Interne Säuberungen des NKWD während des Großen Terrors 1936-39

Svennie d. R. 27.03.2003 22:06 Themen: Antifa Kultur Repression
Buchrezension: Nikita Petrow: Die Kaderpolitik des NKWD während der Massenrepressalien 1936-1939. In Wladislaw Hedeler (Hg.): Stalinscher Terror 1934-1941. Berlin 2002. S. 11-32.

In der Zeit des "Großen Terrors" in der Sowjetunion von 1936-39 erlebte das Volkskommissariat des Inneren der UdSSR (NKWD) eine regelrechte Kaderrevolution auf dessen Führungsebene. Seit nunmehr 10 Jahren haben Wissenschaftler Zugang zu den Archiven des Präsidenten und des ehemaligen KGB, viele Quellen gesichtet und ausgewertet. Der Historiker Nikita Petrow ist für Memorial Moskau und das Hamburger Institut für Sozialforschung tätig. Sein Spezialgebiet ist der Große Terror in der Sowjetunion.
Bisher wurden nur die Prinzipien der Herausbildung der Führungsschicht des NKWD untersucht. Nikita Petrow versucht durch seine Kaderanalyse herauszufinden, wie sich die Eliten im NKWD durch Stalins interne Säuberungen verändert haben und hofft so die Motivation dazu aufdecken zu können.
Zuerst vergleicht er die Zusammensetzung des OGPU in den zwanziger Jahren mit der des NKWD der Dreißiger. Zwei Drittel der OGPU-Mitarbeiter waren Russen. Das restliche Drittel bestand aus Letten, Juden und Polen. Die meisten Mitarbeiter stammten aus kleinbürgerlichen Familien. Bis 1917 war Bildung in Rußland noch ein großes Privileg. Nur wenige OGPUler entstammten bäuerlichen Familien. Petrow verweist in seinem Beitrag auf das unterschiedliche Bildungsniveau der NKWD-Führungsschichten. Im NKWD hatten in den Dreißigern mehr als 30 Prozent der Mitarbeiter keine kommunistische Vergangenheit. Über die Hälfte war mehr als vierzig Jahre alt, verfügten über eine Mittelschulbildung und hatten keine proletarische Wurzeln. 12,5 % waren Letten und Polen. 39 % waren Juden. Viele gehörten zuvor größtenteils dem jüdischen ?Bund? an, waren Sozialrevolutionäre, Weiße oder Anarchisten.

Stalin störte sich an stabilen Clans und selbstständigen Gruppierungen. Er wollte sie mit allen Mitteln beseitigen. Die Säuberungen richteten sich gegen alle Bevölkerungsschichten. Um auch interne Verschwörungen auszuschließen, blieb auch der Staats- und Parteiapparat nicht verschont. N. Jeschow nutzte im Juni 1937 eine Kampagne zur ?Entlarvung der Verschwörung der Rechten und Trotzkisten? als Aufhänger für die internen Operationen. Jeschows Kampagne war die logische Konsequenz des umstrittenen Toted des Leningrader Parteichefs Kirow. Anfangs wurde der Tod Kirows auf die Nachlässigkeit einzelner Geheimdienstler zurückgeführt. Jeschow propagierte nun jedoch eine Verschwörung Jagodas. Stalin selbst wollte im NKWD neue Kader einsetzen, da ihm das Volkskommissariat zu konservativ erschien. Für die "internen Operationen" kamen Personen mit nicht kommunistischer Vergangenheit gerade recht. Junge, parteitreue Kader sollten die unpolitische Masse ersetzen.

Petrow geht auch auf vorbeugende Maßnahmen ein. Dazu zählten Direktiven, Rundschreiben zur Regulierung des Kaderbestands, Entlassungen und Verurteilung von Kommandanten wegen Spionage, Kontakt zur Bourgeoisie und ?persönliche Bereicherung?. Weiterhin sollte das ideologische Niveau der Mitarbeiter angehoben werden. Dies geschah durch Lehrgänge, Studien und die Zuordnung von Komsomol- und Parteifunktionären zu den NKWD-Kadern. Jeschows Hauptzielgruppe bestand aus Polen, Letten und Deutschen, aus Rechten, Sinowjewisten, Trotzkisten, Oppositionellen und deren Sympathisanten. Jeschow und Stalin fürchteten die Ausländer jedoch mehr als die politischen Strömungen, da es sich bei ihnen auch hätte um ausländische Geheimdienststützpunkte handeln können. Jeschow griff zu einer Maßnahme mit gewaltigen Auswirkungen. Er ließ eine Aktivtagung einberufen, auf der gleich Haftbefehle ausgestellt wurden. Mit der Aktiv-Tagung sollte die ?Jagoda-Verschwörung? aufgesdeckt werden. Jagoda wurde die Planung einer Kreml-Besetzung mit Hilfe von DMIT-Lag Häftlingen als Kampfgruppe vorgeworfen. Gleich nach der Sitzung kam es zu den ersten Verhaftungen. Im Frühjahr 1937 wurden viele Jagoda-Anhänger verhaftet. Verschont blieben die, die Jeschow selbst in Führungspositionen gehievt hatte. Die Vertuschung von Jagodas Aussagen kam Jeschow später teuer zu stehen. Den Anhängern Jagodas war klar, daß der Unmut im Land nicht durch Verhaftungen, sondern nur durch einen anderen politischen Kurs zu besänftigen war.

1938 verlagerte sich der Fokus der Repressalien auf "nationale Operationen". Sogenannte Überspitzungen, d.h. Überschreitungen der Limits für Verhaftungen und Erschießungen wurden durch Inspektionen untersucht, die dem ZK gegenüber rechenschaftspflichtig waren. Nach Absetzung des stellvertretenden Volkskommissars des Inneren L. Sakowski begann eine neue Etappe der NKWD-internen Säuberungen. Im September 1938 löste Berija Jeschow ab und begann im gleichen Zuge dessen Anhänger mit Stalins Billigung zu beseitigen. Auch das Orgbüro des ZK und das Politbüro verstellten sich nicht gegen diese Maßnahmen. Petrow bemerkt, daß Historiker wie der KPD-nahe Kosolapow diesen Fakt bis heute verleugnen.  http://www.kommunistische-partei-deutschlands.de/05-publikationen/publikationen_sr.html

Als Ergebnis der internen Säuberungen betont Petrow, daß etwa drei Viertel aller NKWD-Leiter verhaftet wurden. Die NKWD-internen Verhaftungen machten jedoch nur 7,5 Prozent der Verhaftungen im ganzen Land aus. Die Repressalien fanden gleich in den ersten Monaten nach dem Amtsantritt Berijas ihren Höhepunkt. Während der Perestroika wurde die öffentliche Aufmerksamkeit meist auf interne Repressalien gelenkt. So wollte man beweisen, daß Stalins Druckmittel dem Wesen der UdSSR fremd seien und Dzierzysnkis Nachfolger mit Widerstand reagiert hätten.

In seiner Schlußfolgerung räumt Petrow mit der These auf, die behauptet, daß die großen Säuberungen im NKWD mit dem Amtsantritt Jeschows begonnen hätten. Er hebt hervor, daß die Verhaftungen der Jagoda-Leute zwar im ersten Halbjahr 1937 begonnen haben, doch erst die Amtsübernahme durch Berija Auswirkungen auf den Kaderbestand des NKWD hatte."Die Kaderpolitik des NKWD während der Massenrepressalien 1936-39" beleuchtet den aktuellen Forschungsstand zu diesem Thema, denn Petrow stützt sich in erster Linie auf die Akten des Staatlichen Archivs der Russischen Föderation, des Zentralarchivs des FSB und die Ergebnisse seiner bisherigen Untersuchungen. Oft wird nach der Motivation Stalins für die Anordnung der Massenrepressalien in Rußland gefragt. Die Arbeit Nikita Petrows stellt einen entscheidenden Beitrag zur Beantwortung dieser Frage dar.

Nikita Petrows Artikel: Die Kaderpolitik des NKWD während der Massenrepressalien 1936-1939 erschien kürzlich in Wladislaw Hedelers Buch: Stalinscher Terror 1934-1941 bei BasisDruck Berlin auf S. 11-32. Das Buch kostet 22,00 Euro und enthält weitere Artikel zu verwandten Themen von Alexander Vatlin, Gerd Kaiser, Juri Schapowal, Reinhard Müller, Berthold Unfried, Simone Barck, Sergej Shurawljow, Meinhard Stark, Günter Agde und Jens-Fietje Dwars.


Anmerkungen und Links:

Nikita Petrow: Die wichtigsten Veränderungstendenzen im Kaderbestand der Organe der sowjetischen Staatssicherheit in der Stalin-Zeit
 http://www.ku-eichstaett.de/ZIMOS/forum/docs/petrow.htm

Immer neue Fakten werden bekannt, immer neue Unterlagen aus den noch vor kurzem streng verschlossenen Archiven des einstigen "Ostblocks" zugänglich. In der ZIMOS-Zeitschrift "Forum" soll die kommunistische Vergangenheit der Länder Mittel- und Osteuropas wissenschaftlich behandelt werden.
 http://www1.ku-eichstaett.de/ZIMOS/forum/

Vom Bolschewismus bis zu staatlichen Repressionen unter Stalin (vierteiliges Feature auf indy.de)
 http://de.indymedia.org/2003/01/38134.shtml
 http://de.indymedia.org/2003/01/38276.shtml
 http://de.indymedia.org/2003/01/38341.shtml
 http://de.indymedia.org/2003/01/38425.shtml

Spiegel: Sowjet-Säuberungen: Zentrum des Schreckens:
 http://www.spiegel.de/spiegel/vor50/0,1518,231889-2,00.html

TAZ vom 7. Oktober 2002: Säuberungswunsch
 http://www.taz.de/pt/2002/10/07/a0226.nf/text
Indymedia ist eine Veröffentlichungsplattform, auf der jede und jeder selbstverfasste Berichte publizieren kann. Eine Überprüfung der Inhalte und eine redaktionelle Bearbeitung der Beiträge finden nicht statt. Bei Anregungen und Fragen zu diesem Artikel wenden sie sich bitte direkt an die Verfasserin oder den Verfasser.
(Moderationskriterien von Indymedia Deutschland)

Ergänzungen

39% Juden?

27.03.2003 - 22:30
Darüber wollen wir bitte nicht nachdenken!

39 Prozent der Führungskräfte waren Juden

Autor 28.03.2003 - 01:50
Die Angaben wurden übernommen aus: Petrow 1999, S. 495, außerdem nachzulesen bei: Petrow in: Hedeler, Stalinscher Terror 1934-1941, Berlin 2002. S. 13 (Zeile 14)

Die Macht der Sprache

Anar 28.03.2003 - 13:12
> Zwei Drittel der OGPU-Mitarbeiter waren Russen. Das
> restliche Drittel bestand aus Letten, Juden und Polen.

"Jude" ist keine Nationalitätsbezeichnung wie Russe, Lette oder Pole sondern eine Relegionszugehörigkeit. Es passiert hier in Deutschland leider sehr häufig, dass von Juden und Deutschen geredet wird, da die jüdische Kultur in unserer Gesellschaft nahezu vernichtet wurde. Bitte achtet auf eure Sprache, sie verändert das Denken.

Nationalitätenpolitik in der SU

d-g-u 02.04.2003 - 16:06
In der Sowjetunion gab es kein religiöses Verständnis des Judentums: es wurde allein als Nationalität definiert und übrigens auch in den Pass eingetragen.

Noch heute findet man über die SU-Nachfolgestaaten Informationen, in denen wie selbstverständlich unter "Bevölkerungszusammensetzung" die "Ethnie" Juden zu lesen ist. In manchen Ländern wird zwischen ethnischen und "ethnokonfessionellen" Gruppen unterschieden. Besonders gut ist das auf den deutschsprachigen Webseiten der weissrussischen Botschaft in der BRD nachzulesen:

Bevölkerung
[...]
Das Volk Belarus' als eine sozialpolitische Gemeinschaft eines konkreten Territoriums und Staates war seit alten Zeiten eine multiethnische und multikonfessionelle Gemeinschaft mit unterschiedlichen vorwiegend slawischen Völkergruppen. Ende des 19. Jh. waren es Belarussen, Russen, Polen, Ukrainer (nicht zahlreich - Tschechen und Slowaken); Vertreter der baltischen Sprachgruppe (Litauer, Letten, hauptsächlich Lettgalen und Nachkommen von Preußen und Jatwjagen); der semitischen Gruppe (Juden), der türkischen Sprachgruppe (Tataren, Karaimen), es sind auch germanische (Deutsche, Schweden), romanische (Franzosen und Italiener), finnisch-ugrische (Esten) und indoarische (Zigeuner) Gruppen vertreten. Nach konfessioneller Zugehörigkeit überwogen in Belarus traditionell die Christen, hauptsächlich Orthodoxe, Katholiken und griechische Katholiken (oder Unierte). Weniger zahlreich waren Protestanten - Kalvinisten, Lutheraner und andere. Zahlenmäßig folgten dann Israeliten (Juden und Karaimen) und Moslems (Tataren) u.a. Die orthodoxe Religion herrschte in Belarus hauptsächlich unter hiesigen Slawen und teilweise unter der baltischen Bevölkerung. Die katholische Kirche, der Protestantismus, Judaismus und Islam verbreiteten sich mit den eingewanderten polnischen, deutschen, jüdischen und tatarischen Bevölkerungsgruppen.
[...]
Die Polen bilden die nächstgrößte (nach den Russen) Bevölkerungsgruppe in Belarus [...]
Die Ukrainer sind die vierstärkste (nach Belarussen, Russen und Polen) Bevölkerungsgruppe in Belarus [...] Die Juden bilden die fünftstärkste ethnokonfessionelle Gruppe in Belarus (über 110 Tausend ).
[...]
Quelle:  http://www.belarus-botschaft.de/de/info_bevoelkerung.htm