Nicaragua: Die Repression Daniel Ortegas ist nicht fortschrittlich

Themen: 

Am 23. April 2018 war auf dieser Plattform der Artikel "Neoliberaler Aufstand in Nicaragua" zu lesen. Er bezieht sich auf mehrere Massendemonstrationen gegen die Regierung Ortega-Murillo in Nicaragua. Er schließt mit dem Statement, dass die Ortega-Regierung "für die arbeitende Klasse in Nicaragua ... vorzuziehen" sei. Zum Glück lässt sich die arbeitende Klasse auch in Nicaragua nicht aus irgendwelchen Hinterstübchen heraus vorschreiben, was sie will und was nicht. Auf jeden Fall will sie nicht bevormundet und unterdrückt werden, und das hat sie am 23. April mit über 100.000 Protestierenden in der Hauptstadt Managua deutlich und absolut friedlich zum Ausdruck gebracht. Wer die Repressionspolitik Ortegas unterstützt, wer zu der schamlosen Korruption und privaten Bereicherung der Familie Ortega-Murillo schweigt, wer die Zerstörung jeglicher Grundrechte der Bevölkerung durch Ortega billigt und wer all dies verteidigt, weil die Regierung einige soziale Maßnahmen verkündet, der beteiligt sich mit daran, jeglichen Ansatz einer linken, anti-kapitalistischen oder gar sozialistischen Alternative weiterhin zu diskreditieren. Wer Gerechtigkeit gegen Demokratie ausspielt ist auf dem falschen Weg. Zu den wenigen Stimmen Nicaraguas, die bis heute noch der marxistischen Analyse treu geblieben sind und die sich immer noch für die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft einsetzen, gehören die von Mónica Baltodano und von Onofre Guevara López. Im Folgenden gebe ich die Übersetzungen ihrer Aussagen zur aktuellen Entwicklung weiter.

Mónica Baltodano, eine der Führerinnen des bewaffneten Kampfes zum Sturz der Somoza-Diktatur 1979, erklärte in einem Interview, das vom Infobüro Nicaragua (info@informationsbuero-nicaragua.org) veröffentlicht wurde, zu den jüngsten Massenprotesten in Nicaragua unter anderem:

"Die Protestierenden kommen aus allen politischen Richtungen. Unter ihnen gibt es Sandinist/innen, Liberale, Konservative ... und, wie immer, die meisten ohne parteipolitische Identifikation."

"Es ist höchst wichtig, dass die Kräfte der Linken, der linken Mitte und fortschrittliche Menschen von überall in der Welt verstehen, dass Ortega nicht Chávez ist und Nicaragua nicht Venezuela. Man darf keine mechanische Übertragung der Oppositionsbewegung Venezuelas gegen Maduro auf das vornehmen, was aktuell in Nicaragua passiert. Hier [in Nicaragua] ist es die wirtschaftliche und politische Rechte, mit einem Wort das Kapital, die gemeinsam mit Ortega regieren. Sie vertreten gemeinsam das Modell der privaten-öffentlichen Allianz [private public partnership, ms], dem die internationale Rechte, der IWF, die Weltbank und die großen Finanz-Konsortien applaudieren. [...] Es ist diese Regierung, die das, was noch an kollektivem Besitz ["propiedad social"] in Form von Kooperativen oder Staatsbesitz übrig geblieben war, zerstört hat. Sie hat hinterlässt dieses Land ohne öffentlichen Reichtum."

"Die internationale Linke soll sich nicht täuschen und diese Regierung für links halten. Davon ist überhaupt nicht übrig geblieben."

"Hier sind die Rechte und die Regierung ein und das selbe. Die Banker und Ortega sind die Allianz, die dieses Land seit zehn Jahren regiert. Hier gibt es keine 'imperialistischen Medien', denn fast alle Sender gehören Ortega und seinen Freunden. Der größte Teil der Finanzspritzen der Gringos erhält die Regierung, weil sie die Sicherheitspolitik von Trump unterstützt und Immigranten unterdrückt und angreift. Das große Geld ist hier auf der Seite der Regierung und ihrer Verbündeten. Die Leute, die heute auf die Straße gehen haben keine großen Vermögen, wie beispielsweise die Campesinos, die bereits seit vier Jahren für ihre Interessen [v.a. gegen den interozeanischen Kanal, ms] marschieren."

"Der wichtigste Bündnispartner Ortegas ist das Unternehmertum. Sie regieren zusammen mit ihm, und sie reisen zum Kongress der Vereinigten Staaten, um für die Regierung Ortega zu werben. Ihnen, den Millionären ist es völlig gleichgültig, ob sich die Regierung als links, sozialistisch oder sandinistisch bezeichnet, solange sie nur die Stabilität ihrer schäbigen Interessen garantiert bekommen."

Onofre Guevara López war während der Sandinistischen Revolution in den 1980er Jahren der Chef der politischen Kolumne der sandinistischen Parteizeitung Barricada, er ist von Beruf Schuster und schloss sich bereits mit 14 Jahren den ersten in Nicaragua entstehende Gewerkschaften an, später der kommunistischen Partei und seit dem revolutionären Aufstand der Sandinistischen Befreiungsfront FSLN.

Er ist heute 88 Jahre alt, und er ist seinen sozialistischen und sandinistischen Idealen bis heute treu geblieben. Er ist einer der wenigen Publizisten, die auch aktuell noch unnachgiebig die Souveränität Kubas und Venezuelas gegenüber jeglicher Einmischung von außen – insbesondere durch die Regierung der USA – verteidigen. Er schrieb folgenden Brief an seine kubanischen und venezolanischen Kollegen, die ihren Lesern, Zuhörern und Fernsehzuschauern eine falsche Interpretation der aktuellen Situation in Nicaragua bieten. Dieser Brief wurde am 1. Mai 2018 in der Internetzeitschrift CONFIDENCIAL veröffentlicht (https://confidencial.com.ni/por-que-ortega-no-merece-ser-presidente/).

Compañeros:

Die Situation in Nicaragua ist nicht am 16. April 2018 entstanden. Es handelt sich um eine Explosion und eine späte, aber angemessene Antwort, auf die mehr als 27 Jahre von Amtsmissbrauch jeglicher Art seitens Daniel Ortegas und jüngst auch durch Rosario Murillo.

Diesen Missbrauch hat er, gemeinsam mit der ihn umgebenden mafiös organisierten Gruppe, begangen, und er führte zum Niedergang und zum schließlichen Scheitern einer rückwärtigen Entwicklung, die Ihr offensichtlich nicht erkannt habt oder die Ihr nicht so analysieren wolltet, wie es für professionelle Journalisten angemessen wäre.

Ich blicke auf 56 Jahre Erfahrung als Journalist zurück, erstens während der Diktatur Somozas in verschiedenen Wochenzeitungen, zweitens in zwei Tageszeitungen, die die [sandinistische] Revolution unterstützten, Barricada, die offizielle Tageszeitung der ex-FSLN und El Nuevo Diario, die 1981 von ehemaligen Mitarbeitern der Tageszeitung La Prensa gegründet wurde und bis 2012 ihre revolutionäre Orientierung beibehielt, und drittens danach, bis heute, in der digitalen Tageszeitung CONFIDENCIAL.

Solltet Ihr meinen, dass dies nicht ausreicht, um mir eine politische Autorität zuzusprechen, so könnte ich Euch noch zustimmen. Aber vielleicht könnt Ihr mir zumindest eine gewisse moralische Glaubwürdigkeit zuschreiben, die aus dem Schmerz geboren wurde, den ich dadurch erleiden musste, dass zwei meiner vier Söhne, die sich am bewaffneten Aufstand gegen Somoza beteiligt hatten, in diesem Kampf gefallen sind. Dieser Schmerz wird mit jedem Jugendlichen, der von den Repressionskräften Ortegas ermordet wird, von Neuem in mir erweckt. Schließlich gründe ich meine Botschaft an Euch auch auf mein eigenes politisches Bewusstsein und meinen Gerechtigkeitssinn, die ich mir als nicaraguanischer Staatsbürger in 73 Jahren sozialistischer und sandinistischer Parteizugehörigkeit erworben habe.

Ihr nehmt die Wahrheit nicht wahr, was das Gleiche ist, wie Euer Brudervolk Nicaraguas oder auch Eure eigenen Völker im Stich zu lassen. Die gewaltsamen und tragischen Ereignisse in Nicaragua sind das Resultat einer gewaltigen Anhäufung von Angriffen auf die elementaren Rechte unseres Volkes. Sie sind die Antwort auf die Gier nach Macht und Reichtum von einigen Leuten, die den revolutionären Kampf schon lange hinter sich gelassen haben und die den Verlockungen der Macht vollständig erlegen sind. Im Einzelnen:

·         Der Pakt mit korrupten Politikern, die dem Liberalismus Somozas entstammen, um die Posten der Macht in allen Staatsorganen unter sich aufzuteilen.

·         Die Veränderungen der Verfassung von 1987, um die Wiederwahl des Präsidenten zu ermöglichen. Diese wäre nicht abzulehnen, wenn man das Recht des Volkes auf freie Wahlen respektieren würde, sie wird jedoch zu einem Unrecht, wenn die Wiederwahl auf Wahlfälschung beruht und dazu dient, korrupte Politiker an der Macht zu halten. Während unserer Geschichte haben wir bereits Wiederwahlen, Wahlbetrug, bewaffnete Interventionen durch die USA, Diktaturen, Plünderungen der Staatskassen und die Verletzung der politischen und humanitären Grundrechte erlebt.

·         Der Orteguismus schreibt diese Tragödie fort. Ortega ließ, in Zusammenarbeit mit dem korrupten ex-Präsidenten Arnoldo Alemán, die Möglichkeit, Kandidaten durch öffentliche Unterschriftsammlungen[1] aufzustellen, aus dem Wahlgesetz streichen. Diese Figur war ursprünglich dafür gedacht, eine breitere demokratische Partizipation zu erreichen und die Staatsbürger aus ihrer Abhängigkeit gegenüber den traditionellen Parteien der Oligarchie zu befreien.

·         Nachdem Ortega Alemán in einem inner-mafiösen Streit fallengelassen hatte, wurde er zum alleinigen Herrscher über alle Staatsorgane, was zur Straflosigkeit für alle möglichen Formen des Machtmissbrauchs führte: von der rechtswidrigen Abschaffung des Verfassungsartikels, der die über zwei Legislaturperioden hinausgehende präsidentielle Wiederwahl verbot, der damit verbundenen Eröffnung der ewigen Wiederwahl, bis hin zu straflosen Bestechungen von korrupten Politikern.

·         Ein konkretes Beispiel: Die Regierung Ortega-Murillo hat die nachgewiesenen Fälle von Korruption und illegaler Bereicherung von Roberto Rivas, der der politischen Tradition Somozas entstammt, akzeptiert, weil dieser als Vorsitzender des Obersten Wahlrates der zentrale Organisator der Wahlfälschungen war (nach seinem letzten Skandal wurde er zwar aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, aber seinen Posten mit all seinen Privilegien hat er behalten).

·         Seit der "Piñata" der staatlichen Besitztümer 1990[2] haben sich die Freunde des Orteguismus weiterhin illegal bereichert, Ortega hat seine ganze Familie vor aller Augen mit Reichtümern versorgt. Er verwaltet die gesamte Wirtschaftshilfe Venezuelas parallel zum Staatshaushalt ausschließlich nach seinem persönlichen Gutdünken.

·         Seine Familie besitzt Grundstücke, Unternehmen und verschiedene Fernsehkanäle, die gemeinsam mit einem mexikanischen Millionär einen Bipol bilden und gleichzeitig die Freiheit der Presse und der Meinungsäußerung bedrohen und beschränken.

·         Ortega stellte sich 2006 an die Spitze des katholischen Klerus und von evangelischen Pastoren, rechten Parteien und anderen reaktionären Kräften, um den therapeutischen Schwangerschaftsabbruch zu illegalisieren und damit das Leben von Frauen zu gefährden.

·         Öffentliche Gelder werden für irgendwelche Prestigeobjekte verschwendet, wie beispielsweise für die Blechbäume, die zu Lasten der Umwelt und von sozialen Projekten überall aufgestellt wurden.

·         2013 überbot Ortega mit der Vergabe der Konzession für den Bau eines interozeanischen Kanals an Wang Jing noch die Verletzung der nationalen Souveränität durch den Bryan-Chamorro-Vertrag[3] von 1914, der unter den Bedingungen der militärischen Besetzung Nicaraguas durch US-Truppen unterzeichnet wurde und gegen den Augusto C. Sandino und andere Patrioten gekämpft hatten.

·         Mit den an den Studenten begangenen Verbrechen stellt Ortega sogar die Somoza-Diktatur in den Schatten, die vier Studenten bei dem Massaker an Studenten im Juli 1959 in León ermordete, während jetzt zwischen 38 und 63 Ermordete und eine unbekannte Anzahl von Verschwundenen gezählt werden. Ortega überflügelt Somoza auch noch mit seinem Zynismus, wenn er jetzt behauptet, die Studenten hätten sich gegenseitig umgebracht.

·         Vor acht Tagen sprach Ortega von einem Dialog, der jedoch immer noch nicht begonnen hat, während Ihr so berichtet, als ob dieser schon längst im Gange sei. Dieser Dialog kommt deswegen nicht zustande, weil Ortega sich weigert, seine geistige Urheberschaft für das Massaker anzuerkennen und eine Bestrafung der Täter zu akzeptieren. Ohne diese Voraussetzungen wird jedoch niemand mit ihm in einen Dialog treten wollen. Wenn Ortega schon während der letzten elf Jahre seiner Amtsführung keinerlei Interviews an Journalisten gab, wird er umso weniger mit Vertretern des ganzen Volkes sprechen wollen, wenn er sich schuldig fühlt.

Dies ist noch lange nicht Alles, aber es spiegelt den Verfall des Orteguismus wider, der um die persönliche Verkommenheit des Herrschers ergänzt wird, unter der die ganze Gesellschaft zu leiden hat, und die von den obersten Befehlshabern der Polizei und der Armee unterstützt wird.

Ich möchte Euch daran erinnern, dass Ihr Euch, wenn Ihr weiterhin die offiziellen Lügen dieser Regierung wiederholt, zu Komplizen der Feinde der Freiheit unseres Volkes macht, und dass Ihr damit an der Seite von Ortega der Regierung der USA, deren politischen Freunden und ehemaligen reaktionären Regierungschefs die Möglichkeit gebt, sich als noble Verteidiger des nicaraguanischen Volkes aufzuspielen. Dabei ist deren eigentliches Ziel, eine Regierung zu errichten, die offen die Einmischung der USA akzeptiert und sich deren hegemonialer und aggressiver Außenpolitik unterordnet, deren Opfer seit jeher Nicaragua gewesen ist.

Elemente, wie der Spanier Aznar, Komplize im Krieg gegen den Irak, die Kolumbianer Pastrana und Uribe, Verantwortliche für den Plan Colombia[4], die neun US-amerikanischen Militärbasen in ihrem Land, Komplizen des Drogenhandels und der Verbrechen der Paramilitärs, gemeinsam mit anderen pro-imperialistischen Agenten und der OAS[5] haben bereits damit begonnen, ihre Nasen in die Angelegenheiten Nicaraguas hineinzustecken. (Gerade ist ein gewisser Penco, ein Entsandter von Luis Almagro[6] im Land angekommen, um mit Ortega zu verhandeln.) Es ist auch falsch, und Ihr stürzt in die Unwahrheit, wenn Ihr Nicaragua mit Kuba und mit Venezuela gleichsetzt. Dies ist ebenso falsch, wie der "christliche und solidarische Sozialismus" von Ortega.

Was auch immer diese Leute in unserem Lande, einschließlich der Installation einer rechten Regierung unter dem Einfluss der USA, anrichten können, Ihr werdet, ebenso wie Eure Regierungen einen Teil der Verantwortung dafür tragen müssen, wenn Ihr nicht Eure Informationspolitik ändert und Eure auf Lügen basierende Solidarität mit Ortega aufgebt. Und Ihr macht Euch auch dadurch schuldig, dass Ihr Eure Regierungen nicht dafür kritisiert, dass sie einen Verletzer der Menschenrechte aus politischer Kurzsichtigkeit, aus ideologischem Sektierertum oder aus staatspolitischen Gründen unterstützen. Wenn Ihr nicht in der Lage seid, die Wahrheit darüber zu berichten, was in meinem Lande passiert, dann verbreitet zumindest keine Lügen. Nur dies verlange ich von Euch, denn Ortega anzuklagen und ihn zum Rücktritt zu zwingen, das wird schon das nicaraguanische Volk erledigen.

Mit brüderlichen Grüßen,

Onofre Guevara López.

[1] "Suscripción Popular".

[2] Piñata, eigentlich ein Kinderspiel um die Verteilung von Süßigkeiten, ist in Nicaragua zu einem Synonym für die unrechtmäßige Aneignung öffentlichen Eigentums geworden.

[3] Durch den Bryan-Chamorro-Vertrag übertrug Nicaragua für 3 Millionen Dollar das alleinige und dauerhafte Recht, einen interozeanischen Kanal durch Nicaragua zu bauen, an die USA.

[4] Der Plan Colombia wurde 1999 vom Präsidenten Pastrana verkündet; er erlaubte den Einsatz des Militärs nach innen und führte zu einer Militarisierung der Gesellschaft Kolumbiens.

[5] Organisation der Amerikanischen Staaten.

[6] Generalsekretär der OAS.

 

 

Lizenz des Artikels und aller eingebetteten Medien: 
Creative Commons by-sa: Weitergabe unter gleichen Bedingungen