Abseilaktion in Gießen über A485: „Klaut Ihr den Anlagenring, holen wir uns die Autobahn!“

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Aktuell haben sich Verkehrswende- und Klimaschutzaktivist*innen über der A485 in Gießen (Brücke der Grünberger Straße = B49) abgeseilt mit einem Transparent „Klaut Ihr den Anlagenring, holen wir uns die Autobahn!“ Mit dieser spektakulären Aktion protestieren sie gegen die rückwärtsgerichteten Debatten um den Anlagenring und fordern stattdessen eine deutlich weitergehende Veränderung der Stadt: Mehr für Fußgänger*innen, Barrierefreiheit, Fahrradachsen auch in alle Stadtteile und das Umland sowie den zügigen Start der Planung für Straßenbahnstrecken im Stadtgebiet und ins Umland (Regiotram).

 

Erklärung von Beteiligten an der Protestaktion am 14.7.2023 über der A485 in Gießen

 

Jahrzehnte wurde für Autos gebaut und gebaut: Kleine und große Straßen, Parkplätze, Parkhäuser. Schulhöfe und Spielplätze wurden eingezäunt, die Wege von Fußgänger*innen und Radler*innen zerschnitten, Wohn- und Innenstadtquartiere verlärmt und mit Feinstaub verpestet. Doch den Autos reichte das nicht. Illegal parken sie ganz oder teilweise auf Gehwegen, stellen Fahrradspuren und Ladezonen zu, terrorisieren als Elterntaxis all die, die den Autowahnsinn nicht mitmachen.

 

Und jetzt, als nach Jahrzehnten zum ersten Mal überhaupt eine einzige Straße mal gerechter (immer noch 50% für Autos, 50% für den Rest!) aufgeteilt werden soll, geht das große Geheule los. Auch nach dem Umbau des inneren Anlagenrings werden 99% der Verkehrsfläche in Gießen den Autos gehören. Radler*innen müssen selbst auf dieser allerersten relevanten Fahrradachse ständig an Ampeln warten, weil die Autos weiterhin in die Innenstadt fahren und diese verstopfen dürfen.

 

Und trotzdem glauben jetzt Teile der Autofahrenden und ihrer rücksichtslosen bis populistischen Sprachrohre, dass der Verkehrsversuch auf dem Anlagenring eine große Ungerechtigkeit ihnen gegenüber ist. Nein – das ist er nicht. Die dort entstehende Fahrradstraße wird erst dann ihre volle Wirkung entfalten, wäre es immer noch ungerecht all denen gegenüber, deren Stimmen im allgemeinen Verkehrslärm nie beachtet werden: Kinder, Menschen mit Einschränkungen und denen, die bewusst aus Rücksicht auf Umwelt und ihre Mitmenschen auf den Führerschein und ein eigenes Auto verzichten.

 

Die Fahrradstraße auf dem Anlagenring ist nicht zu viel, sondern zu wenig!!!

 

Die dort entstehende Fahrradstraße wird dann benutzt werden, wenn es möglich ist, aus den verschiedenen Stadtteilen, von Bahnhof, Kliniken, Schulen und Unistandorten sowie aus dem Umland gut dorthin zu gelangen. Ein Netz von Fahrradstraßen mit strahlenförmigen Achsen vom Anlagenring nach außen ist hierfür wichtig. Die Zahl von Autodurchlässen über die Fahrradstraße Richtung Innenstadt sollte Stück für Stück verringert werden – bei 4600 Stellplätzen in den Innenstadtparkhäusern und vielen weiteren zum Beispiel auf dem Messeplatz an der Ringallee sind die wenigen öffentlichen Stellplätze in der Innenstadt bedeutungslos, erzeugen aber den intensiven Parksuchverkehr.

 

Mindestens ebenso wichtig ist, die Innenstadt durch ein leistungsfähiges Verkehrssystem mit Stadtteilen und dem Umland zu verbinden. Busse sind dafür allein nicht ausreichend leistungsfähig. Notwendig ist ein Straßenbahnnetz – in Verknüpfung mit den Bahnlinien ins Umland als Regiotram. Außerdem braucht es mehr Platz für Fußgänger*innen, autofreien Zonen um Kindergärten, Grundschulen und anderen sensiblen Orten sowie verstärkte Anstrengungen in Barrierefreiheit.

 

 

 

Die Kritik am Verkehrsversuch ist durchsichtig nur auf das Weiter-so einer autogerechten Stadt ausgerichtet. Dass jetzt populistische Gruppen und Parteien an die schon fast an Sadismus grenzende Argumentation des Gießener Verwaltungsgerichts anknüpfen, es müsse erst tote Radfahrer*innen geben, spricht für sich. Die eindeutige Pro-Auto-Position des Gießener Verwaltungsgerichts war bei den Auseinandersetzungen um den Dannenröder Wald zur Genüge sichtbar. Fast alle Versammlungsverbote der A49-Gegner*innen wurden in Gießen bejaht, auf der nächsten Instanz dann aber gekippt.
Übersehen wird in der aktuellen Debatte auch, dass die Fahrradstraße auf dem Anlagenring seit 2018 als Vorschlag von Verkehrswende-Initiativen durch das online und auf inzwischen über 7000 verteilten Faltplänen veröffentlichte Gesamtverkehrskonzept (giessen-autofrei.siehe.website) breit diskutiert, Anfang 2021 dann aufgrund eines von Bürger*innen initiierten Antrags beschlossen, durch das Ergebnis der auf dieses Thema fixierten Kommunalwahl bestätigt und seitdem immer wieder durch die breite Öffentlichkeitskampagne der Stadt und Aktionen von Initiativen thematisiert wurde. Nur wenig Projekte dürften diese intensive Beteiligungsqualität erreicht haben. Jetzt den sofortigen Abbruch zu fordern, tritt demokratische Prozesse und den Willen vieler Menschen in Gießen mit Füßen.

 

So oder so aber gilt: Wer den mörderischen Autoverkehr verteidigt und dabei Klimaschutz und mehr Radverkehr als irrelevant bezeichnet, ist nicht auf der Höhe der Zeit, hat weder die Signale aus der Umwelt, noch den Ruf des Verfassungsgerichts gehört. Laut der Studie über notwendige Maßnahmen zur Klimaneutralität der Stadt bis 2035, die auch mit Stimmen von CDU, Freien Wählern und FDP beschlossen wurde, muss der Autoverkehr in Gießen von jetzt 81 auf 20 Prozent gesenkt werden. Das ist nur möglich, wenn Fläche umverteilt und so Menschen zum Wechsel von Auto auf Fuß, Fahrrad oder ÖPNV gebracht werden. Das Gegenteil ist zurzeit der Fall: „Die Zahl der E-Autos im Landkreis Gießen steigt deutlich“, titelte die Gießener Allgemeine vor wenigen Tagen.
Die absurden Interviews jetzt in einigen Medien, wo gesunde Menschen darüber klagen, dass sich ihre Wege von wenigen Hundert Metern jetzt verlängern, zeigen nur, dass Veränderungen notwendig sind, damit genau diese begreifen, dass für solche Wege das die Nutzung des Autos völlig inakzeptabel ist. Der Umbau des Anlagenrings soll zu weniger Autofahrten führen – und zu mehr Fahrradfahren. Das als Ziel muss ausreichen. Beim Neu- und Ausbau von Autobahnen wird auch nur mit dem zu erwartenden höheren Aufkommen des Autoverkehrs argumentiert – und da reicht es politisch und rechtlich immer.

 

 

 

Am morgigen Samstag, 15.7., soll die Forderung nach weiterem Voranschreiten bei Klimaschutz und Verkehrswende statt ängstlichem Beharren oder gar Rückbau auf einem unerträglichen Zustand auf einer Raddemo laut verkündet werden. Start ist um 14 Uhr auf dem Gießener Kirchenplatz. Die Demo endet auf dem Straßenfest von FridaysForFuture, ebenfalls auf dem Kirchenplatz.

 

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Ergänzungen

Die ganze Aktion im Zeitraffer - und weitere Aktionsberichte aus der Auseinandersetzung um die Verkehrswende in Gießen in der vergangenen Woche: https://youtu.be/fU6ywDhhOYQ