Berlin: Fulminanter Semsterabschluss

Jenz Steiner 19.02.2004 15:20 Themen: Bildung
Eine kurze Fotoreportage vom fulminanten Semesterabschlussaktionstag an der Humboldt-Universität in Berlin.
Es war eher der Zufall, der mich am späten Mittwoch Nachmittag nach der Indyradio-Sendung auf reboot.fm noch auf den Campus der Humboldt-Universität trieb. Vom reboot-Studio in der Ziegelstrasse bis zum HU-Hauptgebäude sind es nur ein paar Schritte. Die rote Abendsonne strahlte auf der rotbraunen Kuppel des Bodemuseums und glitzerte auf der goldenen Spitze des Berliner Doms. Der erste trockene Tag in Berlin seit langer Zeit. Etwas frisch, etwas windig und leicht bedeckt. In der Dorotheenstrasse 24, direkt hinter dem Hauptgebäude der HU befindet sich ein vieretagiges, tristes Seminargebäude. Ein DDR-Neubau mit braun getönten Scheiben und einer von Efeu eingewucherten Fassade.
Zum Beginn eines jeden Semesters war es putzig anzusehen, wie neue Studierende mit ihren Vorlesungsverzeichnissen verzweifelt vor dem grauen Klotz standen und rätselten, was sich hinter der Abkürzung DOR 24 303 verbergen könnte.Ich war lang nicht mehr hier. Mit der DOR 24 verbinde ich eher langweilige, überfüllte Proseminare, Erfolgserlebnisse und Misserfolge bei Klausuren und Zwischenprüfungen, Ostschulbänke und langweilige Studenten, die sich über ihre Semesterwochenstunden unterhalten. Was mich am Mittwoch Nachmittag an der HU erwartete, hätte ich gerade dort nie für möglich gehalten. Irgendwie schlängelte sich schon einige Meter vor dem Seminargebäude ein leckerer Geruch in meine Nase, der mich mehr an Ferienlager als an Uni-Alltag erinnerte.



Vor der kleinen Treppe zum Haupteingang stand ein kleiner, qualmender Grill, ein brennendes Fass. Auf dem Boden lagen Bretter und Stöcker.
"Fat Boy Slim" dröhnte aus einem billigen Kassettenrecorder. Etwa zwanzig Leute standen herum, lachten, wickelten dicken Teig um die Stöckchen und hielten sie übers Feuer. An der Seitenwand hing ein riesiges Transparent mit der Aufschrift:

"Wir können auch anders. Umverteilung von oben nach unten."

Was war hier los? Auf der Treppe konnte man gegen eine Spende Glühwein aus einem Kochtopf schöpfen. Einige der Herumstehenden lachten laut, andere "bekämpften" sich mit Stöckern, Kreuzen und Holzschwerten.Über dem Haupteingang hing ein orange-weiss-rotes Schild "Offene Uni". Irgendwie hatte ich das alles etwas anders in Erinnerung. Die grossen Scheiben der Glasfront und Seitenwände der Vorterasse waren vollständig zuplakatiert und mit Aufklebern vollgeknallt. "Fulminanter Semesterabschlussaktionstag der Berliner Universitäten" stand auf einigen kopierten A3-Plakaten.



Der Stockbrotgeruch verwandelte sich in zwickenden Brennsprititusgeruch. Ich begab mich ins Innere der DOR 24. Wieder zwickte es in der Nase. Diesmal roch es süsslich, nach Zimt und Mohn.



Zwischen mit Kreide beschriebenen Wänden, umgedrehten, mit Postern behangenen Schulbänken, Stapeln von Flugblättern und Zeitungen goss eine Studentin mit einer roten Plastikkelle dünnflüssigen Teig in heisse, dampfende Waffeleisen.



Fernseher wurden durch die Gegend geschoben. Durch den Flur dröhnten "Ton Steine Scherben". Ein Seminarraum wurde kurzerhand zum Café umfunktioniert. Tetrapaks mit Orangen- und Apfelsaft standen auf den Tischen.



An der Wand lehnte eine graue Leinwand, auf der stand:
"Die Zukunft ist grau."
Auf einer roten entzifferte ich ebenso verschmierte, feuerrote Buchstaben:
"Rot Rote Pest"
. Flyer für ein Solidaritätskonzert des Rechtshilfefonds schwirrten herum.
"Dance the disobedience!"
Wo war ich hier? Ich konnte nicht recht fassen, was ich sah. Als ich noch hier studierte, nahm ich die anderen Studierenden eher als fatale, gelähmte Masse war. Die Hochphase der Studentenproteste hatte ich nur aus dem Ausland verfolgen können. Nun war ich mittendrin und sah, dass es längst nicht vorbei ist. Ich folgte der rosafarbenden Kreideschlängellinie an der Wand. Eine Dokumentation der Proteste von November an.



12.11. TU-Streik
15.11. Samstagsdemo
19.11. Streikbeschluss
21.11. HU-Vollversammlung
23.11. Besuch bei Sabine C.
25.11. Besetzung Flierl Büro
28.11. Besuch bei Sarrazin
29.11. Sarg-Demo
05.12. Kürzung des Weihnachtsbaumes vorm Roten Rathaus
06.12. Samstagsdemo
13.12. Riesendemo
15.12. TAZ-Besetzung
05.01. Marathon VV mit vier Hammelsprüngen
08.01. Weihnachtsbaumbesetzung
13.01. erste Schwarzfahraktion
15.01. Blockade des Abgeordnetenhauses
22.01. Kriegserklärung mit Eröffnung der Waffenschmiede
24.01. Aktionstag gegen Bildungsabbau
24.01. Palast-Besetzung

Die erneute Bertelsmann-Besetzung vom 18. Februar fehlte jedoch.Entlang der rosa Wellenlinie im neonbeleuchteten Gang hingen Flugblätter und extrem viele Fotos, die ich von der deutschen Indy-Seite kannte. Auf der anderen Seite, auf rosa A4-Blättern, hing ein vollständiger Pressespiegel der Proteste. Ich fühlte mich an miese Studentenjobs in Clipping-Agenturen erinnert, bei denen man morgens um drei aus dem Haus geht, um ab vier die Tagespresse nach Suchbegriffen zu durchforsten.Schon am 30.11. warnte Berlins ehemaliger Regierender Diepgen in der Presse vor einer Studentenrevolte. So schlimm kann diese nicht gewesen sein. Am 09.12. schrieb der Tagesspiegel bereits: "Studentenstreik brökelt, aber SPD kommt ins Grübeln".



Ich fühlte mich bestätigt in meinem Medienbild und wandelte durch die offenen, aber meist menschenleerenleeren Räume. Überall projezierten Overheadprokektoren Fotos von den Protesten an die mit Transparenten und Plakaten behangenen Wände. Zeitschriften wie "Out of Dahlem" oder "Legal Illegal Bankenskandal" lagen herum. Jeder Raum schien unter einem bestimmten Motto zu stehen. Der "Essen mit der Elite"-Raum kam einer Art Volksküche gleich, nur die Köche fehlten. Massenhaft Fladenbrote, riesige Schüsseln mit zerschnippelten Mohrüben und Paprika, zahllose offene Dosen mit geschälten Tomaten.



Ich glaube, ich war etwas zu früh. Später erfuhr ich, dass es am Abend noch eine grosse Party im Ostflügel des Hauptgebäudes geben sollte.



Im "Konstruktiv Hochschulpolitik mitgestalten" Raum lag zwar viel rum, doch die Stühle waren leer.



Einen Raum weiter war der Original-Sarg der Sarg-Demo aufgebahrt. Ringsherum standen und lagen grosse Holzkreuze. Die Bildungsgruft.



Am besten besucht war der Video-Raum. Ein Videobeamer, der Clips von der Offenen-Kanal-Besetzung oder derBertelsmannstürmungzeigte, liess bei den etwa 20 Leuten im Raum wieder einiges an Emotionen wach werden. Die Lacher, Pfiffe und Zwischenrufe kamen nicht nur vom Band. Wieder entbrannten heftige Diskussionen im Raum, wie man die Aktionen hätte besser und effektiver durchführen können. Wieder lief als Hintergrundmusik "Ton Steine Scherben" und ich bekam eine Gänsehaut.


Ich verliess die DOR 24, ging hinüber ins Hauptgebäude. Die grosse Vollversammlung im Kinosaal hatte ich verpasst.Sie können wirklich anders. Die Studies aus Berlin. Am meisten eingeprägt hatte sich bei mir der blaue Kreidespruch an einer Wand:
"Fuck the System. Wenigstens ein bisschen."
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Ergänzungen