Die Bewegung der „Gelbwesten“ in Frankreich - Volksaufstand und demokratische Illusionen

Event Datum: 
Sonntag, Februar 3, 2019 - 15:00
Stadt/Region: 
Ein Genosse aus Frankreich berichtet (de/it/fr): Sie entstanden im November letzten Jahres scheinbar aus dem Nichts und prägen auch im neuen Jahr das Geschehen auf den Straßen und Plätzen der größeren Städte Frankreichs: Die Demonstrationen und Blockaden der Gelbwesten. Militante Auseinandersetzungen sowie die Blockaden von Straßen, Innenstädten und einzelner Unternehmen durch hunderttausende Demonstranten haben die französische Regierung und ihre „Ordnungskräfte“ in Schwierigkeiten gebracht und wurden für viele sich als links verstehende Menschen zum positiven Bezugspunkt. In der Bewegung selber gibt es ein Sammelsurium an recht unterschiedlichen Positionen; außerdem setzen sich immer mehr Forderungen nach demokratischer Teilhabe mittels Bürgerreferenden (RIC – référendum d’initiative citoyenne) durch. Was hat es also mit den Gelbwesten auf sich?

Soziale Revolte

Nach den Demonstrationen gegen die Arbeitsmarktreformen, den Streiks der Eisenbahner gegen die geplante Privatisierung und der Bewegung der Schüler und Studierenden, erreichten die Proteste gegen die sozialen Zumutungen der Macron-Regierung mit den Aktionen der „Gelbwesten“ einen neuen Höhepunkt. Der Auslöser waren die spontan über die sozialen Medien organisierten Proteste gegen die als ökologische Maßnahme getarnte Erhöhung der Mineralölsteuer. Initiiert wurden sie v.a. von der auf eigene Verkehrsmittel angewiesenen und nicht nur infrastrukturell abgehängten ländlichen Bevölkerung. Allerdings gewann die kämpferische Bewegung sehr schnell an Dynamik und wurde zum Katalysator für eine umfassende soziale Bewegung von Arbeiter_innen, Arbeitslosen, Rentnern, Studenten bis zu Kleinunternehmern. Die Bewegung ist also nicht aus dem Nichts entstanden sondern Ausdruck der gesellschaftlichen Widersprüche der kapitalistischen Klassengesellschaft: der steigende Druck und die steigende Ausbeutung auf Erwerbslose und Beschäftigte einerseits und das von Abstiegsängsten geprägte und in die Proletarisierung geworfene Kleinbürgertum (Gutverdienende und kleine Unternehmer) andererseits. Somit ist sie von ihrer sozialen Zusammensetzung her eine klassenübergreifende Bewegung – ein Volksaufstand. Dieser Charakter drückt sich auch in den dementsprechend breiten Forderungen aus, von Steuererleichterungen über die Erhöhung des Mindestlohnes bis zur Beseitigung universitärer Zugangsbeschränkungen aber auch nach der Unterstützung von Kleinhändlern und der Verteidigung der französischen Industrie. Ebenfalls in den Kampfmethoden wird dieser Charakter deutlich: statt das Kapital dort anzugreifen, wo es besonders weh tut, in der Profitproduktion, am Arbeitsplatz, durch unbefristete Streiks und Blockaden des Warenverkehrs – also durch originär proletarische Kampfmethoden – beschränken sich die Gelbwesten weitestgehend auf „Samstagsdemonstrationen“.

Trotzdem stellt die Bewegung für die Regierenden zunächst ein Problem dar. Sie entstand in dieser Form spontan und ignorierte den vorgegebenen legalen Rahmen – und ist somit erst einmal schwer kontrollierbar, weshalb von staatlicher Seite auch die üblichen Geschütze aufgefahren werden, um sie zu neutralisieren.

Vor den ersten Aktionen hatte der französische Premier Èdouard Philippe den Blockierern mit mehreren tausend Euro Geldstrafe und bis zu 2 Jahren Gefängnis gedroht. Dreihunderttausend Aktivist_innen ließen sich jedoch nicht einschüchtern. Und als es eine Woche später bei den von der Polizei nicht genehmigten Demonstrationen in Paris und anderen Städten zu schweren Ausschreitungen kam, erklärten trotzdem weit über die Hälfte der Franzosen ihre Solidarität mit der Bewegung.

Neben der Repression spielte der Staat von Anfang an die demokratische und antifaschistische Karte gegen die Bewegung: Die Regierungspropaganda versuchte, die Proteste in die rechtsextreme Ecke zu rücken und abgehalfterte Gestalten der 68er-Bewegung wie Cohn-Bendit bemühten sich zu behaupten, dass die Proteste lediglich die Rechtsextremisten stärken würden. Auch in der deutschen Linkspartei schloss man sich der Hetze an und ihr Fraktionsvize Fabio De Masi forderte die Isolierung von „Rechten und Gewalttätern“, der Parteivorsitzende Bernd Riexinger warnte vor einer angeblichen „Verbrüderung linker und rechter Gesinnung“ und die „Aufstehen“-Initiatorin Sarah Wagenknecht drückte – bevor sie sich Aufmerksamkeit erheischend in gelber Warnweste vor dem Kanzleramt aufstellte – ihr Bedauern aus, „dass der Protest durch Gewalt unterlaufen wurde“ (ND vom 6.12.18).

Last but not least wurde auch die Rolle der offiziellen Gewerkschaften als staatliches Befriedigungs- und Kontrollinstrument deutlich. Dem Wunsch des in die Defensive geratenen Macron an die Gewerkschaften, die „Gelbwesten“ zu Besonnenheit, Gewaltverzicht und Gesprächsbereitschaft aufzurufen, wurde umgehend nachgekommen. In einer gemeinsamen Erklärung der großen Gewerkschaftsverbände, initiiert von der CFDT und unterstützt von der CGT, wurde der „legitime Zorn“ der Bewegung aufgegriffen, um die „Gewalt, mit denen die Forderungen zum Ausdruck gebracht werden“ zu verurteilten und auf Verhandlungen mit der „dialogbereiten Regierung“ orientiert. Wenn es darum geht, der Gefahr entgegenzutreten, dass der Kampf in eine proletarische Bewegung mündet, finden auch „neoliberale Erneuerer“ und „sozialstaatliche Ordnungsgaranten“ zusammen!

Demokratische Volksbewegung

Die Bewegung der „Gelbwesten“ ist allerdings wie bereits geschrieben eine klassenübergreifende Bewegung, eine „Volksbewegung“, die sowohl Lohnabhängige als auch Selbständige und Kleinunternehmer erfasst und in der die demokratischen Forderungen auf fruchtbaren Boden fallen. Symbolisch dafür steht die wehende Trikolore über den Köpfen vieler Aktivist_innen, mit der in historischem Unverständnis an die (bürgerliche) französische Revolution von 1789 angeknüpft werden soll. Sie ist das symbolische Tor für die immer häufiger propagierte Forderung des Bürgerreferendums (Référendum d'initiative citoyenne – RIC) mit der Gesetze annuliert und Politiker abberufen werden können. Und auch Premier Phillippe, der vor den ersten Blockaden noch mit Geldstrafen und Gefängnis drohte, erklärte: „Das Referendum kann ein gutes Instrument in einer Demokratie sein...“

Trotz der punktuell beachtlichen Brutalität der polizeilichen Repression, geht die erfahrene französische Bourgeoisie vor allem den Weg der demokratischen Neutralisierung. Neben geringen ökonomischen Zugeständnissen, wie der (temporären) Rücknahme der Steuererhöhung und einer finanziellen Unterstützung der Mindestlohnbezieher von 100 Euro pro Monat (bei gleichzeitiger strikter Weigerung einer zusätzlichen Belastung der Unternehmer), reagiert die Macron-Regierung vor allem mit diesem politischen Manöver: Eine „Nationale Kommission für Öffentliche Debatten“ (CNDP) soll in den ersten drei Monaten dieses Jahres landesweite Aussprachen organisieren, deren „Ergebnisse“ dann in der geplanten Parlamentsdebatte über eine Verfassungsänderung einfließen sollen. Und falls diese staatsbürgerliche Individualisierung des Wahlvolkes noch nicht ausreichen sollte, eine systemkonforme Debatte zu organisieren, wird diese auch gleich auf vier (klassenlose) Themen beschränkt: Steuern, ökologischer Wandel, Demokratie und Staatsorganisation und natürlich... Migration!

Nicht nur in ihrer Demokratie-Affinität, auch in den auf Demonstrationen und Straßenblockaden fokussierten Kampfformen zeigen dich die Grenzen der gelbwestigen „Volksbewegung“. Von unmittelbaren militanten Blitzen abgesehen, die von den anarchistisch-autonomen „Insurrektionisten“ maßlos überschätzt werden, muss sich eine solche Bewegung in Forderungen an den gesetzgebenden Staat erschöpfen, da ihr die Homogenität und soziale Kraft fehlt, die stattdessen dem Kampf der Arbeiterklasse immanent ist: Die einheitliche Aktion im Zentrum der kapitalistischen Mehrwertproduktion – die Organisierung und der Streik am Arbeitsplatz. Hier liegt auch die größte Angst der französischen Bourgeoisie: dass der Funken überspringen könnte und somit auf einmal originäre Arbeiterkämpfe auf der Tagesordnung stehen. So wurde Anfang Dezember z.B. auf eine Streikankündigung von LKW-Fahrern mit einer sofortigen Erfüllung derer Forderungen reagiert, noch bevor diese überhaupt in den Ausstand traten.

Proletarischer Klassenkampf

Die ganze Widersprüchlichkeit der Bewegung der „Gelbwesten“ liegt darin, dass sie einerseits Ausdruck der tiefen proletarischen Unzufriedenheit ist, diese aber in einem klassenübergreifenden Terrain gefangen hält, welches zum Teil das Proletariat aber vor allem die Mittelklassen umfasst. Es besteht eine innere Logik zwischen den sozialpolitischen Forderungen der Bewegung an den kapitalistischen Staat und den plebiszitären Konzepten zur demokratischen Organisierung desselben (wie sie im RIC zum Ausdruck kommen). Demgegenüber setzen wir Kommunisten auf den konsequenten Klassenkampf, der die Zerschlagung der bürgerlichen Macht und die Errichtung der Diktatur des Proletariats als Übergang zu einer klassenlosen Gesellschaft (Marx) impliziert. Natürlich ist der lange und schwierige Weg der Wiederaufnahme des Klassenkampfes durch die Arbeiter_innenklasse von vielen Widersprüchen und Misserfolgen geprägt und findet nicht immer in einer „reinen“ Form von Massenstreiks statt. Die Tatsache, dass viele Lohnabhängige entweder Reproduktionsarbeit leisten (z.B. Mütter und Väter), keinen Job haben oder an ihrem Arbeitsplatz isoliert sind, lässt oftmals nichts anderes zu, als einfach auf die Straße zu gehen, und sei es auch im Rahmen der Bewegung der „Gelbwesten“. Die Aufgabe der Kommunist_innen kann allerdings nicht darin liegen, nur diesen Kampf zu unterstützen und blinde Bewegungstümlerei zu betreiben. Wir müssen auf einen Kampf orientieren, der sich nicht im samstäglichen Protest erschöpft, in dessen Mittelpunkt der klassische Streik steht, der aber ins Territorium ausgeweitet alle Methoden umfassen muss, die dem proletarischen Kampf eigen sind (von Streikposten bis Kampfkomitees, von sozialer Unterstützung, Blockaden des Warenverkehrs, Aktionen im Stadtteil bis zur zielgerichteten militanten Aktion). Dies erfordert die Autonomie des Proletariats als Klasse im Gegensatz zur oberflächlichen „Volksbewegung“, bei gleichzeitiger maximaler Ausnutzung ihrer kämpferischen Dynamik. Da wir als Kommunistinnen und Kommunisten aufgrund jahrhundertelanger Erfahrungen wissen, dass der Proteste wie das der „Gelbwesten“ ein Strohfeuer bleiben wird und früher oder später sich die bürgerliche Hegemonie dort wahrscheinlich auch parteiförmig durchsetzt (egal ob „populistisch“ oder „reformistisch“ – auf jeden Fall antiproletarisch), müssen wir für die eigenständige Organisierung der ArbeiterInnen eintreten und den klassenübergreifenden demokratischen Manövern entgegentreten.

3.2.2019, 15h

K9, Kinzigstraße 9, Berlin-Friedrichshain

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