Nicaragua - Venezuela - Kuba: Drei komplett unterschiedliche Fälle

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In den aktuellen Nachrichten werden gegenwärtig weltweit die politischen Situationen in Nicaragua, Venezuela und Kuba häufig über einen Kamm geschert. In diesem Artikel wird versucht, wichtige Unterschiede in Bezug auf die internen und internationalen Verhältnissen dieser drei Länder zu benennen und die daraus folgenden Schlussfolgerungen aufzuzeigen.

Matthias Schindler (27.01.2019)

 

In den Nachrichten der Welt wird in diesen Tagen immer wieder die Gleichung aufgestellt: Nicaragua = Venezuela = Kuba. Diese Gleichung wird von Trump und den reaktionärsten US-amerikanischen Fernsehstationen verbreitet, ebenso wie von russischen Medien, von den regierungstreuen Sendern dieser drei Länder, von weiten Teilen der Opposition in Nicaragua, von der EU, von einigen Gruppen der radikalen Linken, von vielen normalen Menschen … nahezu von allen, die sich aktuell in irgendeiner Weise  zu diesen Ländern äußern. Muss es nicht zu denken geben, dass es hier einen regionalen Konfliktbereich gibt, bei dem sich weltweit, von rechts bis links, von Nord bis Süd, ob in der Regierung oder in der Opposition, ob ein multinationaler Medienkonzern oder eine kleine radikale linke Internetplattform, fast alle Akteure und Kommentatoren sich einig sind, was dort passiert?

Bei näherer Betrachtung der Situation wird deutlich, dass die Gleichstellung dieser drei Länder in den nationalen und internationalen Medien nicht auf einer genauen Untersuchung der jeweiligen Verhältnisse basiert, sondern das Resultat von klar erkennbaren Interessen auf allen Seiten ist, in deren Dienst dann die jeweiligen Nachrichten verbreitet werden. Im Folgenden seien daher einige grundsätzliche Unterschiede zwischen diesen Ländern benannt:

 

Nicaragua

In Nicaragua herrscht mit dem Präsidentenpaar Ortega-Murillo an der Spitze ein diktatorisches Regime, das nach dem Motto von Zuckerbrot und Peitsche einige soziale Verbesserungen für die Armen gebracht und dafür die gesamte politische und gesellschaftliche Macht in den Händen Ortegas konzentriert hat. Dieses System wurde von dem Anfang Januar zurückgetretenen Mitglied des Obersten Gerichtshofes, Rafael Solís, als eine "Diktatur" gekennzeichnet, in der "kein Recht mehr respektiert wird". Gleichzeitig haben sich die Präsidentenfamilie und ihre engsten Freunde hunderte von Millionen Dollar illegal angeeignet. Es herrschte bestes Einvernehmen der Regierung mit dem großen Unternehmertum des Landes, mit der katholischen Kirche, mit dem IWF und der Weltbank, ja selbst mit der Administration der USA. Als jedoch einige Jugendliche und Rentner im April 2018 auf die Straße gingen, um weit überwiegend friedlich für den Schutz eines Naturreservates und gegen eine Rentenkürzung zu demonstrieren, zeigte das Regime sein wahres Gesicht: Es ging mit militärischer Gewalt und mit offener Unterstützung durch illegale, maskierte und mit Kriegswaffen ausgerüstete Paramilitärs gegen die eigene Bevölkerung vor, was mindestens 325 Tote, mindestens 500 politische Gefangene und über 40.000 Flüchtlinge, die im Nachbarland Costa Rica Sicherheit suchten, zur Folge hatte. In der politischen Rhetorik beruft sich die Regierung auf die Sandinistische Revolution von 1979 bis 1990, die den Diktator Somoza im bewaffneten Kampf gestürzt hatte. Daniel Ortega war einer der Führer dieser Revolution, deren Versuch, einen selbstbestimmten Weg mit demokratisch-sozialistischer Orientierung zu gehen, jedoch durch eigene Fehler, vor allem aber durch eine massive politische, wirtschaftliche und auch militärische Intervention der USA, zerstört wurde. Das aktuelle Regime hat aber nichts mehr mit dem damaligen Modell einer pluralistischen, offenen und demokratischen Gesellschaft zu tun, die von der großen Mehrheit der Bevölkerung enthusiastisch unterstützt wurde. Nicaragua ist ein kapitalistisches Land, dessen Wirtschaftspolitik sich an den neoliberalen Vorgaben des IWF orientiert und das (parallel zur privaten Bereicherung der korrupten Oberschicht) auf das neo-extraktivistische Modell setzt, nach dem die natürlichen Reichtümer des Landes exportiert werden, um damit Infrastrukturmaßnahmen und soziale Projekte zu finanzieren.

 

Venezuela

Im Jahr 1998 wurde Hugo Chávez zum Präsidenten Venezuelas gewählt. Er vertrat das Konzept des "Sozialismus des 21. Jahrhunderts", das u.a. bedeutete, an Stelle des bewaffneten Kampfes auf Wahlen zu orientieren, um die Vorherrschaft der korrupten Oligarchie des Landes zu brechen. Dabei sollten die Erlöse des damals hohen Weltmarktpreises von Rohöl für Sozialprogramme im eigenen Lande, aber auch zur Unterstützung anderer Länder Lateinamerikas genutzt werden. Seit diesem Moment ist die Oligarchie Venezuelas zu einer Politik der Fundamentalopposition gegenüber Chávez übergegangen, hat die Ölproduktion massiv sabotiert und schließlich 2002 sogar einen von den USA mitorganisierten und vor allem auch von Spanien massiv unterstützen Militärputsch gegen Hugo Chávez unternommen. Nur durch die spontane und massive Mobilisierung der Bevölkerung konnte er wieder befreit werden und seine Präsidentschaft weiter ausüben. Zumindest wichtige Teile der heutigen Opposition gegen Präsident Maduro sind nach wie vor mit den Putschisten von damals verbunden. Als die Opposition bei den Wahlen von 2015 die Mehrheit der Parlamentssitze gewann, ging sie sofort dazu über, auch die Macht des Präsidenten in Frage zu stellen, anstatt nach einem gemeinsamen Weg im Interesse des Landes zu suchen. Präsident Maduro antwortete mit bürokratischen Schritten und beraumte schließlich stark umstrittene Wahlen zu einer Konstituierenden Versammlung im Jahr 2017 an, an denen die Opposition nicht teilnahm und die er daher mit seinem Wahlblock leicht gewann. Aktuell stehen sich zwei Machtblöcke gegenüber: die von der Opposition geführte und politisch mit der alten Oligarchie und den USA verbundene Nationalversammlung auf der einen Seite, die Konstituierende Versammlung und Präsident Maduro, die sich auf eine starke Anhängerschaft in den ärmeren Volksschichten stützen, auf der anderen. Die Selbsternennung von Juan Guaidó, den bis vor einer Woche noch niemand kannte, zum Interimspräsidenten wird die Situation weiter verschärfen. Die Anerkennung dieses Putsches durch die USA und viele weitere v.a. lateinamerikanische Staaten (Brasilien, Kolumbien, Peru …), die sich nicht gerade durch ein hohes Maß an Rechtstaatlichkeit und Demokratie auszeichnen, gießt zusätzliches Öl ins Feuer.

 

Kuba

Im Gegensatz zu Venezuela und Nicaragua ist Kuba zweifelsohne ein Land, in dem nicht das Kapital oder irgendwelche internationalen Konzerne herrschen, sondern dessen Regierung versucht, durch eine geplante Wirtschaft die Bedürfnisse des Volkes zu befriedigen und soziale Gleichheit zu verwirklichen. Die politischen Freiheiten einschließlich der Pressefreiheit lassen in Kuba ohne Zweifel zu wünschen übrig. Und die politische Unterstützung Castros für den Einmarsch sowjetischer Truppen 1968 in die Tschechoslowakei, um den Prager Frühling zu zerschlagen, ist in keiner Weise zu rechtfertigen. Aber in der 60-jährigen Revolutionsgeschichte Kubas ist es bisher nicht zu derart umfassenden Repressionsmaßnahmen gekommen, wie sie jüngst in Nicaragua sichtbar wurden. Es muss auch deutlich gesagt werden, dass die liberalen parlamentarischen Demokratien in vielerlei Hinsicht nicht ihre Freiheitsversprechen erfüllen, angefangen mit der millionenhaften Massenarmut und -arbeitslosigkeit, die jede gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verunmöglichen. Es sei hier weiterhin an folgende denkwürdige Episode erinnert: Der auf Kuba ausgerichtete CIA-Sender Radio Martí verbreitete im August 1994 die Falschmeldung, dass diverse Schiffe auf dem Weg nach Havanna waren, um Leute in die USA zu bringen, die das Land verlassen wollten. Als jedoch keine Schiffe zu sehen waren, bildeten sich Protestversammlungen, die drohten, in Gewalttätigkeiten auszuarten. Fidel Castro ordnete daraufhin an, dass Polizei- und Feuerwehrkräfte in ihren Standorten verbleiben sollten, und begab sich – nur begleitet von zwei Leibwächtern – zu den Demonstranten, um mit ihnen über die Situation zu sprechen, wodurch es gelang, die aufgebrachte Stimmung wieder zu beruhigen. Welch Unterschied zur Antwort Ortegas auf die kleinen und friedlichen Demonstrationen vom April in Nicaragua!

 

Zusammenfassung

Kuba ist ein Land, das auf seinem Weg in Richtung Sozialismus irgendwo stecken geblieben ist und dem es vor allem an politischen Freiheiten mangelt. Aber es gibt keine gewaltsame oder gar militärische Unterdrückung des Volkes. Nahezu alle, die sich gerne als Verteidiger der Demokratie in Kuba in Szene setzen, wollen in Wirklichkeit einzig und allein, dass das Kapital wieder die Geschäfte in jenem Land übernimmt.

Venezuela ist nach wie vor ein kapitalistisches Land, das sich wirtschaftspolitisch am neo-extraktivistischen Modell orientiert. Es ist unter Maduro und durch den Verfall des Rohölpreises auf dem Weltmarkt in eine Sackgasse geraten, aus der es nur herauskommen kann, wenn es gelingt, den staatlichen Institutionen wieder eine demokratische Legitimität zu verleihen. Der Putsch Guaidós und der hinter ihm stehenden USA zeigt, dass diese hieran nicht das geringste Interesse haben, sondern jetzt eine Chance wittern, die traditionelle Oligarchie des Landes wieder an ihren angestammten Platz von Macht und Reichtum zu führen. Als amtierender Präsident hat Maduro die Pflicht, das Land wieder zu demokratisieren, selbst wenn das bedeuten sollte, die Regierungsmacht zu verlieren.

In Nicaragua herrscht eine Diktatur, die zwar noch die alten Parolen von Sozialismus und Sandinismus formelhaft vor sich herträgt, aber in Wahrheit zu einer durch und durch korrupten Familiendiktatur verkommen ist, die bereits deutliche Brüche in ihrem inneren Gefüge zeigt. Ihr steht eine amorphe, vielfältige demokratische Bewegung gegenüber, die sich hauptsächlich darin einig ist, dass das mörderische Regime Ortega-Murillo beendet werden muss und dass endlich "Gerechtigkeit" und "Demokratie" im Lande durchgesetzt werden.

Wenn die politischen Führungen Nicaraguas, Venezuelas und Kubas sich heute demonstrativ gegenseitig unterstützen, dann nicht deshalb, weil sie nicht wüssten, dass ihre Länder sehr unterschiedlich konstituiert sind, sondern weil sie auf Grund ihrer internationalen Isolierung nach Bündnispartnern suchen und weil sie so vermeiden, in eine selbstkritische Reflexion über die inneren Zustände in ihren Ländern einzutreten. Auch Russland verfolgt keine demokratischen Ideale in der Welt, sondern ist darum bemüht, seine machtpolitischen Interessen zu verteidigen. Die Reaktionäre und die mit ihnen verbundenen Medienkonzerne der USA haben sowieso nur ihre hegemonialen Ansprüche auf die Weltherrschaft im Sinn, für die alles vernichtet werden muss, was ihnen nicht bedingungslose Gefolgschaft leistet. Für viele Oppositionelle in Nicaragua sind die in den letzten zehn Jahren nach Nicaragua geflossenen Öl-Dollars aus Venezuela direkt mit dafür verantwortlich, dass sich das Regime Ortega-Murillo derart fest etablieren konnte, und sie sehen sich daher in einer Reihe mit der Opposition in Venezuela. Für diese wiederum sind die USA ihre natürlichen Bündnispartner, auf die sie schon seit jeher ihre Hoffnung gesetzt hat. Und für einige Sektoren der radikalen Linke ist es – genau so wie für viele nicht besonders informierte Menschen – manchmal viel einfacher, sich einer simplen Schwarz-Weiß-Malerei zu widmen, als die Wirklichkeit, in all ihrer Komplexität und auch Widersprüchlichkeit, differenziert und kritisch wahrzunehmen. All diese Interessen und Absichten lassen sich am leichtesten verfolgen, wenn man zu der vereinfachten Formel greift, die Kuba, Venezuela und Nicaragua über einen Kamm schert.

Was alle drei Länder eint, sind die massiven Versuche der USA, ihre Regierungen zu Fall zu bringen. Aber die Kontexte, in denen dies passiert, sind äußerst unterschiedlich.

Daraus ergibt sich einerseits die Notwendigkeit, die historische US-Intervention gegen diese Länder ohne Wenn und Aber zurückzuweisen, ohne dabei auf der anderen Seite die aktuell herrschenden Regimes in den drei Ländern zu beschönigen. Kuba verdient es trotz aller Einschränkungen immer noch, in kritischer Weise politisch unterstützt zu werden. Von der Regierung Maduro muss gefordert werden, zu den demokratischen Verhältnissen entsprechend der Verfassung von 1999 zurückzukehren. Aber in Nicaragua muss ein Weg gefunden werden, die diktatorische Herrschaft Ortegas zu beenden und einen neuen gesellschaftlichen Versuch zu unternehmen, demokratische Verhältnisse aufzubauen.

Politische Vereinfachungen sind in einer immer komplizierter werden Welt nicht besonders hilfreich. Nur wer sich der Realität, so wie sie nun einmal ist, stellt, kann auch zu den richtigen Schlussfolgerungen kommen.

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