenkundig mehrfach nicht ernst genug genommen. Bereits vor der Pilotphase zeigten Sicherheitsforschende des Chaos Computer Clubs, dass die ePA <a href="https://netzpolitik.org/2024/chaos-communication-congress-das-narrativ-d...öchrig war wie ein Schweizer Käse</a>. Lauterbach <a href="https://netzpolitik.org/2025/elektronische-patientenakte-lauterbach-vers... daraufhin</a> einen bundesweiten Start „ohne Restrisiko“. Doch pünktlich zum Rollout im Mai <a href="https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/epa-patientenakte-hacking-... sich das Spiel</a>.</p>
<p>Statt Verantwortung für dieses Desaster zu übernehmen, <a href="https://netzpolitik.org/2025/elektronische-patientenakte-keine-verantwor... der Minister ab</a>. Und die Gematik, die für die technische Umsetzung der ePA zuständig ist, verharmlost die Risiken bis heute: Die Angriffsszenarien seien theoretischer Natur und hundertprozentige Sicherheit gebe es ohnehin nicht. Mit dieser Strategie kann es kein Vertrauen geben.</p>
<h3>Vielerorts herrscht Chaos</h3>
<p>Der immense Zeitdruck stellt auch die Praxen vor hohe Hürden. Wie schon bei der Einführung des E-Rezepts häuften sich in den vergangenen Monaten die Stör- und Ausfälle. Selbst die amtierende Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) <a href="https://www.rnd.de/politik/start-der-elektronischen-patientenakte-am-1-o...äumt ein</a>, dass es mehr Stabilität brauche, „keine Frage“.</p>
<p>Weil unter anderem Software-Updates fehlen, kann ein Fünftel der Arztpraxen noch nicht mit der ePA arbeiten. Bei den Krankenhäusern ist es noch dramatischer: Nur ein Fünftel von ihnen wird die ePA wohl bis zum Jahresende einsetzen können. Sie fordern mehr Zeit für die anstehende „Herkulesaufgabe“.</p>
<p>Ein längerer Vorlauf und eine bessere Kommunikation der Verantwortlichen untereinander hätten dieses Chaos verhindern können. Nina Warken lässt sich indes nicht beirren, sie setzt den Kurs ihres Amtsvorgängers fort.</p>
<h3>Widerspruchsmöglichkeiten wurden ausgehebelt</h3>
<p>Und die Versicherten? 70 Millionen Menschen haben nun eine ePA. Doch <a href="https://www.apotheke-adhoc.de/nachrichten/detail/e-health/epa-nur-drei-p... einmal drei Prozent</a> von ihnen nutzen sie aktiv. Für die übergroße Mehrheit <a href="https://www.ad-hoc-news.de/sonstige/kurz-vor-dem-start-der-verpflichtend... sie kein Thema</a>. Damit ist die ePA meilenweit davon entfernt, eine versichertengeführte Akte zu sein.</p>
<p>Zumal die Kontrollmöglichkeiten der Versicherten zunehmend eingeschränkt wurden – ungeachtet der massiven Kritik von Patient:innenverbänden, Verbraucher- und Datenschützer:innen. Sämtliche Informationen, die in der ePA hinterlegt sind, können alle Behandelnden nun standardmäßig einsehen: von der Psychotherapeutin und dem Physiotherapeuten, vom Hausarzt über die Zahnärztin bis zum Kleinstadtapotheker.</p>
<p>Wer den Zugriff für bestimmte Behandelnde einschränken möchte, braucht sehr viel Geduld und darf keine Einstellung übersehen. Denn auch die Medikationsliste und die Abrechnungsdaten <a href="https://www.vzbv.de/pressemitteilungen/elektronische-patientenakte-versi...ßen automatisiert</a> in die ePA und geben Sensibles preis.</p>
<h3>Für die Wirtschaft, nicht für die Patient:innen</h3>
<p>Damit zeigt sich immer deutlicher, wozu die ePA künftig vor allem dienen soll: als Datensilo für die Pharma-Forschung und -Industrie.</p>
<p>Erst vor wenigen Wochen <a href="https://www.heise.de/news/Gematik-Geschaeftsfuehrerin-Elektronische-Pati... Gematik-Geschäftsführerin Brenya Adjei</a> die ePA als „state of the art“ und „KI-ready“. Karl Lauterbach spornte an, dass die ePA für <a href="https://www.aok.de/pp/gg/update/lauterbach-will-mit-ki-krebs-besiegen/">„einen der größten Datensätze weltweit“</a> sorgen werde. Mit den Daten und viel KI könne Deutschland <a href="https://www.heise.de/news/Digital-Health-Lauterbach-will-KI-in-jedes-Ges... Vorreiter in der Digitalmedizin werden</a>. Die großen Tech-Unternehmen seien ebenfalls <a href="https://www.heise.de/news/Lauterbach-zu-Gesundheitsdaten-Google-Meta-und... den Gesundheitsdaten der Deutschen interessiert</a>, frohlockte der damalige Gesundheitsminister vor knapp einem Jahr.</p>
<p>In der EU laufen derweil die Vorbereitungen für den <a href="https://health.ec.europa.eu/ehealth-digital-health-and-care/european-hea...äischen Gesundheitsdatenraum</a> (EHDS). Hier sollen in den kommenden Jahren die Gesundheitsdaten von rund 450 Millionen EU-Bürger:innen gesammelt und grenzüberschreitend ausgetauscht werden. Auch die Daten aus der ePA sollen dort hinein fließen.</p>
<p>Den Bürger:innen verspricht die EU-Kommission strengen Datenschutz, Datensicherheit und Kontrolle über die eigenen Gesundheitsdaten. Die zugrundeliegende Verordnung sieht jedoch <a href="https://netzpolitik.org/2024/trilog-einigung-kein-effektiver-widerspruch... Ausnahmen bei deren Widerspruchsmöglichkeiten</a> vor. Kritiker:innen warnen schon jetzt, dass der EHDS vor allem ein Datenraum für die Wirtschaft sein werde, nicht aber für die Patient:innen.</p>
<span class="vgwort"><img decoding="async" src="https://vg03.met.vgwort.de/na/84769103773347338675392276d6f04e" width="1" height="1" alt="" /></span><hr id="spenden" /><p>Die Arbeit von netzpolitik.org finanziert sich zu fast 100% aus den Spenden unserer Leser:innen. <br>Werde Teil dieser einzigartigen Community und unterstütze auch Du unseren gemeinwohlorientierten, werbe- und trackingfreien Journalismus <a href="https://netzpolitik.org/spenden/?via=rss">jetzt mit einer Spende</a>.</p>