Warum ist es so verdammt still hier? Zum rechten Mordversuch in Henstedt-Ulzburg

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Am letzten Samstag verletzte ein Anhänger der extrem rechten Alternative für Deutschland mit seinem Auto in Henstedt-Ulzburg mehrere Antifaschist*innen. Diese waren vor Ort, um gegen eine AfD-Veranstaltung zu protestieren, als sie von dem 19-jährigen gezielt mit seinem PickUp-Truck überfahren wurden. Nur dem Zufall ist es zu verdanken, dass es keine Toten gab. Kurz zuvor war der Täter von der Kundgebung gegen die AFD verwiesen worden, weil er und seine Begleiter dort extrem rechte Aufkleber verklebten. Die Tat war ein Racheakt und ein gezielter Versuch, politische Gegner*innen zu töten. Wer Menschen mit einem PickUp-Truck überfährt, nimmt den Tod Anderer mehr als nur billigend in Kauf.

Diese ebenso brutale wie kaltblütige Tat schockiert uns und macht uns wütend. Überrascht hat sie uns nicht. Rechte Gewalt, rechte Morde und rechter Terror sind eine Kontinuität in der Geschichte der Bundesrepublik. Wir sind betroffen und in Gedanken bei den Verletzten und den Menschen vor Ort.

Nicht zuletzt weil es jede*n von uns bei unzähligen Gelegenheiten genauso hätte treffen können. Wir sind wütend auf die, die uns in mörderischer Absicht angreifen, und ihre Stichwortgeber*innen der neuen sozialen Bewegung von rechts, allen voran die AfD, die mit ihrer Hetze die politische (Mit-)Verantwortung für rechte Gewalt trägt. Seid euch gewiss: Unseren Hass den könnt ihr haben, unser Lachen kriegt ihr nie.

Was uns aber vor allem umtreibt, sind die Stille und die Gleichgültigkeit, mit der dieser rechte Anschlag bislang aufgenommen wird. Die Polizei sprach anfangs von einem "Verkehrsunfall", ermittelte nur wegen "gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr" und bagatellisierte so die Tat. Und auch viele Medien übernahmen die Darstellung der Polizei vorschnell und ohne weitere Prüfung: Dort war dann von einem "Vorfall bei einer AfD-Veranstaltung" die Rede, obwohl anders lautende Zeug*innenberichte vorlagen und leicht zu recherchieren gewesen wären.

Nach öffentlichem Druck antifaschistischer Gruppen kippt nun diese Lesart der Geschehnisse und der der Staatsschutz ermittelt auch wegen "gefährlicher Körperverletzung". Nach allem was wir über den Umgang der Polizei mit extrem rechten Gewalttäter*innen wissen, haben wir allerdings wenig Hoffnung darauf, dass diese Tat und ihre politische Motivation vollständig aufgeklärt und als das benannt wird, was sie ist: Ein politisch motivierter Mordversuch.

Dass Autos von extrem rechten und/oder rassistischen Täter*innen als Waffe eingesetzt werden, ist kein Novum. Allein in den letzten beiden Jahren gab es diverse Fälle in Deutschland: So fuhr zu Silvester 2018/2019 ein 50-jähriger in Bottrop und Essen gezielt in Gruppen nicht-weißer Menschen, im April 2019 fuhr ein Kölner AfD-Funktionär in eine Gruppe Gegendemonstrant*innen und im Oktober 2019 versuchte der Attentäter von Halle auf seiner Flucht gezielt, einen Migranten zu überfahren. Auch in Münster gab es im Juni diesen Jahres aus den Kreisen der rechtsoffenen "Corona-Rebellen" die Drohung, mit dem Auto in eine BlackLivesMatter-Demo zu fahren.

Der Umgang der Polizei mit diesen Attentaten und Drohungen war stets sehr zögerlich. Grundsätzlich scheint man bei der Polizei in solchen Fällen zuerst immer von Versehen und einem Verkehrsdelikt mit einer mindestens anteiligen Mitschuld der Betroffenen auszugehen. Und so laufen die Ermittlungen dann häufig auf dem Level eines Auffahrunfalls. Die Einsicht, dass ein Auto deutlich schwerer wiegt als ein Kantholz und entsprechend tödlicher ist, scheint sich bei den Ermittlungsbehörden nicht durchzusetzen.

Und auch die Reaktion von Parteien und Zivilgesellschaft ist erschreckend verhalten. Gab es nach dem vermeintlichen Angriff mit einen Kantholz auf den Bremer AfD-Politiker Magnitz einen landesweiten Aufschrei und Distanzierungen bis hin in die Bundestagsfraktionen nahezu aller Parteien, bleibt es nach den Auto-Anschlägen von Rassist*innen, AfD-Mitgliedern und ihren Anhänger*innen erstaunlich ruhig. Viel zu ruhig. Die Polizeidirektion Bad Segeberg sah sich bislang noch nichtmal genötigt, ihre ursprüngliche Pressemitteilung zu korrigieren und die AfD kann munter ihre Sicht der Dinge verbreiten und von "linker Gewalt" fabulieren. Diese Stille ist unerträglich. Es scheint fast so, als hätte sich die überwiegend weiße Mehrheitsgesellschaft mit rechter Gewalt in einem gewissen Maß abgefunden: Massive Waffenfunde bei Neonazi-Gruppen? Die sind halt waffenaffin. Extrem rechte Polizist*innen? Sind ja nicht alle. Rechte Gewalt gegen politische Gegner*innen? Unschön, aber gehört ja irgendwie dazu, wenn man sich engagiert. Rechter Terror? Einzeltäter*innen, meistens psychisch krank. Da kann man nichts machen. Ist halt so.
Allen, die so denken, möchten wir entgegnen: Nein, es ist nicht "einfach" so! Es ist so, weil viel zu viele in dieser Gesellschaft rechte Gewalt verharmlosen, verleugnen, achselzuckend akzeptieren und sich selbst komplett aus Verantwortung stehlen! Es reicht nicht, neutral zu sein, wenn Menschen angegriffen werden! Es ist keine Option zu sagen "es ist nicht mein Problem", wenn Menschen auf Kundgebungen oder im Alltag um ihre Gesundheit und ihr Leben fürchten müssen!

Das mag vielleicht für diejenigen funktionieren, die nicht aufgrund ihres Erscheinungsbildes, ihrer Sprache, ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer politischen Einstellung von Nazis als Feind*innen ausgemacht werden. Aber es ist zutiefst unsolidarisch, unverantwortlich und unmoralisch!
Und zudem sehr kurz gedacht. Gesellschaften kippen nicht mit einem Mal in autoritäre Systeme. Es beginnt nicht mit einem Umsturz, sondern damit, dass es Leuten gleichgültig ist, wenn andere gedemütigt, entrechtet, angegriffen und verletzt werden. Selbst wenn es mit Walter Lübke einen von ihnen selber trifft. In einem Land, in dem sich der Innenminister über Abschiebeflüge zu seinem Geburtstag freut, rechter Terror alleine im letzten Jahr mindestens 11 Menschenleben kostete, täglich extrem rechte Gruppen in und außerhalb von Polizei und Militär aufgedeckt werden und es allenfalls eine Randnotiz ist, wenn Rassist*innen versuchen, Menschen mit Autos zu töten, darf man sich durchaus fragen, wie weit diese Gesellschaft bereits gekippt ist. Also nochmal: Warum schreit ihr nicht?

Wir müssen uns wohl oder übel noch mehr Gedanken darüber machen, wie wir einen effektiven antifaschistischen Selbstschutz organisieren, um uns und andere zu schützen. Und das ohne uns in diesem Prozess einschüchtern zu lassen. Wie wir Öffentlichkeit schaffen und die Narrative der Polizei kritisch hinterfragen können. Wie wir Allianzen mit anderen Betroffenen rechter Gewalt schaffen, einander zuhören, voneinander lernen und uns unterstützen können. Wie wir gemeinsam der extremen Rechten und ihre Freund*innen die Räume weiterhin streitig machen und sie zurückdrängen können. Wie wir diejenigen erreichen, die jetzt schweigen. Oder ob wir sie als Teil des Problems ansehen müssen.

Angesichts des Anschlags in Henstedt-Ulzburg fordern wir:

1. Die offenen Fragen zum Polizeieinsatz müssen beantwortet werden:
Wie kann es sein, dass vier erkennbare extreme Rechte unter den Augen der Polizei auf der Gegenkundgebung zur AfD herumlaufen und diese eine ganze Zeit lang stören können? Warum wurden diese Personen nach ihrem Verweis nicht von der Kundgebung begleitet?
Wie kann es sein, dass auf einer derart unklaren Lage eine Pressemitteilung formuliert wird, die klare Wertungen des Geschehens beinhaltet?

2. Medien müssen ihre eigene Beichterstattung kritisch reflektieren:
Warum wird eine Polizeipressemitteilung unhinterfragt gedruckt? Warum gilt hier das Prinzip der zweiten Quelle augenscheinlich nicht?
Warum wurde nur kaum das Gespräch mit Augenzeug*innen, Betroffenen und Organisator*innen des Protestes gegen die AfD gesucht?
Weshalb wurde ein politisch motiviertes Tötungsdelikt mit einem Auto nicht als überregional relevante Nachricht eignestuft?

3. Wir fordern eine angemessene juristische Aufarbeitung der Tat:
Sie muss als politische Tat anerkannt und ihrer Schwere entsprechend behandelt werden. Die Arbeit der Behörden muss dabei transparent gestaltet und von einer kritischen Öffentlichkeit hinterfragt werden.

4. Rechte Gewalt muss gesamtgesellschaftlich ernst genommen werden:
Hört endlich denjenigen zu, die jeden Tag mit der Gefahr rechter Bedrohungen und Gewalt konfrontiert sind. Sie erheben ihre Stimmen vielfach und vielfältig mit unglaublichem Mut. Ihnen mit Ignoranz zu begegnen ist falsch! Hört endlich auf, so zu tun als wäre nichts passiert und tut es ihnen gleich: Werdet laut, verdammt!

In Solidarität mit den angegriffenen Antifaschist*innen in Henstedt-Ulzburg und allen Betroffenen rechter Gewalt! Rechten Terror benennen und bekämpfen! Extrem rechte Organisationen zerschlagen! No pasaran!

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