Neue Arbeitsrechts-„Reform“ & Widerstände - Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

 Auszüge aus dem Bericht 35 – Stand vom 15. Juni  2016

Zentraldemonstration groß, doch infolge militanter Zusammenstöße in drei Teile zerbrochen

…. Überpünktlich setzte sich am gestrigen Dienstag gegen 13 Uhr die Spitze der Demonstration von der Pariser Place d’Italie aus in Bewegung. Der Platz vermochte die mehreren Hunderttausend Teilnehmer/innen schlicht nicht zu fassen. Optisch dominierten die rot-gelben Fahnen des Gewerkschaftsdachverbands CGT. (Das ist übrigens der stärkste Dachverband in Frankreich, liebe junge Welt, und nicht – wie Ihr völlig aus der Luft gegriffen behauptet oder einfach mal dahin schreibt -, der „drittstärkste“! Vgl. http://www.jungewelt.de/2016/06-15/071.phpWo bezieht Ihr bloß Eure „Informationen“ her?).

Über dem Platz hing ein weithin sichtbarer Heißluftballon der Union syndicale Solidaires, des Zusammenschlusses überwiegend linker Basisgewerkschaften (SUD). An der Spitze des Protestzuges jedoch lief ein mehrtausendköpfiger schwarzer Bloc. Den „Hit“ in dessen Reihen bildeten jedoch bunte Hasskappen in Regenbogenfarben, unter Anspielung auch auf den brutalen Terroranschlag gegen eine Homosexuellendisko in Orlando. (Einen Schwung davon hatten deutsche Genossen mitgebracht.) Sofort, von Anbeginn an, setzte die Polizei auf Tuchfühlung. Sie umstellte den vorderen Teil der Demonstration mit einem mehr oder minder eng stehenden Spalier – was in Paris ungewöhnlich ist -, und alle Seitenstraßen und eventuellen Parallel-Routen wurden mit riesigen Plexiglas-Absperrungen verriegelt.

Schon gegen 14 Uhr kam es zu den ersten Knüppeleinsätzen, in unmittelbarer Nähe des Verfassers dieser Zeilen wischte ein junger Mann sich mit zwei Tüchern Blut aus einer Platzwunde am Kopf. Schockgranaten der Polizei, aber auch Böller und vereinzelte Feuerwerkskörper explodierten. Zwei CGT-Metallarbeiter schimpfte munter auf die Polizei ein, während in einigen Metern Entfernung ein älterer Gewerkschafter (und/oder Parteikommunist) und ein junger Vermummter sich lautstark wechselseitig beschuldigten, jeweils das Geschäft der Gegenseite zu betreiben. Zu Reibereien zwischen gewerkschaftlichen Ordnerdiensten und Vermummten kam es dieses Mal glücklicherweise nicht. Jener (Ordnerdienst) der CGT hatte sich so positioniert, dass er die Demo zu schützen, aber keine Hilfspolizei-Aufgaben zu erledigen habe, weshalb Premierminister Valls inzwischen auch offene Vorwürfe gegen ihn erhob. (Vgl. http://www.lefigaro.fr)

Bras Dönerhatte jemand zum selben Zeitpunkt an eine Wand am Pariser Boulevard Port-Royal gepinselt, und dadurch so mancher Betrachterin Rätsel aufgegeben. Eine neue Speise? Nein, ein Wortspiel mit bras d’honneur (wörtlich: „Ehrenarm“). So bezeichnet man im Französischen einen ehrenvollen Abgang, mit dem man sich das Gesicht wahrt, aber sich dennoch geschlagen gibt. Eine letzte Ehrenrunde.

 

Nicht als letzte Ehrenrunde geplant

 

Der unbekannte Autor oder die unbekannte Verfasserin mokierte sich über die Vorstellung, die in manchen Kreisen kursierte und der zufolge die gestrige Pariser Zentraldemonstration gefälligst den letzten Akt in der Auseinandersetzung um das geplante „Arbeitsgesetz“darstellen sollte. Ebenfalls gestern begann im Senat, dem „Oberhaus“ des französischen Parlaments, die Debatte über den Gesetzentwurf. Sie soll bis zum 28. Juni d.J. dauern.

Die Nationalversammlung, also das „Unterhaus“ – das im Falle der Uneinigkeit zwischen beiden Kammern das letzte Wort hat -, hatte den Entwurf bereits am 12. Mai dieses Jahres in erster Lesung angenommen. Oder eigentlich nicht, denn die Regierung unter Manuel Valls hatte eine im Kern autoritäre Verfahrensregel benutzt: Artikel 49-3 der französischen Präsidialverfassung erlaubt es einer Regierung, die Vertrauensfrage mit einer Sachdebatte zu verknüpfen. Wird kein Misstrauensantrag gegen die Regierung erfolgreich durchgebracht, dann gilt die strittige Vorlage automatisch als angenommen. Ohne Aussprache und ohne die Möglichkeit zu Änderungen am Entwurf. Neben dem Inhalt der geplanten „Reform“ selbst, der für die abhängig Beschäftigten erhebliche Rückschritte bedeutet, hat auch die Art und Weise seiner Verabschiedung (in erster Lesung) die Wut bei Vielen im Lande gesteigert.

Im Juli 2016 wird die entscheidende letzte Lesung in der Nationalversammlung stattfinden. Bis dahin haben sich die Gewerkschaften – die Mehrheit unter ihnen, denn die von rechtssozialdemokratischen Technokraten geführte CFDT unterstützt die Regierung in diesem Konflikt – und die soziale Protestbewegung Zeit gegeben, um den Entwurf doch noch vom Tisch zu bekommen. Mehrheitlich fordern sie seine ersatzlose Rücknahme. Verstärkt rücken nun auch die „Empfehlungen“ der EU-Kommission an Frankreich vom 13. Mai 2015 in den Fokus der Kritik: In ihnen wird der Inhalt der geplanten Gesetzesnovelle bereits zum Gutteil vorweggenommen; er geht daneben aber auch auf eigene Vorschläge der französischen Kapitalverbände aus dem Jahr 2000 zurück. (Vgl. https://blogs.mediapart.fr/)

In der letzten Maiwoche hatten die Raffinerien und andere für die Treibstoffversorgung wichtige Betriebe dagegen zu streiken begonnen. Ihr Streik dauert zum Teil immer noch, bröckelte allerdings in den vergangenen Tagen ab, auch aus finanziellen Gründen: In Frankreich erhalten abhängig Beschäftigte im Regelfall kein „Streikgeld“, etwa von einer Gewerkschaft (wie in Deutschland), sondern bezahlen den Lohnverlust stets aus eigener Tasche. Im Gegenzug behalten sie allerdings die Kontrolle über die Entscheidung, ob, wann und wie lange gestreikt wird, und treten die Entscheidung darüber nicht an einen Gewerkschaftsapparat ab. Allerdings wird in der derzeitigen, lang dauernden Auseinandersetzung erstmals auf breiter Ebene über die Einrichtung spendenfinanzierter Solidaritätskassen debattiert. (Vgl. https://www.lepotcommun.fr/pot/x9a9rzjr) Dies läuft zum Teil neben den, und zum Teil über die Gewerkschaften. (Vgl. http://www.economiematin.fr/)

 

Zugleich streiken seit dem 31. Mai die Bahnbeschäftigten, jedenfalls ein relevanter Teil von ihnen. Auch Appelle der Regierung, die gerne den Beginn der Fußball-Europameisterschaft am vorigen Freitag genutzt hätte, um die Proteste mundtot zu machen oder jedenfalls auf die Seite zu schieben, fruchteten nicht. Die beiden S-Bahn-Linien „RER B“ und „RER D“, die zum Stadion in Saint-Denis bei Paris führen, wurden zum EM-Auftakt am Freitag beispielsweise zu 80 Prozent bestreikt. Fußballzuschauer kamen in Ersatzbussen oder auf einem Umweg, in überfüllten Métro-Zügen der berüchtigten „Linie 13“ des Pariser Nahverkehrs, zum Stadion. Auch der Bahnstreik bröckelt jedoch inzwischen ab, selbst wenn man in Betracht zog, dass die Bahndirektion ihn durch trügerische Zahlen zu jedem Zeitpunkt herunterzuspielen versuchte. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/)

Doch trotz allem bleibt die Regierung bislang eisenhart. Das entspricht vielleicht ihrem politischen Interesse, denn noch einmal ein zentrales Vorhaben zurückzuziehen, würde ihrer Autorität Abbruch tun: Im März dieses Jahres hatte François Hollande nach heftigen Kontroversen auf das (von der politischen Rechten inspirierte) Vorhaben, Doppelstaatsangehörigen im Falle von Terrorstraftaten oder anderer „Vergehen gegen fundamentale Interessen der Nation“ die französische Staatsbürgerschaft zu entziehen, verzichtet. (Vgl. http://www.lemonde.fr/) Zuvor hatte diese Debatte Frankreich monatelang beschäftigt. Auf die Dauer allerdings dürfte ihre derzeitige Haltung für die regierende Sozialdemokratie einen sehr hohen politischen Preis haben. Zugleich entspricht die aktuelle Kompromisslosigkeit aber auch dem politischen Naturell Manuel Valls’. Er beruft sich als politisches Vorbild auf den früheren Regierungschef Georges Clemenceau, während er Jean Jaurès – den historischen Stammvater der sozialdemokratischen Partei, welcher er angehört – im Vergleich zu Clemenceau als hoffnungslosen Idealisten einstuft. (Vgl. http://www.lemonde.fr) Selbiger Clemenceau hatte mehrfach, als Innenminister 1906 und 1908 als Premier, auf Streikende schießen lassen. Selbst FO-Generalsekretär Jean-Claude Mailly – selber seit dreißig Jahren Mitglied der französischen Sozialdemokratie – spricht davon, er habe „noch nie eine derartig verschlossene Regierung“ gesehen, konservative Rechtskabinette also eingeschlossen (vgl. http://www.lefigaro.fr/).

Um den Druck zu steigern, der sich durch branchenspezifisch Streiks oder auch durch dezentrale Demonstrationen nicht weiter erhöhen ließ, hatten die Gewerkschaften nun eine Zentralmobilisierung in Paris angesetzt. Zu ihr sollten Hunderttauende, ja womöglich eine Million Menschen auf einen Flecken kommen. Dies sollte den örtlichen Mobilisierungen daraufhin nochmals neuen Schwung verleihen.

Welche Bilanz? Zu früh..

Aber ging diese Rechnung denn nun auf? Ja, sagen die beteiligten Gewerkschaften, die von einer Million Teilnehmerinnen und Teilnehmern in Paris (und 1,3 Millionen frankreichweit mit zusätzlichen Demonstrationen in Marseille und anderswo) sprechen. /Vgl. http://www.liberation.fr// Nein, behauptet die Regierung. Deren Innenministerium spricht von lediglich „70.000 bis 80.000“ Teilnehmer/inne/n in der Hauptstadt, und 125.000 landesweit. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/)

Dass die Polizei und das Innenministerium zu tiefe, und die Gewerkschaftsführungen zu hohe Teilnehmerzahlen angeben, ist in Frankreich ein echter Klassiker. Normalerweise liegt die Spannbreite bei Eins zu Drei oder Eins zu Vier, und die Wahrheit liegt – nicht bei den Inhalten, aber was die quantitative Dimension betrifft – in der Regel in der Mitte. Nicht so in diesem Fall, wo beide Angaben wirklich in extremer Weise auseinanderklaffen. Dies zeigt, wie heftig der tobende Interessenkampf ist, wie sehr es der Regierung um die Bewahrung ihrer angeknackster Autorität geht; die Popularitätswerte von Präsident, Premier- und Wirtschaftsminister befinden sich derzeit im freien Fall. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/und http://www.lefigaro.fr)

Zugleich fokussiert sich die mediale Wahrnehmung der Proteste, mehr denn je, auf die stark in den Vordergrund rückende „Gewalt“frage. Schon seit März dieses Jahres, als die Proteste einsetzten, war ein ausgesprochen hartes Vorgehen der eingesetzten Polizeikräfte vor allem gegen die damals starke Jugendkomponente der Bewegung zu beobachten. (Vgl. dazu unseren Artikel vom 21. März dieses Jahres: http://www.labournet.de) In 48 Fällen ermittelt derzeit die Dienstaufsicht, IGPN, gegen Vorwürfe von Polizeigewalt. (Wir berichteten) Seitdem ist, in Reaktion auf diesen Kontext, der Einfluss der autonomen Szene auf die jüngeren und von den Gewerkschaften unabhängigen Teil der Protestbewegung stark gewachsen.

Dies macht sich in militanten Aktionen am Rande von Großdemonstrationen – gegen die Schaufenster von Banken und anderen Einrichtungen, gegen Einsatzkräfte der Polizei – bemerkbar, bei denen sich in Wirklichkeit unterschiedliche Erscheinungen mischen. Für einen „harten Kern“ handelt es sich um eine echte politische Strategie, von der man dank eines Anwachsens der Spannungen eine Infragestellung der Verhältnisse erhofft, wie immer man dies bewerten möchte. In wachsendem Ausmaß ist es für junge Menschen aber auch zum Mittel von Frustrationsabfuhr oder zur Steigerung des Adrenalin-Spiegels geworden. Nicht zuletzt mischen aber auch polizeiliche Provokateure bei einigen der fragwürdigsten Aktionen mit. (Vgl. https://reporterre.net/)

Henri (Vorname redaktionell abgeändert), Mitglied der medienkritischen Initiative Acrimed – Action critique des médias –, beobachtete am gestrigen Tag etwa: „Eine erste Welle von Vermummten ging gegen große Werbeschautafeln vor. Sie zerstörten sie jedoch nicht, sondern nahmen die Kommerzplakate heraus und ersetzten sie durch fantasievoll gestaltete Kunstplakate mit ,subversivem’ Inhalt. Dann kam jedoch eine zweite Welle und schlug alles in Scherben.“ Deswegen könne man die Aktionen nicht gleich bewerten, und bei manchen seien wohl Provokateure am Werk.

Zu den problematischsten Aktionen zählt zweifellos der Scheibenbruch an einem Pariser Kinderkrankenhaus. (Vgl. http://www.lemonde.froder http://www.huffingtonpost.frund http://www.lefigaro.fr/) Hohlköpfe oder Provokateure? Ein Umweg über einen Aufenthalt im Krankenhausbett wäre jedenfalls für die Urheber dieser Aktion durchaus angebracht.. Oder DEN Urheber, denn laut einem Bericht in der Internetzeitung Huffington Post war es anscheinend nur einer (und andere Menschen in der Demonstration forderten ihn dazu auf, von seinem Tun abzulassen), vgl. dazu http://www.huffingtonpost.fr/

 

Aber selbst die dümmsten, oder aber auf Diskreditierung ausgerichteten Aktionen werden in den Schatten gestellt durch die wahrhaftige Orgie der Polizeigewalt am gestrigen Tag. Ein Demonstrant, den eine aus zehn Meter Entfernung abgefeuerte Polizeigranate im Nacken traf, schwebt aufgrund einer Rückenmarkverletzung zwischen Leben und Tod. (Vgl. http://www.lexpress.fr/)

Auf dem Abschlussplatz, der place des Invalides, setzte die Polizei Tränen- und Reizgas in derartigen rauen Mengen ein, dass ihr am Schluss die Vorräte zur Neige gingen. Daraufhin wurde der Platz unter Einsatz von Wasserwerfern und Knüppeln gegen 18 Uhr vollständig geräumt. (Zwei Wasserwerfer befanden sich in Aktion, was in Paris ungewöhnlich ist, wo die Polizei seit den 1970er Jahren kaum noch Wasserwerfer benutzt hat.) Dorthin war das Gros der gewerkschaftlichen Demoblöcke gar nicht erst vorgedrungen: Ihre Mehrheit war dazu gezwungen, noch vor Erreichen des Invalidendemos kehrt zu machen. Auch wenn in vielen Fällen ihre Busse in dessen Nähe parkten. Der Autor sah deswegen gestandene CGT-Gewerkschaften in der Nähe einer Seinebrücke auf Bereitschaftspolizisten (CRS) losgehen...

....Am Abend erwiesen sich die vorab besprochenen Blockade- oder Besetzungsversuche als ein Flop. Vereinbart worden war etwa, eine Blockade im Umkreis des Senats (parlamentarischen Oberhauses) zu versuchen. Doch die Länge der Demonstration am Nachmittag, räumlich – die gestrige Route misst zwischen 5,5 und 6 Kilometer – und vor allem zeitlich, die hohe Anspannung, die Gewalterfahrungen sorgten dafür, dass einige Kräfte erlahmten. Hinzu kamen der gegen 19 Uhr einsetzende Platzregen und die extrem starke Polizeipräsenz. Der gesamte Park Jardin du Luxembourg, welcher den Senat umgibt, war großflächig polizeilich abgesperrt worden. Nur Kleingruppen von einigen Dutzend Demonstrant/inn/en standen an mehreren Stellen den aufgefahrenen Polizeikräften gegenüber, ein Teil von ihnen zog durch eine Spontandemonstration über die place du Panthéon (in der Nähe der Sorbonne) ab.

44 Personen befanden sich am Mittwoch Vormittag im Zusammenhang mit den gestrigen Aktionen in Polizeigewahrsam. (Vgl. http://www.lefigaro.fr).....

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