Solidarität mit İhsan, Gedanken zum Hungerstreik und mangelnde Gesundheitsversorgung in deutscher Haft

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Während Verfahren nach §129 StGB "Bildung einer kriminellen Vereinigung" aktuell wieder zum Thema einer Debatte über Repression in der deutschen Linken werden, sehen sich ausländische Oppositionelle linker Gesinnung innerhalb von Deutschland schon seit den 90er Jahren massiv mit Vereinigungsdelikten verurteilt.  Nun sind sie mit dem Gesinnungs- und Schnüffelparagraphen 129b "Bildung einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung im Ausland" konfrontiert - dies maßgeblich aufgrund von Abkommen mit dem Erdogan-Regime, dessen Terrorliste über Verhandlungen im Rahmen der Nato und mit Blick auf Geflüchtetenbewegungen an den Außengrenzen in Europa anerkannt wird.

 §129b trifft vor allem kurdische und türkische Aktivist*innen, wie die Journalistin Özgül Emre, den Studenten Serkan Küpeli und den Musiker İhsan Cibelik, die sich seit Mai 2022 in Untersuchungshaft (U-Haft) in der JVA Köln-Ossendorf und JVA Hamburg-Holstenglacis befinden.

Seit Juni 2023 wird nun wegen der angeblichen Bildung des sogenannten Deutschland-Komitees der in der BRD verbotenen Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) vor dem Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf prozessiert.

Aufgrund der Historie des faschistoiden Regimes in der Türkei können diese Gefangene auf eine wehrhafte Politik innerhalb der Knäste zurückblicken. Auch die deutsche Justiz bekam das nun zu spüren.

Um die 2000er Jahre wurden in der Türkei im Rahmen eines Antiterrorgesetzes die sogenannten „F-Typen“ – Hochsicherheitsgefängnisse nach amerikanischem und europäischem Vorbild - eingeführt. Einzelzellen und kleinere Hafträume für circa 3 Personen, wie sie z.B. in Deutschland zu der Zeit schon länger die Regel waren, sollten kasernenartige Hafträume in denen 20–100 Personen untergebracht waren, ersetzten. Diese großen Sammelunterkünfte hatten zuvor Formen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens und weiteren Aktivismus im Rahmen des Knasts ermöglicht. Die Neuerung sollte vor allem politischen Gefangenen die Organisierung drinnen durch Isolation erschweren.

Als Reaktion auf ihre geplante Verlegung in die neuen Haftanstalten starteten Häftlinge im Oktober 2000 einen Hungerstreik. Bis zum 19. November 2000 hatten sich 816 Gefangene in 18 Gefängnissen dem Hungerstreik angeschlossen. Dieser wurde auch in Form des sogenannten „Todesfastens“ (ölüm orucu), bei dem die Häftlinge unbefristet und bis zum bitteren Ende nur noch Wasser, Zucker und Salz zu sich nahmen, fortgeführt. Zeitweilig nahmen mehr als 1000 Strafgefangene und Angehörige an dem Hungerstreik teil.

Die Zwangsverlegung und der Stopp dieses Massenhungerstreiks sollte durch eine Militäroperation des türkischen Staats namens „Rückkehr zum Leben“ durchgesetzt werden: Am 19.12.2000 wurde in rund 20 Gefängnissen mit Helikoptern, Baggern und Gasbomben gegen die Barrikaden wehrhafter Gefangener gewaltsam vorgegangen. Im Anschluss wurden 28 revolutionäre Aktivist*innen hingerichtet.

Hungerstreikaktionen zogen sich auch danach bis 2007 weiter. Erkämpfen lies sich damit beim türkischen Justizministerium, dass bis zu zehn Gefangene zehn Stunden pro Woche zusammenkommen können, was bis dahin nur für fünf Stunden pro Woche möglich gewesen war.

Aktuell sind in der Türkei mehr als 25.0000 Menschen in Haft, 2,8% der türkischen Bevölkerung. Damit liegt die Türkei in den Top 5 im weltweiten Vergleich. Schätzungsweise 30% der Inhaftierten sind politische Gefangene.

 Die repressiven Zustände lassen politische Aktivist*innen in die EU fliehen, wo sie politisches Asyl bekommen, um dann auch vor Ort mit Gesinnungsparagraphen §129b belegt zu werden. So auch der jetzt in Deutschland inhaftierte İhsan - Musiker einer oppositionellen Band namens Grup Yorum, die in der Türkei mit Auftrittverboten und Verfolgung überzogen wurde. 

Er erlebte das Gefängnismassaker im Jahr 2000 in der Haftanstalt Canakkale und war Teil des Todesfastens, wurde zwangsernährt und leidet bis heute am Wernicke-Korsakoff-Syndrom – einer Krankheit verursacht durch Langzeit-Hungern (oder Alkoholmissbrauch. Das Nervensystem und Gehirn wird beschädigt, oftmals auch das Erinnerungsvermögen. Die Krankheit tauchte massenhaft beim Widerstand gegen das Isolationssystem auf.

Nun hat İhsan auch in der deutschen Haft gehungerstreikt. Warum sah er sich genötigt?

Am zweiten Tag seiner Haft hatte er den Anstaltsarzt informiert, dass er aufgrund eines Krebsverdachts draußen einen Biopsietermin gehabt hätte. Immer wieder stellte er Nachfragen bei der JVA Köln-Ossendorf. Doch erst über 15 Monate später wurde diese Untersuchung in der Uni-Klinik Köln vorgenommen. Beim ersten Termin wehrte İhsan sich gegen eine Untersuchung mit Hand und Fußfesseln - unter anderem gegen eine entwürdigene Urinprobenentnahme im Rollstuhl gefesselt -, appellierte an den Eid des Hippokrates des Arztes und stand damit ein für eine würdevolle Behandlung, die ihn nicht entmenschlicht, was ihm beim zweiten Anlauf gewährt wurde. Letztendlich wurde Prostata-Krebs diagnostiziert.

Im derzeit noch laufenden Prozess hat die Verteidigung eine Entlassung zur medizinischen Behandlung gefordert, was immer wieder verwehrt wurde. Argumentiert wurde mit der Fluchtgefahr des über 60-Jährigen.

Die Behandlung innerhalb des Knasts wird nie das Patient*innenwohl priorisieren, und die Gefahr, dass der Krebs sich ausbreitet und streut ist unmittelbar. Es ist ein System, das vermeidet zu behandeln, sei es aus Personal- oder Geldmangel oder allein schon aus der Abwertung der zu verwaltenden Menschenschicksale heraus.

Doch İhsan war nicht bereit das hinzunehmen: Seine Verteidigung ging in die nächste Instanz mit ihrer Forderung – vor allem für einen konkreten Behandlungsplan mit zeitlicher Eingrenzung. 36 Tage ging İhsan dafür in den Hungerstreik und erhielt daraufhin den geforderten Behandlungsplan vom Anstaltsarzt. Zustande kam das „Zugeständnis“ erst nach großem Druck der Verteidigung und Öffentlichkeit. Zudem traten neben dem passionierten Saz–Spieler (Saz oder auch Bağlama ist ein Saiteninstrument) auch vier weitere türkische Kommunist*innen aus seinem Unterstützungskreis in den Hungerstreik, die von draußen ein Ende der politischen Verfolgung durch den §129 in Deutschland und die Freilassung ihrer Genoss*innen fordern.

Zwar wurden bei weitem nicht alle Anliegen der Hungerstreiks erreicht, doch mit der Zusicherung eines baldigen OP-Termins in der Uniklinik Köln kam es zu einer Ermächtigung über die Willkür und Entmenschlichung der Verhältnisse im Knast.

Nun wurde İhsan Anfang April endlich operiert. Zu hoffen bleibt nur, dass die Verschleppung seiner Behandlung nicht dazu geführt hat, dass der Krebs gestreut hat.

Wir wünschen ihm alles Gute für seine Genesung!

Die mangelhafte und schlechte gesundheitliche Versorgung in deutschen Knästen ist immer wieder Thema, sie reicht von passiver Vernachlässigung bis zur aktiven Schädigung Gefangener.

Beispielsweise leistete sich die JVA Leipzig mit ihrem Anstaltskrankenhaus, das sogar über mehrere Bundesländer hinweg zuständig für Gefangene ist, zuletzt mehrfach den Entzug von lebenswichtigen Medikamenten. So auch nach den Inhaftierungen der Tag X Demo im Sommer 2023. Ein betroffener Antifaschist und Epileptiker erhielt mehrfach falsche Medikamente und musste drei Mal in ein externes Kranken noteingewiesen und notbehandelt .

Sehr ähnlich verhielt es sich mit dem Klimaaktivisten Finn Siebers, dem die Anstaltsärztin scheinbar aus gezielter Schikane die Antidepressiva absetzte, woraufhin er mit den Symptomen eines Herzinfarkts außerhalb der JVA behandelt werden musste. Auch werden psychologische Krankheitsbilder vernachlässigt: Therapieangebote gibt es in der JVA Leipzig nicht. Gespräche mit dem psychologischen Dienst seien aufs nötigste reduziert.

Mangelnde psychologische Betreuung gepaart mit menschenfeindlichen Bedingungen der Inhaftierung führen zu einer hohen Dunkelziffer an Suiziden hinter Gittern. So berichtete unlängst Andreas Krebs aus der JVA Tegel wie dieses Problem unter den Teppich gekehrt wird.

Sowohl Finn als auch Andreas wählten in letzter Zeit das Mittel des Hungerstreiks, um gegen ihre Haftbedingungen vorzugehen und thematisierten dabei unter anderem die medizinische Versorgung.

In Deutschland rühmen sich Justiz und Staat, fortschrittlich zu sein und keine Körperstrafen oder Folter mehr anzuwenden – nur der Freiheitsentzug sei die Strafe, das Ziel die Resozialisierung. Doch wir sehen: Inhaftierung zieht körperlichen und psychischen Schaden immer als Konsequenz nach sich. Dies wird vom Justizapparat und all seinen Mit- und Zuarbeiter*innen bewusst in Kauf genommen und sogar provoziert.

Der Umgang von İhsan und seiner Bewegung mit der Gefangenschaft ist bewusst und konfrontativ - und verweist auf inhumane Zustände, die soziale Gefangene in Massen auf sich nehmen müssen, ohne, dass es thematisiert wird.

Eine umfängliche Bewertung des Hungerstreiks als Kampfmittel im Knast bleibt auch abhängig vom kulturellen Kontext dieser Praxis komplex.

Dem eigenen Körper zu schaden, um den Behörden zu Gunsten des Schutz des Lebens ihre Aufsichtspflicht abzunötigen, gesteht dem Staatskonstrukt potenziell mehr Legitimität und Humanität zu, als wir von ihm erwarten können.

Gleichzeitig haben Gefangene abgesehen von langsamen, rechtlichen Interventionen kaum Kampfmittel. Ihre Körper einzusetzen ist eine bedeutungsvolle Entscheidung, die durchaus Druck und Aufmerksamkeit erzeugen kann, wie wir es auch bei Andreas Krebs Widerstand sehen konnten.

Es ist ein praktikables Instrument, da es die Anstalt in ihrer hochheiligen Sicherheit und Ordnung gefährdet – ein Toter oder auch nur Hungernder mit Lobby erzeugt Öffentlichkeit. Öffentlichkeit zu ihren Verhältnissen treffen JVAen tief, beruhen ihre Abläufe, ihre Sicherheit und Ordnung doch auf Ignoranz und Ausgrenzung durch die Gesamtgesellschaft.

Doch ein Hungerstreik sollte durchdacht sein, organisiert bestenfalls in Absprache mit Unterstützung von draußen und sollte nicht leichtfertig entschieden werden.

Grundsätzlich wollen wir Gefangene in allen ihren Widerstandsformen unterstützen. Doch wir wollen nicht, dass sie in Gefangenschaft ihr Leben aufs Spiel zu setzten.

Wir brauchen unsere Leute lebendig und gesund.

Gerade deshalb dürfen wir von außen nicht zulassen, dass die Haftbedingungen ihre Körper und Psyche marodieren lassen.

Sorgt deshalb in eurem Umfeld und in den Medien für eine Sichtbarkeit dieser Fälle.

Besucht Knäste und schreibt Briefe.

Der Knast bleibt das unmittelbarste Symptom einer Gesellschaft, die uns kein soziales Miteinander bieten kann. Ihn anzugreifen – von innen wie von außen - ist ein nicht zu unterschätzendes Scharnier unseres Widerstands.

Für ein Recht auf medizinische Behandlung unter menschenwürdigen Bedingungen – für İhsan – und für alle anderen!

Bis zur Abschaffung aller Knäste!

Weitere Informationen:

Offizielle Website zum Fall: https://dhkpcverfahren2023129b.wordpress.com#Nächste Prozesstermine: 14.05.; 15.05.; 28.05.; 29.05.; (Verhandlungen bis Ende September angesetzt)

 

https://dhkpcverfahren2023129b.wordpress.com/2024/02/24/information-zu-krebserkrankung-ihsan-cibelik/

 

https://www.freexantifas.org/sachsische-justiz-gefahrdet-den-gesundheitlichen-zustand-unseres-inhaftierten-freundes-und-genossen/

 

https://www.freie-radios.net/127529 (Finn über Alltag in der JVA Leipzig)

 

https://www.freie-radios.net/127786 (Finn S. (JVA Leipzig) tritt in Hungerstreik)

 

https://kolektiva.media/c/andreaskrebsoli/videos (Videos von Andreas Krebs aus der JVA Tegel)

 

https://a-dresden.org/2024/02/02/gesprache-um-knast-andreas-krebs-im-hungerstreik/ (Interview mit Andreas Krebs über den Hungerstreik)

 

https://www.jungewelt.de/artikel/470999.rote-hilfe-solidarisch-mit-dem-hungerstreikenden-gefangenen-andreas-krebs.html

 

https://www.youtube.com/watch?v=YEp8_lI4G9E (Konzert von İhsan in Paris)

 

https://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/artikel/21580.sterben-in-den-f-typ-zellen.html (Bericht von 2001 zum Todfasten in der Türkei)

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