Eine Frage der Disziplin
Disclaimer: Der Text wurde von einigen Menschen der OAV geschrieben und spiegelt nicht die Meinung der gesamten Gruppe wider.
Ein Wert, welcher der vorliegende Text diskutieren will, ist Disziplin. Es stellt sich die Frage, ob Disziplin wirklich komplett negativ ist, nur weil der Wert im Kapitalismus und autoritären Regimen existiert und in deren Ideologien als notwendig oder positiv angesehen wird.
Gemeinschaftliche Ebene
Im Allgemeinen ist in einer Gesellschaft Disziplin wichtig, genauso wie Arbeit, Fleiß, Ambitionen und Verbindlichkeit[1]. Ein*e Ärzt*in kann während einer Operation nicht einfach aufhören, genauso wenig wie ein*e Arbeiter*in während einer Fließbandschicht. Um solche Prozesse nicht abzubrechen, muss die Person eine gewisse Selbstdisziplinierung betreiben. Bereits Engels betonte die naturgemäße Notwendigkeit von Disziplin und sei es nur bei der Produktion von Industriegütern[2]. (Zu kritisieren ist hier, dass Disziplin nicht zwangsläufig durch Autoritäten und Prügelstrafen aufrechterhalten werden muss, sondern es dafür viele Wege gibt.) Auf jeden Fall ist allein für as Erlangen von beruflichen Fähigkeiten schon Disziplin erforderlich. Die Gesellschaft benötigt also individuelle Disziplin, um zu funktionieren, dies trifft auch auf eine utopische Gesellschaft zu, solange wir Privilegien wie ausreichend Nahrungsmittel und medizinische Grundsicherung nicht aufgeben wollen.
Betrachten wir Disziplin auf der kollektiven Ebene, wird deutlich, dass in gemeinschaftlichen Strukturen eine gewisse Strukturiertheit sowie eine damit verbundene Selbstkontrolle/Disziplin notwendig ist. Wenn wir über alles stundenlang diskutieren, wären Reproduktionsarbeiten, wie Kindererziehung sowie medizinische Versorgung, kaum möglich. Menschen, welche diese gesellschaftsnotwendigen Aufgaben leisten, können ohne eine klare Struktur und zeitlichen Rahmen nicht an kollektiven Entscheidungsprozessen teilnehmen. [3] Diese Problematik existiert in vielen autonomen und linksradikalen Gruppen sehen. In Deutschland sind Menschen mit Kindern meistens ausgeschlossen, aufgrund endloser Plena, da nicht der Wille besteht, diese strukturiert und diszipliniert, also kurz und übersichtlich, durchzuführen. [4]
Individuelle Ebene
Auf individueller Ebene ist Disziplin vor allem ein Zwang gegen sich selbst. Das Grundprinzip kann dementsprechend als negativ betrachtet werden, weil es eine Handlung ist, die sich gegen die eigenen individuellen Wünsche und Bedürfnisse richtet und dem Prinzip von vollkommener Autonomie widerspricht. Andererseits ist ein gewisser Zwang notwendig zur Selbsterhaltung und Selbstverbesserung und damit auch zur Wahrung der eigenen Autonomie. Viele Menschen brauchen Disziplin, zum Beispiel um bei Suchterkrankungen nicht rückfällig zu werden oder anderen schädlichen Verhaltensweisen nachzugehen. Die meisten von uns lernen Sprachen, handwerkliche Fähigkeiten oder theoretisches Wissen nur durch tägliche disziplinierte Wiederholung. Es kann damit festgehalten werden, dass individuelle Disziplin ein Zwang gegen die eigenen individuellen Bedürfnisse ist und somit grundsätzliches etwas negativ ist, aber auch notwendig sein kann.
Auch auf einer gesellschaftlich-sozialen Ebene ist ein individueller Zwang notwendig. Menschen müssen sich disziplinieren ihre Wut nicht an Freund*innen auszulassen, auf Plena nicht zu viel Raum einzunehmen oder ihr Verhalten anderweitig zu kontrollieren. Gerade auch bei dem Thema Grenzüberschreitendes Verhalten auf verschiedenen Ebenen ist es wichtig, sich selbst zu disziplinieren, um nicht die Grenzen anderer zu übergehen. Eine gegenseitige Ermutigung zu mehr Disziplin wäre in der Bewegung wünschenswerter, wenn es um das Erlernen von neuen Fähigkeiten, dem Durchhalten von gesunden Lebensweisen oder dem Beibehalten von sozialem Verhalten geht. Wir sollten die Wichtigkeit von Disziplin in unseren Gruppen und der Lebensführung unserer Freund*innen anerkennen. Viel zu viele unserer Genoss*innen sind drogensüchtig, haben psychische Probleme und/oder sind arbeitslos in einer Weise, die sie unglücklich macht.[5]
Die Probleme in der Bewegung
Doch worauf wollen wir hinaus? Es lässt sich in vielen organisierten Gruppen beobachten, dass eine Problematik darin besteht, Verantwortung zu übernehmen. "Die Plattform" hat dies bereits erkannt und treffend beschrieben[6]. Oft werden Aufgaben nicht erledigt und viele Aufgaben bleiben an immer den gleichen Personen hängen, die beständig gereizter, deprimierter, ausgebrannter und überarbeiteter werden. Ein großer Punkt ist hier auch die fehlende Vermittlung, Einbindung oder Niederschreiben von Leitfäden. Aber selbst wenn wir diese in unseren Strukturen zu Verfügung stellen, herrscht trotzdem oft eine passive Konsumkultur und Verantwortungslosigkeit. Wenn Aufgaben nicht erfüllt werden, wird dies mit einem Achselzucken und den Worten „dann wars wohl nicht so wichtig“ quittiert. Ganz konkret betrifft dies vor allen die Themenbereiche Social-Media Arbeit, Pünktlichkeit, Reproduktionsarbeit und Text-/Theoriearbeit. Im Gegensatz dazu ist beispielsweise bei der Sicherheitskultur oder Organisierung von Bars und Partys eine gewisse Disziplin in unserer Vernetzung und der Szene im Allgemeinen stärker vorhanden, da deren Notwendigkeiten gesehen wird. Eine Lösung der hier beschriebenen fehlenden Verlässlichkeit wären somit auch die Einsicht in die Notwendigkeit von Disziplin in anderen Bereichen.
Gegenstrategien
Doch wie könnte darüber hinaus praktisch ein anderer Umgang geschaffen werden, um diese Verlässigkeit zu erreichen und somit dem Ausbrennen von einigen Wenigen entgegenzuwirken? Als Vorschlag setzen wir hier auf feste und dokumentiere Termine zu Entscheidungsfindungen, Deadlines für Aufgaben und festgeschriebene Verantwortlichkeiten. Bei der Organisierung einer Idee, sollte festgelegt werden, an welchen Tagen über das Motto, Ort, Texte und Aktionsform entschieden wird und diese Entscheidung sollten nicht mehr änderbar sein. Es muss außerdem feste Verantwortlichkeiten in AGs für konkrete Aufgaben geben und Termine festgesetzt werden, bis wann diese erledigt sein müssen. Wenn Aufgaben dann nicht nachgekommen wird, sollte kollektiv diskutiert werden, warum dies nicht passierte und dabei individuelle Probleme und Ausnahmen berücksichtigt werden. Es muss gemeinsam geschaut werden, wie die Person das nächste Mal darin unterstützt werden kann. Wenn dies aber mehrfach auftritt, muss geprüft werden, ob die Person wirklich in der Lage ist die Aufgabe zu bewältigen und ob die Person zuverlässig ist. Es kann dadurch ein kollektiver Umgang mit individuellen Problemen wie fehlendes Know-How, Unsicherheit oder Ausbrennen gefunden werden. Wir sollten anfangen gegenseitig mehr Achtsamkeit füreinander zu haben. Wichtig ist hier ein solidarischer kritischer Umgang miteinander. Wir können mit diesem Umgang bei Problemen unsere Aktionen und Organisationen nur verbessern. Disziplin kann somit auch ohne Strafe hergestellt werden.
Wir sollten Disziplin aber auch nicht als einzigen Maßstab im Leben ansehen. Ob Menschen diszipliniert, hedonistisch, naturnah oder sonstwie leben wollen, sollte ihnen überlassen sein. Wir sollten nicht den Fehler begehen autoritär Wertekodexe aufzustellen, nach denen alle leben müssen. Wir sollten auch einen Blick darauf haben, wenn die Identität unserer Genoss*innen und Freund*innen nur noch aus Zwang, Disziplin und Verantwortungsgefühl besteht. Es ist leider oft so, dass viele Anarchist*innen, sich von der Ideologie abwenden, da keine Effizienz, Verantwortung und Disziplin in unseren Gruppen vorhanden ist. In der Regel setzen diese dann auf das komplette Gegenteil und lehnen jeglichen Genuss, Spaß und Erholung ab. Häufig sind solche Genoss*innen schnell ausgebrannt. Ein Nachhaltiger Aktivismus sieht anders aus[7]. Genauso muss auch kollektiv ein achtsamer Umgang mit revolutionärer Disziplin stattfinden. Ein Beispiels dafür ist das Konzepte öffentliche "Kritik und Selbstkritik" aus dem Stalinismus und der kurdischen Bewegung, das auch heute noch von einigen linken Gruppen in Deutschland genutzt werden. Das Konzept wird mittlerweile so genutzt, dass Menschen in Runden öffentlich von jedem Gruppenmitglied kritisiert werden und sich selbst kritisieren sollen. Das Konzept brachte oft Bloßstellung, Anpassungsdruck und missbrauchsempfängliche Machtdynamiken hervor. (Feedbackrunden, Selbstkritik und öffentliches ansprechen von Problemen können aber natürlich ein positives Mittel zur Verbesserung der Organisierung sein.) Wir müssen somit lernen solidarisch Kritik an uns und unseren Genoss*innen zu üben, aber auch darauf zu achten, dass Kritik kein Machtinstrument wird.
Sport, Leistung und berechtigte Unterschiede
Ein weiterer Punkt, warum der Text geschrieben wurde, ist dass sich in unserer Boxgruppe viele Menschen an der Disziplin gestört haben und eigene Gruppen ohne öffentliche Trainings und den Willen zur Selbstverbesserung veranstalten. Das ist erstmal verständlich. Es gibt verschiedene Gründe, warum Menschen Sport betreiben und daher auch verschiedene Trainingsarten. Manche Menschen wollen ohne Disziplin und den Gedanken immer bessere Leistungen erbringen zu müssen trainieren. In der kapitalistischen-leistungsorientierten und patriarchalen Gesellschaft ist der Wunsch nach Tätigkeiten, welche außerhalb dieser Logik existieren, sehr nachvollziehbar. Andere Menschen wollen sich aber stetig verbessern und über ihre Grenzen gehen, um politisch und individuell wirkmächtiger zu werden und den Selbstschutz zu stärken.
Es existiert auch eine gesellschaftliche Seite bei dieser Betrachtung: Die Angriffe von Cops und Nazis werden nicht einfach aufhören. Auch wenn wir proklamieren, dass wir gegen Selbstoptimierung und zur Schau gestellte Wehrhaftigkeit sind, wird es Nazis nicht davon abhalten uns anzugreifen. Wir werden somit eher effizienter in unseren Trainings werden müssen, bei den aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen. Ein wichtiger Grundstein dafür ist, freiwillige Selbstoptimierung und (Selbst-)Disziplin nicht als komplett negativ anzusehen. Das ist aber keine Absage an Freude, Humor und Freiwilligkeit. Wir müssen leider auch konstatieren, dass strukturiertes Training ohne Benachteiligung von weniger sportlichen Menschen etwas ist, das wir erst noch lernen müssen und wo wir auch immer wieder Fehler machen.
Aber noch einmal: Sport ohne Leistungsdruck und Drill ist grundsätzlich positiv. Eventuell ist Training gänzlich ohne diese Gedanken auch schon der Vorschein von etwas Besserem und gelebte Utopie. Der Wunsch danach ist auf jeden Fall verständlich. Menschen haben verschiedene Bedürfnisse und daher sollte es auch verschiedene Trainingsarten geben.
Exkurs Luxus
Der Text soll explizit keine Absage an Faulheit, Hedonismus und Luxus sein. Es hat viel zu lange gedauert, bis diese Werte im linksradikalen Bewusstsein akzeptiert wurden. Wir wollen nicht wieder zu Parteikadern, öffentlich beschämender Selbstkritik, kollektiver Bestrafung und pseudoreligiöser Askese zurück. Wir streben nicht an, Polizeisoldaten des Himmels zu werden. Es ist daher notwendig festzughalten, dass es wichtig ist, anti-kollektivistische Erkenntnisse zu bewahren. Es bringt nichts, zu hungern für die Kinder in Afrika oder auf Spaß zu verzichten für die kämpfenden Genoss*innen im Trikont. Ernsthaftigkeit und Freude schließen sich nicht aus. Die alte aristotelische Binsenweisheit, dass das Maß entscheidend ist, trifft immer noch zu. Weder Feigheit noch Übermut, Verantwortungslosigkeit oder Kontrollzwang genauso wenig wie Selbstzerstörung oder Selbstgeißelung sind sinnvoll. Es kann hierfür keine allgemeine Regel erstellt werden, sondern jeder Mensch muss individuell sein Maß finden[8]. Es ist nur wichtig, dass Menschen sich diesem stets bewusst sind und nicht bei der nächsten ideologischen Erleuchtung alle Gebote des Alltagsverstandes über Bord werfen.
Zusammenfassung
Disziplin und der Zwang gegen sich selbst sind negativ, aber teilweise notwendig. Ein Übermaß davon ist weder für die physische noch psychische Gesundheit gut. Wir müssen uns immer wieder bewusst machen, dass Disziplin kein grundsätzlich guter Wert ist. Es geht somit nicht darum, eine autoritäre „proletarische“ Wende im Lebensstile aller linken Aktivist*innen anzustreben, wie es die K-Gruppen Anfang der 70er Jahre propagierten. Es soll nicht Verzicht, Kleinfamilie und ein stumpfes Arbeitsleben gefordert werden. Genauso wenig sollten wir nun alle anti-autoritären und hedonistischen Prinzipien über Bord werfen. Stattdessen sollten wir all unsere Werte einer kritische Prüfung unterziehen anhand unserer eigenen Erfahrungen. Wir sollten uns selbstkritisch immer fragen, welche Werte wir für eine Revolution brauchen, aber auch ob wir nach der Revolution in einer Gesellschaft leben wollen, welche auf diesen Werten beruht.
Fragend schreiten wir vorran
1 Crimethink: „Work. Kapitalismus, Wirtschaft, Widerstand“, Münster 2017, S. 35.
2 Engels, Friedrich: „Von der Autorität“, S. 604-605 in: „Karl Marx und Friedrich Engels. Ausgewählte Schriften in Zwei Bänden. Band 1“, Berlin 1963.
3 Curious George Brigade/Co-Crimethinc: „DIY. Von Anarchie und Dinosauriern“, Münster 2006, S. 152-153.
4 Tutto, Vogliamo (Hg): „Revolutionäre Stadtteilarbeit. Zwischenbilanz einer strategischen Neuausrichtung linker Praxis“, München 2022, S. 110-111.
5. Offene anarchistische Vernetzung Leipzig: "Gegen die Arbeit und die Arbeitslosigkeit!", unter: https://knack.news/10071
6 Die Plattform: Über die Bedingungen, unter denen wir kämpfen und den Zustand der anarchistischen Bewegung im deutschsprachigen Raum – Die Schaffung einer revolutionären plattformistischen Organisation S. 32-33, unter: https://www.dieplattform.org/2019/01/02/ueber-die-bedingungen-unter-denen-wir-kaempfen-und-den-zustand-der-anarchistischen-bewegung-im-deutschsprachigen-raum-die-schaffung-einer-revolutionaeren-plattformistischen-organisation/
7 Offene Anarchistische Vernetzung Leipzig: „Tipps und Tricks für einen Nachhaltigen Aktivismus“, unter: https://knack.news/9735
8 Aristoteles: „Die Nikomachanische Ethik“, Hamburg 2017, S. 76-77

Ergänzungen
Wertekodex
Ich möchte anmerken, dass ihr hier definitiv einen Wertekodex reproduziert, indem ihr sagt, dass Zwang gegen sich selbst etwas schlechtes sei. Das ist ganz offensichtlich eine ultra-hedonistische Weltsicht, nach der das eigene unmittelbare Wohlbefinden das höchste Gut ist und die Entscheidung zu einer Handlung, die diesem Anliegen nicht genüge leistet, schlecht. Disziplin ist in der Regel kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck und meistens setzt man sich selbst Ziele, die dem eigenen Wohlbefinden dienlich sind. Selbstdisziplin ist in diesem Fall also sogar auch als hedonistische Strategie zu betrachten.