Mehr Steine als Weg: Wie kranken Menschen der Zugang zu Unterstützung systematisch verwehrt wird
Eigentlich ist im Gesetz verankert, dass kranke und behinderte Menschen einen Anspruch auf Versorgungs- und Assistenzleistungen haben. In der Praxis werden hohe Hürden gesetzt, um diese Unterstützungen zu erhalten. Ein Hintergrundbericht
Juni 2024. Nach monatelanger Wartezeit findet endlich der Termin bei meiner neuen Hausärztin statt. Sie hat die Praxis übernommen; wir kennen uns noch nicht. Seit Frühjahr geht es mir wieder schlechter, ich kann meinen Alltag nicht mehr bewältigen, obwohl ich schon lange berentet bin. Was mir fehlt, weiß ich noch immer nicht, aber ich weiß, dass meine Symptome sich verstärken, wenn ich mich anstrenge.
Anfangs gibt die Ärztin sich verständnisvoll, doch sie weiß nicht, wie sie mir helfen soll. Ich sage so etwas wie: »Eigentlich brauche ich einen aktuellen Arztbericht, der letzte ist von 2017«, weil ich wie früher schon einmal Haushaltshilfe beantragen möchte und weiß, dass ich ohne einen medizinischen Nachweis nichts bekommen werde.
Mit dieser Bitte beginnt das mühsame Verständnis zu zerfallen. Die Allgemeinärztin möchte mir weismachen, ich hätte eine leichte bis mittelschwere Depression, nur eben ohne Gemütstrübung, womit es per Definition keine Depression sein kann. Ab dem Punkt weiß ich eigentlich schon, dass ich hier keine Hilfe bekommen werde, doch ich sitze in dem Gespräch fest. »Ich glaube, dass man sich da langsam steigern muss«, befindet die Medizinerin; es reicht wohl nicht, dass ich das jahrelang versucht habe. Dass ich nach Überanstrengung so schwach werde, dass ich kaum ein Wasserglas hochheben kann, diagnostiziert sie als Dekonditionierung: »Das ist klar, dass man immer schwächer wird, wenn man immer weniger macht.« Angeblich hätte ich Angst, dass meine Symptome auftreten könnten und würde deshalb Aktivität vermeiden.
Nach minutenlangem Hin und Her, in dem ich nur noch aus Trotz widerspreche, kommt der Satz, der jede Grenze des guten Benehmens und der wissenschaftlichen Evidenz überschreitet: »Man kann sich selbst zu einem Krüppel im Bett mutieren.« Danach kommen weitere Sätze, die ich nicht mehr höre. Ich sehe, wie sich ihr Mund bewegt, doch ich höre nur noch Rauschen in meinen Ohren. Ich stehe auf und teile ihr mit, dass ich mir jemand anderen suchen werde, wünsche einen schönen Tag und gehe. Zum Abschied nennt die Ärztin meinen Nachnamen, betont extra noch das »Herr« davor, um zu demonstrieren, dass sie immerhin meine Transidentität respektiert. Ich tippe noch auf dem Heimweg ein paar der Sätze, die meine ehemalige Hausärztin von sich gegeben hat, in mein Handy. Warum habe ich es überhaupt versucht? Ich weiß doch, dass ich nicht die Kraft habe, für Unterstützung und Teilhabe zu kämpfen.
Diese Geschichte ist nichts Besonderes. Wo auch immer chronisch kranke Menschen sich austauschen, beschreiben sie ähnliche Erfahrungen. Inzwischen ist auch in der breiteren Gesellschaft bekannt, dass es schwer sein kann, in medizinischen Kontexten ernstgenommen zu werden. Doch ausgerechnet das ist die Voraussetzung dafür, um sich überhaupt für Leistungen zur Versorgung und Teilhabe zu qualifizieren. Die Voreingenommenheit, Fehlinformation und Schuldzuweisungen begegnen Hilfesuchenden jedoch nicht nur in Arztpraxen. Bei jedem einzelnen Schritt werden ihnen Steine, nein, Felsbrocken in den Weg gelegt.
In Medien fallen Schlagworte wie »Pflege in der Krise« oder »Versorgungsnotstand«: Personen mit unstrittigem Bedarf an medizinischer Versorgung und Pflege erhalten diese oft nicht oder in mangelhafter Qualität. Aus dem eigenen Leben weiß man, wie schwer es sein kann, fachärztliche Termine oder Psychotherapie zu bekommen. Weniger bekannt ist das große Feld von Unter- und Nichtversorgung von Personen, die dringend Hilfe brauchen und keine bekommen. Teilweise können diese Menschen sich noch mit einem Job irgendwie über Wasser halten, andere sind den größten Teil ihres Tages bettlägerig und können die eigene Grundversorgung nicht ohne Hilfe stemmen.
Menschenwürde und Lebensqualität sind für zahllose kranke und behinderte Personen immer noch Wunschträume, obwohl sich eigentlich viel getan hat. Von staatlicher Seite wurde zum Beispiel durch das Persönliche Budget, die Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention, die Förderung der Teilhabeberatung, durch Eingliederungshilfe und das Bundesteilhabegesetz versucht, die Möglichkeiten zu erweitern. Doch die Diskriminierung ist in unserer Gesellschaft so tief verankert, dass diese Verbesserungen bei manchen Gruppen einfach nicht ankommen.
Stell dir vor, du bist behindert und niemand glaubt es dir
Nach dem Termin im Sommer habe ich mich nicht weiter um das Thema Haushaltshilfe gekümmert. Genau wie in den Jahren davor habe ich den Aufwand für das Erstreiten größer eingeschätzt als die erreichbare Entlastung. Und bis die auf zwei, drei Stunden Hilfe pro Woche hatte ich ja schon alles: Arbeitsunfähigkeit und Schwerbehindertenausweis hatte ich mir schon vor Jahren erkämpft.
Doch so geht es nicht allen. Eigentlich soll der Schwerbehindertenausweis Zugang zu Nachteilsausgleichen für die Behinderung ermöglichen. Tatsächlich ist das Vorhandensein einer Behinderung dafür lange nicht ausreichend; man muss sie diagnostizieren, dokumentieren und behandeln lassen und sich im Anschluss mit dem Versorgungsamt einen Streit darüber liefern, ob diese Behinderung nun bei aller Dokumentation wirklich existiert oder nicht.
So berichtet es auch Robert aus Wiesbaden, der versucht hat, einen angemessenen Grad der Behinderung (GdB) zu erhalten. Ich kenne Robert nicht persönlich. In meinem privaten Umfeld sehe ich viele ähnliche Geschichten, aber ich halte es nicht für sehr seriös, einen langen Text nur über die Probleme meiner Freund*innen zu schreiben. Darum habe ich, wie man das heute so macht, auf den sozialen Medien nach weiteren Erfahrungsberichten gefragt.
Robert beschreibt seine Lage kurz und knapp mit den Worten: »Amtlich auf Papier noch zu fit für Ansprüche.« Bei der Feststellung des GdB wurde seine »psychosomatische Schmerzstörung aus dem Jahre 2014/2015 […] direkt mit 20 eingestuft«, schreibt er, und weiter: »Meine Depression wurde in die Schmerzstörung eingerechnet«. Er sei so gering eingestuft worden, weil keine Befunde zu Krisen vorlägen und er keine längeren stationären Aufenthalte gehabt habe. Warum er das ungerecht findet: »Der Umstand, dass ich mich wirklich nach besten Mitteln und Wissen durch den Alltag zur Arbeitsfähigkeit kämpfe, bleibt hier absolut außen vor.«
»Dann kam die Pandemie mit Corona und seit meine[r] ersten Infektion Dez. 2023 habe ich nun PostCovid«, erzählt er, und dadurch habe er auch »Fatigue/Brainfog mit Verdacht auf ME/CFS mit positivem Screening auf PEM«. Fatigue ist ein starker Erschöpfungszustand; der Begriff Post-exertionelle Malaise (PEM)) beschreibt, dass sich nach jeglicher Anstrengung erhebliche Krankheitssymptome einstellen. PEM und Fatigue sind Kernbestandteile der Krankheit ME/CFS, um die es hier auch später noch gehen wird. »Mein Mann übernimmt daher sämtliche Carearbeit als Hauptverdiener und in 40h Arbeit«, berichtet Robert weiter. »Kochen konnte ich vor COVID nicht immer ohne Symptome, da ich nicht immer so lange stehen kann ohne Schmerzen, seit COVID helfe ich an guten Tagen nur noch beim Schneiden«.
Zum Job schreibt er: »Ich arbeite aufgrund meiner Gesundheit nur noch 30h die Woche«, möglich seien ihm bei viel Flexibilität und voller Remote-Arbeit 2-3 Stunden symptomfreies Arbeiten. »Ich mach das jedoch sehr gerne«, erklärt er, »meine Gesundheit ist hier nur leider mein größerer Gegner.« Für die Hilfsbereitschaft seiner Kolleg*innen ist er dankbar, und dennoch muss er für sich selbst einstehen: »Ich kläre für eine bessere Situation ehrenamtlich mein ganzes Berufsumfeld über meine Krankheiten auf.«
Auf einen Termin bei der Long-Covid-Ambulanz in Wiesbaden wartet Robert bislang vergebens. Im Spätsommer habe er nachgefragt und erfahren, dass seine Überweisung von Mai noch nicht bearbeitet wurde. Einen Pflegegrad habe er gar nicht erst beantragt, denn er geht nicht davon aus, eine Einstufung zu erhalten: »Wenn wir eine bekommen würden, dann vermutlich nur mit ausreichenden Kenntnissen zum [Sozialgesetzbuch] und Erstreiten des Rechts – wofür ich keine Kraft habe.« Die Infektionslage in Deutschland stellt eine weitere Hürde dar: »Dazu holen wir uns bei Pflege und Hilfe immer das Risiko mit ins Haus, erneut COVID zu bekommen, was insbesondere für mich stark gefährdend wäre.«
So bleiben Robert und sein Mann mit der Situation weitestgehend allein. Der Ton seitens der Behörden belastet ihn merklich: »Es wird immer davon ausgegangen, dass ich als Bürger mir etwas erschleichen will«. Er habe nie gedacht, dass es so schlecht aussieht für Betroffene: »Auch ich habe mal gedacht, zusammenreißen und nur viel leisten, [das] bewahrt vor solchen Schieflagen.« Was er sich wünscht? »Ernsthafte Solidarität in der Gesellschaft, die auch in einem Handeln mündet. Jeder kennt die Missstände, alle haben Sorgen, nur niemand fordert das System heraus.«
Stell dir vor, du bist behindert und niemand kann deine Behinderung richtig bewerten
Und was ist mit Menschen, die einen höheren Hilfebedarf haben? Wer sich nicht mehr selbst versorgen kann, bekommt auch Hilfe, oder?
Wer krank wird, erhält nicht eines Tages eine hübsche Broschüre und eine Schulung zu Leistungsansprüchen. Kranke Menschen wissen nicht mehr als der Rest, und wer unter den Lesenden, die sich nicht aus beruflichen Gründen mit dem Thema auskennen, weiß schon, was der Unterschied zwischen Pflege, Hilfe zur Pflege, Eingliederungshilfe und Persönlichem Budget ist und unter welchen Umständen worauf ein Anspruch besteht? Die Pflege ist wohl den meisten noch ein Begriff. Wer erstmalig Hilfe braucht, setzt oft dort an.
Als es mir gesundheitlich am schlechtesten ging, das war 2016 oder 2017, habe auch ich zuerst einen Pflegegrad beantragt. Ich kam kaum noch aus dem Haus, schaffte die Treppen oft nur auf allen Vieren, konnte mich nur alle ein bis zwei Wochen duschen und hatte große Schwierigkeiten, meine Wohnung sauber genug zu halten, um ungehindert vom Bett bis aufs Klo zu kommen.
Die Feststellung eines Pflegegrades erfolgt anhand von Modulen. Bewertet werden Bewegungsfähigkeit, Orientierung und Kommunikationsfähigkeiten, Problemverhalten, Selbstversorgung (Körperpflege, Toilettengang, Nahrungsaufnahme), Unterstützungsbedarf bei medizinischer Versorgung sowie Alltagskompetenzen. Nicht berücksichtigt werden außerhäusliche Aktivitäten und Haushaltsführung; die Pflegekasse ist für Aufräumen, Einkaufengehen und Kochen nicht verantwortlich. Jedes der Module wird einzeln bewertet und die Punkte zu einem Gesamtwert verrechnet. Genau nachlesen kann man das alles in den Richtlinien des Medizinischen Dienstes Bund zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit.
Das Bewertungsschema ist für viele Fälle nicht klar definiert. Ist es unselbständig, wenn ich mich selbständig waschen kann, nur eben zu selten? Wie werden Tätigkeiten bewertet, die ich ohne Hilfe ausführen kann, aber nicht ohne einen Preis in Form von Schmerzen oder verstärkten Symptomen zu bezahlen? Was ist mit Dingen, die auch mit Hilfe nicht möglich wären, weil ich einfach zu krank dafür bin – hat mein Körper dann selbständig entschieden, sie bleiben zu lassen? Wenn die Häufigkeit medizinischer Versorgung angegeben werden soll, wie wird Versorgung bewertet, die dringend stattfinden müsste, aber ohne Unterstützung nicht kann?
Der Medizinische Dienst steht in der der Pflicht, Richtlinien zu schaffen, mit denen solche Krankheitsbilder korrekt bewertet werden können. Auf Anfrage gibt dieser an: »Es geht immer um die Bewertung der Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit und der Fähigkeiten in den Modulen des Begutachtungsinstruments.« Zum medizinischer Versorgung, die ohne Unterstützung nicht stattfinden kann, verweist er auf Hausbesuche, erklärt aber auch, es sei »der erforderliche Hilfebedarf zu bewerten, sofern dieser regelmäßig und auf Dauer erforderlich ist.« (Link zum Volltext der Stellungnahme)
Die Erfahrung zeigt, dass Pflege- und andere Bedarfe nur selten ohne Nachweise und Arztberichte anerkannt werden. Dies streitet der Medizinische Dienst ab: »Der pflegerische Hilfebedarf wird nicht ausschließlich und in erster Linie über medizinische Fremdbefunde festgestellt. Diese können Teil der Informationssammlung bei der Pflegebegutachtung sein. Es hängt immer vom individuellen Einzelfall ab, ob zusätzlich zur Befunderhebung durch die Gutachterin oder den Gutachter weitere medizinische oder therapeutische Berichte erforderlich sind, um den Grad der Selbstständigkeit einschätzen zu können.« Ein solcher Fall ist in den Richtlinien nicht beschrieben, dort wird lediglich erwähnt, dass »Beginn und Verlauf der Erkrankungen, die ursächlich für die gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten sind, zu schildern« sind. Wie das gehen soll, wenn die Erkrankungen nicht diagnostiziert oder bekannt sind, bleibt fraglich.
Ohne klare, passende Richtlinien wird den Begutachtenden ein großer Interpretations- und Ermessensspielraum eingeräumt. Bei meiner eigenen Begutachtung wurde über die Folgen des selbständigen Ausübens meiner Selbstversorgung großzügig hinweggesehen und ich erhielt am Ende den niedrigsten Pflegegrad.
Stell dir vor, du bist behindert und du kannst es beweisen und du bekommst trotzdem keine Hilfe
Dass sogar einschlägige Diagnosen nicht zu angemessener Bewertung des Pflegebedarfs führen, berichtet MeckerMutti, die bei ihrem Online-Pseudonym genannt werden möchte und sich ebenfalls auf meine Anfrage gemeldet hat. Wie Robert ist auch sie aus Notwendigkeit zur Aktivistin geworden. Ihre Profile auf den sozialen Medien sind voller Informationslinks zu ME/CFS und Hashtag-Kampagnen. »Psychohygiene betreibe ich mit meinem Aktivismus«, schreibt sie mir. »Mit anderen zu teilen, was ich erlebe, was ich herausfinde, was nutzen oder helfen kann. Laut zu werden gegenüber Politik und den Verantwortlichen.«
ME/CFS ist eine Erkrankung, deren Hauptsymptom eine knochentiefe Erschöpfung ist, die sich durch Anstrengung verschlimmert. Dass die Versorgungslage von Personen mit ME/CFS dramatisch ist, ist inzwischen ebenso bekannt wie die Tatsache, dass es sich um eine körperliche Erkrankung handelt, die unter anderem durch eine Corona-Infektion ausgelöst werden kann.
Auch MeckerMutti hatte Schwierigkeiten, die richtige medizinische Versorgung zu finden. »Meine damalige Hausärztin hat mir lediglich ein Multivitamin-Präparat verordnet und, wie ich später feststellen musste, diverse Psycho-Diagnosen verpasst.« Später habe ein anderer Arzt ihr die Diagnose Neurasthenie gestellt, eine Diagnose aus dem späten 19. Jahrhundert, die als überholt gilt und im 2018 veröffentlichten ICD-11 nicht mehr vorhanden ist. In Deutschland wird noch das ICD-10 von 1994 verwendet.
»Ich habe mich dann für einen Termin in der Covid-Ambulanz Ulm angemeldet, der Ende Februar 2023 stattfand«, erzählt MeckerMutti. Dort wurde sie mit ME/CFS diagnostiziert. Ihren derzeitigen Hausarzt beschreibt sie positiver: »Ich bringe ihm Informationen und wir beraten, was für mich einen Nutzen bringen könnte.« Zusätzlich war sie in einer neurologischen Ambulanz, hat zahlreiche Tests über sich ergehen lassen, obwohl sich durch die Belastung ihr Zustand verschlechtert: »Weitere Diagnostik kann ich nicht mehr betreiben, da dies jedes Mal zu einem Crash führt«. Ein sogenannter Crash ist eine auf Überlastung folgende massive Verstärkung der Symptome, die Tage oder Wochen andauern und sogar dauerhaft bleiben kann. Die einzige bekannte Methode, um einen Crash zu verhindern, ist Pacing, also ein kontrolliertes Einteilen und Reduzieren des Aktivitätslevels, um die Überlastungsschwelle niemals zu überschreiten.
Die zweimal bestätigte Diagnose sollte zusammen mit MeckerMuttis schwerer Symptomatik eigentlich ausreichen, um die nötige häusliche Versorgung zu erhalten. »Bell 20«, beschreibt sie ihren eigenen Zustand. Die Bell-Skala ist ein System, um den Schweregrad von ME/CFS zu bewerten. Eine 20 auf dieser Skala bedeutet eine schwere Beeinträchtigung, die jegliche Belastung zu einer Tortur macht. Erkrankte mit diesem Funktionswert können nur selten das Haus verlassen und sind die meiste Zeit bettlägerig. Gepflegt wird MeckerMutti vor allem von ihrem Mann, den sie gern entlasten würde: »Ich mache mir Sorgen, dass er irgendwann aus den Latschen kippt.«
Der Medizinische Dienst, der für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit zuständig ist, sieht das anders. Im Januar 2024 beantragt MeckerMutti einen Pflegegrad. »Hierzu habe ich im Vorfeld der Begutachtung eine Info-Mappe nach den Empfehlungen der Fatigatio e.V. [Link: Fatigatio] an die Pflegekasse geschickt«, berichtet sie. »Dort waren alle Diagnosen enthalten, Erläuterungen zu ME/CFS und PEM, ein Pflegetagebuch und eine Selbsteinschätzung«. Nach jener dürfte sie Pflegegrad vier haben. Damit hätte sie Anspruch auf Pflegedienststunden im Wert von 1778 € – also Pflege mehrmals die Woche oder täglich.
Doch einen Monat nach Antragstellung erhält sie den Bescheid: Pflegegrad eins. Das bedeutet einen Entlastungsbetrag von 125 €, der maximal für vier Stunden monatlich reicht und nicht ausgezahlt werden kann. »Das Gutachten ist von vorne bis hinten voller Lügen«, beanstandet MeckerMutti. »Ich könnte arbeiten, Treppensteigen und vieles mehr völlig selbständig tun.« Dabei kann sie nur noch in Innenräumen zehn Meter mit dem Rollator gehen: »Für Wegstrecken außerhalb und darüber hinaus benötige ich einen Elektro-Rollstuhl.« Bei der Begutachtung sollte sie demonstrieren, wie sie aufsteht, musste den Versuch jedoch aufgrund starker Schmerzen abbrechen. »Ich lag etwa 50 Minuten der Begutachtung still im Bett, nach dem gescheiterten Aufstehversuch mit Schlafmaske.«
In Bezug auf die Begutachtungsrichtlinien und die Fachkenntnisse der Begutachtenden sieht der Medizinische Dienst weder Handlungsbedarf noch Probleme und schreibt: »Die Auswirkungen von ME/CFS können auch im Rahmen der aktuell gültigen Begutachtungs-Richtlinien angemessen berücksichtigt werden«. Und weiter: »Zusätzlich haben die Gutachter fachliche Grundlagen und Schulungen zu ME/CFS erhalten.«
Das Pflegegutachten, das über MeckerMutti erstellt wurde, macht diese Aussage zumindest fragwürdig. Es enthält interessante Empfehlungen zur Verbesserung ihrer Situation wie beispielsweise Rehabilitationssport, Miteinbindung eines Psychiaters sowie Gedächtnistraining durch Memory oder Brettspiele. Auch gibt das Gutachten an, dass ihre Selbständigkeit durch Therapiemaßnahmen und Medikation verbessert werden könnte. Für ME/CFS gibt es keine Medikamente und keine kausalen Therapien. Einige Studien belegen Wirksamkeit von Verhaltenstherapie, doch eine Wirkung, die über das Vermitteln von Pacing-Strategien und emotionale Unterstützung hinausgeht, ist umstritten.
Es ist nichts Neues, dass ME/CFS und ähnliche Krankheiten psychologisiert und nicht ernstgenommen werden. MeckerMutti legt Widerspruch ein, erhält im Juni eine Ablehnung nach Aktenlage und ohne detaillierte Begründung für den Verzicht auf eine erneute Begutachtung. Ein weiterer Widerspruch wird ebenfalls abgelehnt, es bleibt die Klage als letzte Option. MeckerMutti schreibt, all das sei »ohne Unterstützung eine enorme Belastung, ohne nachfolgende Crashs eigentlich nicht zu bewältigen.« Sie muss sich um alles selbst kümmern: »Mein Mann ist Legastheniker, mein Sohn neurodivergent«.
Wie lässt sich diese Belastung für die Betroffenen verringern? MeckerMutti findet: »Ein Briefkasten voller Flyer ist für mich/uns nicht die Lösung. Es sollte einen Menschen geben, der, wenn man die Diagnose hat, zu einem nach Hause kommt, alle erforderlichen Anträge ([Pflegegrad], GdB, usw.) abarbeitet und die Anträge für einen ausfüllt. Der sich dann mit den Bescheiden und Behörden auseinandersetzt, eine Rechtsvertretung einschaltet bei Bedarf, alles ›Ungemach‹ von den Betroffenen fernhält und sich bis zum hoffentlich erfolgreichen Abschluss der Verfahren kümmert. Einen Verwalter sozusagen. Oder Betreuer. Nicht für jedes Thema einen anderen, dem man erst wieder die Krankheit und die Probleme damit erklären muss. Und wir können derweil in unseren Betten liegen und pacen, damit die Energie ausschließlich für Grundbedürfnisse und Lebensqualität eingesetzt werden kann.«
Die Unterstützungsangebote reichen nicht
Nicht nur MeckerMutti und Robert haben diesen Wunsch. Im Austausch mit anderen kranken und behinderten Menschen ist er mir oft zu Ohren gekommen, und auch ich selbst habe ihn gehegt, als ich nach dem Erlangen des Pflegegrades das Persönliche Budget beantragte.
Damals wendete ich mich an eine Initiative von behinderten Menschen, die anderen Behinderten bei der Antragstellung helfen wollte. Ich kann mich nicht mehr erinnern, welche es war. Nach einem kurzen E-Mail-Austausch schickte mein Gegenüber mir einen fertigen Brief, den ich nur noch ans Sozialamt senden musste. Fürs Persönliche Budget ist ein formloser Antrag ausreichend. So wurde mir etwa eine halbe Stunde Formuliererei und Dokumentformatierung abgenommen.
Es folgte ein mehrere Wochen andauernder Schriftwechsel mit dem Sozialamt und schließlich eine Begutachtung. Alles davon musste ich alleine machen. Ich hatte großes Glück und das Budget wurde mir ohne Verzögerung, Widerspruch und Klage bewilligt, wenn auch mit weniger Stunden als beantragt. Doch dann dauerte es Monate, bis ich tatsächlich Hilfe bekam – denn ich musste eigenständig recherchieren, wie ich eine Person anstelle, wie ein Arbeitsvertrag aussieht, wo ich das anmelden muss, und zu guter Letzt musste ich eine Person finden, die diesen Job für mich machen wollte. Angeblich soll es eine Möglichkeit geben, bei diesen Aufgaben Hilfe zu bekommen, doch ich habe nie herausgefunden, wie man darauf Zugriff bekommt.
Heutzutage gibt es in vielen Städten Angebote für die sogenannte EUTB: Die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung. Diese Beratungsstellen bieten wohnortunabhängig Beratung an, oft auch per E-Mail oder Telefon, teilweise sogar durch Hausbesuche, und leisten so die essentielle Arbeit, Hilfesuchenden einen Überblick über Leistungsansprüche zu vermitteln. Die EUTB können das Antragsverfahren erklären und bei der Antragstellung unterstützen, doch sie können den Hilfesuchenden nicht die eigentliche Arbeit abnehmen. Die Beantragung ist für viele tatsächlich eine Hürde, aber im Vergleich zu den anderen, die sie auf dem Weg zu angemessener Hilfe überwinden müssen, bleibt es oft eine der kleinsten.
Hilfe gibt es nicht für die Diagnostik, die durch Fachärztemangel und Vorurteile in der Medizin erschwert wird. Nach der Antragstellung müssen Hilfesuchende sich Unterstützung für Begutachtungen sowie rechtlichen Beistand für Widersprüche und Klagen eigenständig organisieren, müssen selbst ihren Papierkram erledigen und verschicken. Auch die vernichtenden Ablehnungen müssen sie selbst in Empfang nehmen, mit allen psychischen und emotionalen Folgen. Keine der Leistungsformen ist leicht und unbürokratisch erhältlich; endlose Wartezeiten, hanebüchene Ablehnungen und Hürden durch Nachweisforderungen sind bei Eingliederungshilfe und Persönlichem Budget ebenso üblich wie bei Pflegeleistungen. Beratungsstellen können daran nichts ändern.
Normalität für kranke und behinderte Menschen
Wer einmal gesehen hat, wie groß die Probleme für behinderte Menschen sind, wenn sie Hilfe brauchen oder Leistungen in Anspruch nehmen möchten, kann nie wieder aufhören, es zu sehen. Blockaden und Diskriminierung sind die Regel, nicht die Ausnahme.
In meinem direkten Umfeld gibt es eine Person, die seit einem Dreivierteljahr kein Persönliches Budget erhält, obwohl ihr Bedarf längst anerkannt wurde – weil sie gegen die zu niedrige Stundenzahl Widerspruch eingelegt hat. Eine andere Person bräuchte Hilfe für das Nötigste, hat aber keinen festen Tagesrhythmus und weiß nicht, wann sie wach sein wird, sodass sie bislang nichts beantragt hat, weil es das nur schlimmer machen würde. Meinen Haushalt teile ich mit einer Person, der vor Jahrzehnten die zweifelsfrei vorhandene Gehbehinderung aberkannt wurde und die dadurch keinen Anspruch auf entsprechende Nachteilsausgleiche hat. Erst diesen Monat habe ich eine Person kennengelernt, die mich fragte, ob man einen Rollstuhlmotor billig selberbauen kann – sie könne anders keinen kriegen, habe sich sogar den Rollstuhl auf Ebay selbst gekauft.
Die Geschichten sind haarsträubend und sie sind überall. Was bleibt, ist die Wut. So schreiben es auch Robert und MeckerMutti. »An manchen Tagen fühle ich mich sehr hilflos«, beschreibt Robert. »An anderen bin ich wütend, weil die Mehrheit es nicht sieht.« Ähnlich drückt sich MeckerMutti aus: »Ich bin wütend! Unsere Rechte werden mit Füßen getreten.«
Durch die andauernde Corona-Krise wird die Problemlage sich nicht entschärfen, so wie es sich zu Beginn der Pandemie viele erhofften, wenn die ganzen Vorerkrankten endlich wegsterben würden. Im Gegenteil: Durch die Langzeitfolgen wiederholter Infektionen werden immer mehr Menschen am eigenen Leib erfahren, wie schwer es ist, Hilfe zu bekommen – medizinisch, pflegerisch, finanziell –, und ob die Ressourcen für ihre Versorgung ausgeweitet werden, ist zweifelhaft. Das Thema war vielleicht noch nie so aktuell wie jetzt.
Ich selbst erlebte wenige Wochen, nachdem ich von einer Hausärztin als Krüppel bezeichnet wurde, eine unerwartete gesundheitliche Verbesserung. Ich kaufte mir ein Fahrrad, reparierte es und fuhr in der ersten Woche fast hundert Kilometer. Warum es mir jetzt besser geht, weiß ich genauso wenig, wie ich eine Erklärung dafür habe, warum es mir jahrelang so schlecht ging. Ich kann nur vermuten, dass es nicht an ›Dekonditionierung‹ lag.
Dieses Glück haben die Wenigsten. Wir müssen – und können – als Gesellschaft die Zustände verbessern, unter denen Menschen mit unheilbaren Krankheiten leben.