Reflexionsbericht nach 1,5 Jahren TG-Prozess in Leipzig und Freiburg
Dies ist die Reflexion zu einem Transformative Gerechtigkeit-Prozess (TG-Prozess) in Leipzig und Freiburg. Als Grundlage dienen die von uns veröffentlichten Transparenzberichte [https://de.indymedia.org/node/349546 + https://de.indymedia.org/node/468610]. Da sich der Prozess stark verändert hat und transformative Arbeit mit der gewaltausübenden Person (gaP) nicht in Aussicht ist, haben wir uns entschlossen, uns mit unserem bisherigen Prozess und unseren Erkenntnissen zum Prozess und Transformativer Gerechtigkeit allgemein auseinanderzusetzen. Wir hoffen, dass wir damit auch andere Gruppen unterstützen können.
Abkürzungen:
TG: Transformative Gerechtigkeit
bP: Betroffene Person
gaP: Gewaltausübende Person
Wir haben unsere Reflexion basierend auf den Zines "Transformative Justice and/as harm" und "What about the rapists?" und dem Text "Das Risiko wagen - Strategien für selbstorganisierte und kollektive Verantwortungsübernahme bei sexualisierter Gewalt" von CARA (Communities Against Rape and Abuse) durchgeführt. Unsere Erkenntnisse dazu wollen wir hier vorstellen.
Der Text von CARA bietet 10 Leitlinien, an denen sich bei kollektiven Verantwortungsübernahmeprozessen orientiert werden kann. Auch wenn sich der Prozess nicht explizit um sexualisierte Gewalt gedreht hat fanden wir die darin dargestellten Leitlinien eine hilfreiche Orientierung, um unsere Arbeit zu reflektieren. Wir haben uns diese angeschaut und unsere Arbeit dahingehend analysiert:
1. Erkennt die Menschlichkeit aller Beteiligten an.
Wir haben festgestellt, dass es für die betroffene Person (bP) kein Problem war die gewaltausübende Person (gaP) nicht zu entmenschlichen. Eher im Gegenteil musste die bP ihre Wut auf die gaP erst finden, was sich aufgrund eines erlernten "In-Schutz-Nehmens" als größere Herausforderung darstellte. Den weiteren Beteiligten der Betroffenen-Gruppe fiel es manchmal schwer die "Menschlichkeit" der gaP zu bewahren bzw. sie nicht schlecht zu reden, auch weil einige sie nicht kannten und dadurch eher dazu tendierten, sie auf die Beziehung und ihr Verhalten zu reduzieren. Wir haben das im Prozess immer wieder reflektiert und uns gegenseitig darauf aufmerksam gemacht, mit einem fairen und solidarischen Blick auf die gaP zu schauen. In Bezug auf das Umfeld haben wir es leider manchmal nicht geschafft, das Umfeld nicht in "gut" und "böse" einzuteilen. Zumeist geschah das mit Blick darauf wie uns als Prozess begegnet wurde oder wie das Umfeld sich positionierte, Dies bewerten wir teilweise als hinderlich. Nach außen haben wir nicht schlecht über die gaP gesprochen. Wir haben sehr genau darauf geachtet, weil uns immer wieder rückgemeldet wurde, dass wir "bedrohlich" wirken würden.
2. Legt Priorität auf die Selbstbestimmung der Überlebenden von Gewalt.
Innerhalb unserer Struktur hatte die Betroffenen-Gruppe immer Priorität. Uns war beispielsweise wichtig, dass diese aus genug Leuten besteht und arbeitsfähig bleibt.
Vorstellungen und Bedürfnisse der bP wurden gehört und unser Handeln daran gemessen. Gleichzeitig haben wir uns von Anfang an kritisch mit dem Konzept der Definitionsmacht auseinandergesetzt und einen Gruppenkonsens dazu entwickelt, aus Definitionsmacht nicht Handlungsmacht abzuleiten. Während des gesamten Prozesses haben wir immer wieder kontroverse Diskussionen über die durch verschiedene Wahrnehmung der gaP und der bP entstehenden Herausforderungen, sowie über die Relevanz von individuellen Bedürfnissen geführt, auch mit der betroffenen Person.
Dass die Bedürfnisse der bP, beispielsweise nach Gewaltfreiheit und Abstand von der gaP nicht beachtet wurden konnten sehen wir in Zusammenhang damit, dass die Gewalt auch nach Beginn des Prozesses nicht aufgehört hat und es immer wieder zu Vorfällen kam, die die Gewalt fortgesetzt und Erinnerungen wieder hoch geholt haben. Dennoch haben wir versucht, damit einen flexiblen Umgang zu finden, der im Rahmen unserer Möglichkeiten auf die Bedürfnisse der bP eingeht. Die bP konnte beispielsweise so viel Teil der Gruppe sein wie es sich für die bP schaffbar anfühlte.
Die Betroffenen-Zentrierung war anfangs schwer möglich, da wir uns sehr viel über die gaP ausgetauscht haben und wegen der fehlenden Gesprächsbereitschaft viel gemutmaßt haben, wie es der gaP wohl geht und wie sie auf Schritte von uns reagieren wird. Insgesamt haben wir den Erfolg des Prozesses zu stark an der gaP und ihrem Umfeld bemessen. Wir denken, dass Grund dafür der starke Wunsch nach Veränderung der gaP war und wir daher lange an der Hoffnung festgehalten haben, wirklich mit der gaP und ihrem Umfeld transformative Arbeit zu machen. Nach der Beratung vom ASL (antisexistischer Support Leipzig), in der uns das rückgemeldet wurde haben wir versucht, den Fokus mehr auf die mentale Stabilität der bP zu lenken und unsere Bewertung des Prozesses nicht ausschließlich von der gaP abhängig zu machen.
Unser Fokus lag von nun an darauf, die Situation für die bP zu stabilisieren, sodass die bP in der Lage ist, mit möglichen weiteren Vorfällen besser umzugehen.
3. Entwickelt einen Sicherheits- und Unterstützungsplan für die bP, sowie für andere Menschen der Community.
Das von uns eingeführte Buddy-System innerhalb des Prozesses hat sich bewährt. Hier haben wir uns innerhalb des TG-Prozesses jeweils einen Buddy gesucht, um sich mit diesem über Herausforderungen, Fragen usw. austauschen zu können und auch emotional aufgefangen zu werden. Außerdem war uns wichtig uns auch mit Personen außerhalb des Prozesses auszutauschen und von diesen aufgefangen zu werden.
Für die bP etablierten wir ein Notfallkonzept mit Anrufen und Treffen, um diese zu unterstützen. Wir haben dabei flexibel geschaut, wie wir gemessen daran, wie viel sich die bP gerade mit dem Prozess konfrontieren kann über den Prozess und damit verbundene Gefühle in Austausch sein können und was es dafür für Formate braucht. Beispielsweise haben wir mehrmals wöchentlich kurze Telefonate geführt und verschiedene Formen von Treffen ausprobiert, von konzentrierten Plena über Aufarbeitungstreffen der erlebten Gewalt bis hin zu Eisessen und im Park rumliegen. Die Art und Weise der gemeinsamten Arbeit haben wir immer wieder überprüft und an die Bedürfnisse der bP angepasst, um die bP bestmöglich zu unterstützen. Triggerpunkte und Auseinandersetzungen mit gewaltvollen Beziehungen bzw. der Austausch dazu ist innerhalb der Gruppe etwas zu kurz gekommen. Die Betroffenen-Gruppe hat die Themen anfangs besprochen, aber im Laufe des Prozesses nicht mehr. Insgesamt haben wir es geschafft, einen liebevollen Raum zu öffnen und hatten ein achtsames kollektives Miteinander.
4. Denkt sorgfältig über mögliche Konsequenzen eures Vorgehens nach.
Wir hätten uns vorher Gedanken darüber machen müssen, was die Konsequenzen davon sind, dass wir das Umfeld der gaP über den Prozess informieren, ohne es der gaP erneut transparent zu machen. Die gaP hatte von uns eine gesetzte Deadline, um ihr Umfeld zu informieren, was in diesem Zeitraum nicht passiert ist. Deshalb hat die gaP-Gruppe dies getan, jedoch ohne vorheriges Bescheidgeben bei der gaP, was wir rückblickend anders machen würden.
Zudem hätte sich die gaP-Gruppe mehr Gedanken zu möglichen Konsequenzen, z.B. des Umfeldtreffens, machen sollen. Diese Auseinandersetzung hätte mehr Zeit gebraucht und hätte Priorität vor vorschnellem Handeln haben sollen. Leider konnten wir das gaP-Umfeld nicht dort abholen, wo es stand.
5. Organisiert euch kollektiv.
Check ;-)
6. Stellt sicher, dass es in der Gruppe eine einheitliche politische Analyse von (sexualisierter) Gewalt gibt.
In der Betroffenen-Gruppe gab es theoretische Auseinandersetzungen mit dem Gewaltbegriff und anderen relevanten Themen und Begriffen. Wir haben die Treffen anfangs immer mit einem vorbereiteten Theorieinput begonnen und gemeinsam entschieden, welche gemeinsame inhaltliche Auseinandersetzung für unsere Arbeit notwendig ist. Außerdem gab es die bereits erwähnte ausführliche Aushandlung zum Prinzip der Definitionsmacht. Zudem haben wir uns über unsere verinnerlichte Straflogik ausgetauscht, um sicher zu stellen, nicht unbewusst im Sinne einer Straflogik mit der gaP und ihrem Umfeld umzugehen. In der gaP-Gruppe gab es diese Aushandlungen nicht. Unserer Meinung nach wären diese Aushandlungen auch erst mit der Option auf transformative Arbeit mit der gaP notwendig geworden.
7. Stellt eindeutig und konkret dar, was eure Gruppe in Hinblick auf Verantwortungsübernahme von der gaP möchte.
Bezüglich der gaP ist das Thema Verantwortungsübernahme eher schwammig geblieben. Es wurde das Informieren des Umfelds, das Verlassen von Räumen in Fällen der gleichzeitigen Anwesenheit von gaP und bP und die Teilnahme an einem transformativen Prozess gefordert. Die gaP äußerte bei einem Gespräch, dass ihr nicht klar war, was von ihr verlangt wurde.
Weiter hat sich die gaP-Gruppe nicht zu Forderungen an die gaP ausgetauscht. Bezüglich Forderungen an das Umfeld gab es ein konkretes Konzept.
8. Setzt die gaP über eure Analyse und Forderungen in Kenntnis.
In Gesprächen und ersten Nachrichten wurde der gaP deutlich gemacht, dass es sich um einen TG-Prozess handelt. Außerdem bestand von Anfang an die Forderung, dass die gaP Räume verlassen muss, in denen auch die bP ist. Diese Forderung haben wir gut reflektiert und sehr zurückhaltend überbracht.
9. Zieht Hilfe von Dritten und Bezugspersonen der gaP in Betracht.
Es gab leider nur wenige Verbündete aus dem Umfeld der gaP. Dennoch haben sich natürlich auch einzelne Personen konstruktiv eingebracht, z.B. hat eine Person intensiv im Prozess mitgearbeitet. Einzelgespräche mit dem weiteren Umfeld wären diesbezüglich sinnvoll gewesen, aber es gab die räumliche Barriere Leipzig - Freiburg und außerdem Konfliktscheue von unserer Seite, welche wir sehr kritisch sehen. Sehr hilfreich waren die Workshops und Supervisionen, die wir in Anspruch genommen haben.
10. Stellt euch darauf ein, dass ihr einen längeren Prozess vor euch habt.
Die Dimension und Zeitintensität des Prozess war für uns anfangs nicht absehbar. Nach und nach stellte sich bei uns erst das Bewusstsein darüber ein. Außerdem war die Unberechenbarkeit der gaP eine große Belastung für uns. Der Ausgleich durch andere gemeinsame Unternehmungen hat sich hingegen sehr gelohnt.
Allgemeine Erkenntnisse:
Der betroffenen Person geht es durch den Prozess wesentlich besser als zu Beginn und das ist ein großer Erfolg! Das hat uns auch gezeigt, dass Arbeit zu transformativer Gerechtigkeit mehr ist, als mit der gaP transformativ zu arbeiten. Für die Betroffenen-Zentrierung ist es wichtig dabei zu unterstützen, Kontrolle abzugeben. Das bedeutet auch, den Fokus von der gaP zu nehmen, um ihr weniger Macht zu überlassen. Außerdem ist es wichtig, dass auch die bP als Teil des Prozesses kritisierbar ist, was in der Betroffenen-Gruppe, aber auch in gemeinsamen Treffen mit der gaP-Gruppe sehr gut geklappt hat. Transformative Gerechtigkeit ist auch Beziehungsarbeit.
Die Menschlichkeit aller Beteiligten anzuerkennen ist wichtig und herausfordernd.
Wir haben unseren Prozess als extrem kleinteilig empfunden. Zukünftig würden wir gern langsamer und dafür bedachter arbeiten.
Externe Hilfe ist notwendig und wichtig.
Es ist wichtig ein Ziel für die gaP-Gruppe zu formulieren.
Für die gaP-Gruppe war es sehr hilfreich, ein eigenes Handy für die Kommunikation einzurichten.
Es ist wichtig Personen und Situationen realistisch einzuschätzen und Personen dort abzuholen, wo sie stehen. Zukünftig würden wir dafür Einzelgespräche führen und uns auf weniger Personen beschränken.
Unser Prozess hat uns gezeigt, dass Kollektivität funktioniert und uns ein praktisches Verständnis feministischer Solidarität vermittelt. Außerdem schätzen wir die Unterstützung, die wir bekommen haben sehr. Wir konnten viel lernen, konkrete Vorstellungen zu Verantwortungsübernahme entwickeln und unsere Kommunikationsskills und Fehlerfreundlichkeit stärken.
Wenn ihr uns etwas mitteilen möchtet, könnt ihr das gerne weiterhin per Mail tun. Ihr erreicht uns unter tg-prozess_le-fr [ä] systemli.org (Key auf Anfrage).
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