"Auge um Auge – Eine Buchbesprechung über die Sicherungsverwahrung in der Schweiz"

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rezension

 

 

 

Die ehemalige Redaktionsleiterin der Schweizer Wochenzeitung WOZ, Susan Boos, veröffentlichte im vergangenen Jahr ein sehr lesenswertes Buch über die Schweizer Variante der sogenannten Sicherungsverwahrung (SV und in der Schweiz bloss "Verwahrung" genannt).

 

 

 

Boos steigt tief hinab in die Kanalisation des Schweizer Straf- und Justizsystems, dort wo selten ein Lichtstrahl hingelangt, geht es doch vielfach um Menschen, die sich in besonders schwerwiegender und verwerflicher Weise gemeinschaftszerstörend verhalten haben.

 

 

 

So macht uns die Autorin schon auf den ersten der rund 250 Seiten mit Peter Vogt bekannt, einem seit 25 Jahren verwahrten Insassen, der sein Recht auf assistierten Suizid durchsetzen möchte: Vogt hat Mädchen und Frauen gewürgt und vergewaltigt! Auf Seite 13 begegnet uns Beat Meier, ein pädokrimineller Straftäter, der über ein Vierteljahrhundert inhaftiert ist. Boos schildert nüchtern und sachlich die jeweiligen strafrechtlichen Hintergründe, wie auch Ausschnitte der Biografien der Verwahrten. Sie berichtet, wie sie als Journalistin von Verwahrten angerufen wurde, ihr Unterlagen zugeschickt wurden und sie sich zunehmend für diesen Bereich des Strafrechts zu interessieren begann.

 

 

 

Im 3. Kapitel, ab Seite 23, referiert die Autorin ausführlich einen der wohl spektakulärsten Mordfälle der letzten Jahrzehnte, als nämlich 1993 der schon wegen mehrfachen Mordes an Frauen einsitzende Hauert bei einem Ausgang aus der Haftanstalt, er war auf dem Weg zu seinem Therapeuten, eine 20-jährige Pfadfinderführerin entführte, ihr sexualisierte Gewalt antat und dann ermordete. In Folge diese Verbrechens und einer weiteren Tat, kam es zu einer Gesetzesinitiative, die schiesslich in einem eigenen Artikel der Bundesverfassung mündete und seitdem die "lebenslange Verwahrung für nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter" vorschreibt.

 

 

 

Alle Verwahrten, gleich ob sie wegen schwerer oder vielfach auch wesentlich weniger schweren Taten in die Anstalt gelangt sind, stehen vor dem gleichen Dilemma: solange ihnen eine ungünstige Sozialprognose attestiert wird, erfolgt keine Freilassung. Aber selbst wenn es dann mal Therapeut*innenn oder Gutachter*innen gibt, die sich optimistischer äussern, günstige Veränderungsprozess diagnostizieren, treffen diese auf erhebliche Widerstände im Justizsystem. Es wird solange nach Schwachpunkten gesucht, bis doch eine Fortdauer der Inhaftierung möglich ist; nicht nur die Untergebrachten resignieren irgendwann, sondern mitunter auch Beschäftigte, die dann lieber ihren Job kündigen, als weiter mit dem Strom zu schwimmen. Auch hierüber informiert das Buch "Auge um Auge".

 

 

 

Den Gegenpol zu der Perspektive bilden die Gespräche der Journalistin mit Vertretern des Justizapparates: allen voran mit dem weit über die Schweizer Grenzen hinaus bekannte Psychiater Frank Urbaniok, ehemals Leiter des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes des Kantons Zürich. Er kritisiert die Diagnosehörigkeit der forensischen Psychiatrie, wo verschiedene Psychiater*innen bei Begutachtungen ein und desselben Falles oftmal zu ganz unterschiedlichen Diagnosen kämen. Diesen stellt er das aus seiner Sicht wesentlich hilfreichere und sicherere "forensisch operationalisierte Therapie-Risiko-Evaluationssystem" (kurz: Fortres) gegenüber. Er hat es selbst entwickelt und es basiert auf einer detaillierten Auswertung der Taten und Akten, umfasst dutzende von Items, welche unterschiedlich gewichtet werden. Eine Form von Daten-Fetischismus, um nicht zu sagen Totalitarismus, die auch in der Fachwelt nicht ohne Widerspruch blieb.

 

 

 

In einem Interview mit dem Berner Strafrechtsprofessor Martino Mora lotet Boos die Grenzen des "Präventionsstrafrechts" aus. Was meint "Präventionsstrafrecht"? Strafen sollen, so die Theorie, begangenes Unrecht sühnen, sind also repressiv und vergangenheitsbezogen. Mona macht geltend, dass schon seit Jahrtausenden der Präventionsgedanke massgeblich sei für Strafen. Professor Mona fordert einerseits ein deutliches Vergeltungsstrafrecht, einschliesslich der weitestgehenden Abschaffung der Bewährungsstrafen, andererseits ist er ein lautstarker Kritiker des vorbeugenden Wegsperrens von Menschen und antwortet auf die Feststellung, man könne doch nicht alle (aus der Verwahrung) rauslassen: "Doch, lasst sie raus – nachdem sie ihre verdiente und angemessene Strafe abgesessen haben!" Hier dürfte sich Mona vermutlich einig sein mit der Dortmunder Professorin Dr. Graebsch (von dieser gibt es zur Deutschen SV einen hörenswertens Vortrag als Podcast auf https://www.rdl.de/beitrag/wegsperren-und-zwar-f-r-immer), welche ebenfalls auf die letztlich nicht leistbare zuverlässige Vorhersagbarkeit künftigen strafbaren Verhaltens und die menschenrechtlich prekäre Lage von Sicherungsverwahrten hinweist.

 

 

 

Wohin das Präventivrecht führt, konnte man letztes Jahr in München sehen, wo Aktivist*innen der "Letzten Generation" für Wochen in Haft verschwanden, um, so die staatliche Erzählung, zu verhindern, dass sie sich an Strassen ankleben und so den Verkehr behindern.

 

 

 

Die Autorin besuchte im Zuge ihrer Recherchen in Deutschland einen mittlerweilen pensionierten Bewährungshelfer, der zuvor Jahre in Freiburg (Breisgau) im Strafvollzug tätig war: Peter Asprion. Aktuell sitzen in der BRD rund 600 Menschen in der SV, darunter zwei Frauen. Peter Asprion zieht im Gespräch mit Susan Boos ein vernichtendes Fazit hinsichtlich der SV. Da er ein Gespräch mit einem seiner ehemaligen Klienten vermittelt, erfahren wir im Anschluss im Kapitel "Herr Roser lädt ein" von einem ehemaligen Verwahrten, der 26 Jahre einsass (davon 22 in der SV), wie er nach seiner Freilassung 2010 für drei Jahre Tag und Nacht von fünf Polizeibediensteten bewacht wurde, wie sich das anfühlte und er dennoch -oder trotzem- es schaffte sich in die Gesellschaft zu integrieren.

 

 

 

Von Süddeutschland geht es nach Niedersachsen. Dort besucht die Autorin die Abteilung SV in Rosdorf, spricht mit Personal und Insassen, um anschliessend nach Berlin weiterzureisen, wo sie mit einem der bekanntesten forensischen Psychiater, Prof. Dr. Kröber zum Gespräch verabredet ist; und auch er betont, wie unsicher die scheinbar so eindeutigen Gefährlichkeitsprognosen sind und man letzlich kaum zuverlässig einen Rückfall vorhersagen könne, weshalb er dem oben erwähnten Konzept seines Schweizer Kollegen Urbaniok nicht viel abgewinnen könne.

 

 

 

Boos führt uns weiter in die Niederlande, in das Psychiatriegefängis in Zeeland wo 90 Männer und drei Frauen dauerhaft verwahrt werden und berichtet wie dort die Bewohnenden untergebracht sind: nachts zwar weggeschlossen in ihren Zellen, aber tagsüber auf einem von einem Sicherheitszaun umgebenen Gelände, auf dem sie und auch Besuchende sich frei bewegen können. Von Zeeland geht es weiter nach Stein in Österreich. Im Jahr 2020 lebten von 8600 Häftlingen in Österreich über 1.400 in der Verwahrung (hier sei auf das Buch "Massnahmevollzug-Menschenrechte, Weggesperrt und Zwangsbehandelt", herausgegeben von Markus Drechsler, erschienen 2016 im österreichischen Mandelbaum Verlag, hingewiesen, welches sich ausführlich der spezifischen Situation dort widmet). Wie menschenrechtlich bedenklich die Unterbringungsbedingungen für Verwahrte in Österreich sind, wird von ihm sorgfältig herausgearbeitet.

 

 

 

Bei allen Gemeinsamkeiten, insbesondere was die Fragilität der Sozialprognosen und die immer häufigere Anordnung von Verwahrung anbetrifft, treten auch die Unterschiede zwischen Schweiz, Österreich, Niederlande und Deutschland deutlich hervor. Denn wo in Deutschland manche Angeklagte nach ihrem Urteil in der forensischen Psychiatrie landen (aktuell sind das rund 6.000 Menschen), endet in anderen Ländern das Leben in psychiatrischen Abteilen regulärer Strafanstalten, mit dem entsprechend strengen Strafvollzugregime. Wo in Deutschland und der Schweiz Anwält*innen vom Staat bezahlt und den Betroffenen beigeordnet werden für deren gerichtlichen Prüfverfahren über die Fortdauer der Verwahrung, müssen die Anwält*innen in Österreich kostenlos arbeiten, die erhalten keinerlei Vergütung!

 

 

 

Besonders spannend finde ich, wenn langjährige Justizmitarbeitende wie Thomas Manhart, ehemals Oberstaatsanwalt und "Chef Justizvollzug", am Ende ihrer Laufbahn ein im Grunde desaströses Fazit ihrer eigenen Arbeit ziehen (Seite 111-118), eigentlich für eine Veränderung des Status quo plädieren, aber augenscheinlich nicht den Mut und die Entschlossenheit aufbringen für diese offensiv(er) einzutreten. Letzlich hat er Jahrzehnte einem System gedient, in dem er Karriere gemacht hat, ohne darin, nun am Abschluss seiner Laufbahn, einen wirklichen Sinn darin zu erkennen. Nicht jeder macht es so, wie der langjährige, in Bayern und Sachsen tätige Gefängnisdirektor Thomas Galli und hängt seinen sicheren Beamtenjob vor dem Rentenalter an den Nagel, um sich für die Abschaffung von Gefängnissen auszusprechen.

 

 

 

Wichtig erscheint mir, dass Susan Boos nicht mit Details über die Vorgeschichte der Protagonisten spart. Es sitzen Menschen in den Gefängnissen die oftmals Schreckliches getan haben. Damit vermeidet Boos jede Form von Sozialromantik. Wie umgehen auch mit diesen Menschen? Denn Gesellschaften welche die Todesstrafe abgeschafft haben, müssen sich fragen lassen, ob ein lebenslanger Ausschluss von Menschen aus der Gemeinschaft letztlich nichts anderes ist als "eine Todesstrafe auf Raten". Und sie müssen sich der Frage stellen, wo dieses immer exzessivere, ja obsessiv anmutende vorbeugende Wegsperren von Menschen enden soll!

 

 

 

Im Anhang dieses Buches finden sich ab S. 224 wichtige Detailinformationen zu den "beliebtesten (forensischen) Prognoseinstrumenten" ebenso wie ein historischer Rückblick in das 19. Jahrhundert und die "Vordenker der heutigen Verwahrung". Sehr hilfreich fand ich selbst die Übersicht der Gesetzestexte ab S. 242, wo die strafrechtlichen Grundlagen über die Verwahrung in Deutschland, aber auch Österreich und selbstredend auch der Schweiz, im Wortlaut zitiert werden.

 

 

 

Susan Boos kommt in ihrem Buch nach 222 Seiten zu dem Resümee, man müsse ernsthaft über Vergeltung sprechen, anstatt der Prävention alles zu opfern. Die Grenzen und die schier unendliche Mängelliste was die Verwahrung angeht, arbeitet sie auf sehr anschauliche Weise heraus. Dennoch handelt es sich bei ihrem Buch nicht um ein Plädoyer zur Abschaffung von Gefängnissen als solche, wofür aber beispielsweise der von ihr besuchte Peter Asprion plädiert, sondern um eines welche die Auswüchse des Präventionsstrafrechts anklagt, und für eine Berichtigung dieser Mängel streitet.

 

 

 

Wer sich über die dunkelsten Winkel, vor allem deren Schwächen, des Präventionsstrafrechts informieren möchte, bekommt hier einen aktuellen und fundierten Einblick!

 

 

 

 

 

Bibliografische Angaben

 

 

 

Autorin: Susan Boos

 

Titel: Auge um Auge – Die Grenzen des präventiven Strafens

 

 

 

ISBN: 978-3-85869-944-2

 

 

 

Verlag: Rotpunktverlag (Schweiz), Preis: 25 Euro

 

 

 

 

 

Rezensent:

 

 

 

Thomas Meyer-Falk

 

z.Zt. JVA (SV)

 

Hermann-Herder-Str. 8

 

D-79104 Freiburg

 

https://freedomforthomas.wordpress.com

 

https://www.freedom-for-thomas.de

 

 

 

 

 

 

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