Paper zur Aufarbeitung und Verantwortungsübernahme sexualisierter Gewalt

Wir schreiben dieses Paper, weil wir keine Lust mehr haben. Wir wollen einen Konsens innerhalb der linken Szene, dass Verantwortung  bei sexualisierter Gewalt innerhalb unserer Strukturen übernommen wird und das Geschehene aufgearbeitet.

Wir schreiben dieses Paper, weil wir keine Lust mehr haben. Wir wollen einen Konsens innerhalb der linken Szene, dass Verantwortung  bei sexualisierter Gewalt innerhalb unserer Strukturen übernommen wird und das Geschehene aufgearbeitet.Gruppen, sowie Orte sollen sich klar positionieren, sich damit beschäftigen, dass die linke Szene, trotz ihrem emanzipativen Anspruch nicht frei ist von sexualisierter Gewalt. Sich bewusst werden, dass es in einer gemeinsamen Verantwortung liegt, endlich nicht mehr darüber zu Schweigen, dass auch die eignen Strukturen geprägt sind von gesellschaftlichen Machtverhältnissen.Wir erhoffen uns durch dieses Paper und der Gründung des ACATs mehr Schutz für Betroffene zu erreichen und endlich nicht mehr über Definitionsmacht und Parteilichkeit diskutieren zu müssen.Dieses Paper ist aus konkreten gegebenheiten in unserem Umfeld entstanden, es bezieht sich also erstmal auf den Großraum Frankfurt. Es stellt einen Versuch dar Prozesse innerhalb der örtlichen linken Szene anzustoßen und zusammenzuführen. Wir wissen trotzdem, dass dieses Thema auch andere Menschen in anderen Städten beschäftigt und wünschen uns hiermit Diskussionen auch andernorts anzustoßen. Das Ziel hierbei soll sein eine überreginale Vernetzung aufzubauen, um einen kollektiven Umgang mit sexualisierter Gewalt innerhalb der linken Szene zu fördern und eine Diskussion darüber größer werden zu lassen.  Paper zur Aufarbeitung und Verantwortungsübernahme sexualisierter Gewalt ACAT – Allgemeines Community Accountability Treffen 2020 Wir verwenden den Begriff "Täter" um einerseits darauf aufmerksam zu machen, dass am meistens Männer die gewaltausübende Person sind und auch eine strukturelle Patriarchatskomponente dahinter liegt. Wir beschäftigen uns hier explizit mit sexualisierter Gewalt und verwenden deshalb nicht den Begriff "gewaltausübende Person", da dies auch auf allgemeinere Gewaltausübung bezogen werden kann.Wir sprechen immer von "den Tätern/die Täter" und "die Betroffenen" um mit dem Plural klar zu machen, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt und die geschlechtliche Konnotation zu schwächen, die im Singular mitschwingt. Was ist sexualisierte Gewalt? "Sexualisierte Gewalt ist eine individuelle, alters- und geschlechtsunabhängige Grenzverletzung. Sie geht vor allem, aber nicht ausschließlich, von Cis-Männlichkeiten aus. Sie bezeichnet jede sexuelle Handlung, die an einer*m Anderen entweder gegen der*ssen Willen vorgenommen wird, oder der sie*er […] nicht zustimmt." (Präventionskonzept des BDP) Dabei kommt es oft dazu, dass von Tätern Autoritäts-/Vertrauenspositionen bzw. ihre Macht genutzt wird, um ihre eigenen Bedürfnisse auf Kosten der Anderen zu befriedigen. Durch sexualisiertes Verhalten wird Macht auf Andere ausgeübt, und Grenzen werden, bewusst oder unbewusst bzw. absichtlich oder nicht, überschritten. Die Ursachen und Gründe für sexualisierte Gewalt sind verschieden, jedoch stehen sie in einem allgemeinen patriarchalen Kontext der Gesellschaft und sind Instrumente patriarchaler Herrschaftsverhältnisse. Häufig steht sexualisierte Gewalt in Verschränkung mit anderen Herrschaftsformen, bspw. Rassismen, Ableismen und Heterosexismen. Oft können Altersunterschiede, sowie soziale bzw. finanzielle Machtpositionen eine Abhängigkeit erschaffen, in der übergriffiges Verhalten vereinfacht wird. Auch kann ein Umfeld von Tätern sowie Betroffenen Personen Teil davon sein, dass übergriffiges Verhalten verschleiert, entschuldigt und befähigt wird.Grundsätzlich wird bei sexualisierter Gewalt oft zwischen den zwei Kategorien "Hands-On" und "Hands-Off" unterschieden. "Hands-Off" grenzt dabei die Formen von Übergriffigkeit und (sexualisierter) Gewalt ein, die "nur durch psychischen Kontakt ausgeübt werden. "Hands-On" umfasst körperliche Grenzverletzungen und sexualisierte Gewaltformen. Körperliche und psychische Grenzverletzungen lassen sich zwar nicht generell klar trennen, jedoch kann diese Kategorisierung in "Hands-On" und "Hands-Off" ein Benennen sexualisierter Gewalt erleichtern. Die Benennung, die gewählten Ausdrücke und Worte etc. für die Grenzverletzung liegen letztendlich bei den Betroffenen. Diese definieren ein Vorliegen sexualisierter Gewalt.Im nächsten Absatz wird das Konzept der Definitionsmacht genauer erklärt.Wir richten uns mit diesem Paper explizit gegen sexualisierte Gewalt und schlagen Strategien im Umgang damit vor. Darüber hinaus sprechen wir uns klar gegen jegliche Form von Diskriminierung aus. Sexismus und Rassismus, sowie die generellen Verschränkungen und Überschneidungen von Diskriminierungsformen sind die langanhaltende Grundlage patriarchaler-sexualisierter Gewalt und müssen deshalb auch bekämpft werden, in einem Kontext, in dem sich gegen sexualisierte Gewalt gewendet wird. Unverhandelbare Grundsätze:    Wir als Verfassende geben hier keine genauen Definitionen. Die solidarische Beschäftigung mit dem Paper sollte mit einbeziehen, die Konzepte, die unten erläutert werden, zu diskutieren und auf den eigenen Kontext anzuwenden. Transformative Justice / Community Accountability "Der Ansatz von Community Accountability ist nicht nur der Transformation gewaltvollen Verhaltens einzelner Menschen verpflichtet, sondern strebt eine Veränderung des gesamten Umfeld und der jeweiligen communities an" (Transformative Justice Kollektiv Berlin in CARA: Das Risiko wagen). Es geht darum Räume außerhalb von Staat und Justiz zu ermöglichen, in denen eine Verantwortungsübernahme möglich ist, und die Definitionsmacht bei der betroffenen Person liegt. Dieses Paper baut auf den Konzepten "transformative justice" (Transformative Gerechtigkeit) und "community accountability" (Verantwortungsübernahme des (sozialen) Umfelds/ der Gemeinschaft) auf. Transformative Justice wurde, hauptsächlich von Frauen* und trans* Personen of Color in den USA, entwickelt, um Räume außerhalb der staatlichen Institution und Repression zu schaffen. Diese haben die Erfahrung gemacht, dass sie sich nicht auf die Polizei und das Rechtssystem verlassen können, da ihre Anliegen nicht ernst genommen werden bzw. dieses Rechtssystem und die Polizei sie diskriminiert.In der Rechtsprechung gilt der Grundsatz: Im Zweifel für die*den Angeklagte*n und, dass eine Person als unschuldig gilt, bis das Gegenteil bewiesen wird. Diese objektive Rechtsprechung ist in Fällen sexualisierter Gewalt nicht zielführend, da es in diesen Fällen um subjektive Grenzüberschreitungen geht, die in vielen Fällen einer rechtlich akzeptierten Beweislage entbehren.Das führt häufig dazu, dass die Sicht von Betroffenen nicht ernst genommen wird und ihnen ihre Erfahrungen abgesprochen werden. Nicht nur in der Justiz. Das Prinzip dieser Rechtsprechung existiert auch in der Gesellschaft. Dem von Betroffenen erbrachten Vorwurf, eine Person habe sexualisierte Gewalt ausgeübt, wird mit Skepsis begegnet, oft unter dem Vorwand, Angeklagte vor Diffamierung zu schützen. Letztendlich werden damit jedoch präventiven Maßnahmen Steine in den Weg gelegt. Betroffene Personen fühlen sich stattdessen diffamiert und fortlaufender Angst ausgesetzt und übergriffiges Verhalten reproduziert sich, da sich keine Möglichkeiten der Reflexion ergeben.Wir sind kein Gericht ; uns geht es nicht um Bestrafung, sondern um Verhaltensänderung. Es geht darum, so zu handeln, dass Betroffenen sexualisierter Gewalt geholfen wird und diese sich sicher fühlen können. Uns geht es nicht darum, dass sie erstmal in irgendeine Art besagte "objektive" Beweislage schaffen müssen. In Fällen von sexualisierter Gewalt gibt es keine Objektivität, da Grenzüberschreitungen an sich schon eine subjektive Erfahrung sind.Wir lehnen dieses System von Justiz und Polizei ab, sie sind Grundpfeiler von Patriarchat und Unterdrückung. Definitionsmacht Definitionsmacht besagt, dass die Definition, wann ein Übergriff passiert, allein bei der betroffenen Person liegt.Unabdingbar für unser Präventionskonzeptkonzept ist eine feministische Grundhaltung, die zuallererst Betroffene schützt und diese diskussionslos als glaubwürdig anerkennt. Dazu gehört auch, sexualisierte Grenzüberschreitungen, egal welcher Form, nicht kleinzureden, sondern als Problem zu benennen.Definitionsmacht muss keine Sanktionsmacht miteinschließen, jedoch müssen die Subjektivität und die Anerkennung der Definition der betroffenen Person im Zentrum stehen. Ebendiese Parteilichkeit wird des Öfteren kritisiert, jedoch ist sie unabdingbar für eineAusgangssituation, die Schutz für Betroffene und Reflexionsansätze für gewaltausübende Menschen ermöglichen. Parteilichkeit Parteilichkeit bedeutet dabei, solidarisch mit den von sexualisierter Gewalt Betroffenen zu sein. Wir verstehen darunter eine Grundhaltung, die essentieller Teil einer aktiven feministischen Praxis ist. Grundlage dabei ist, die Definitionsmacht und Subjektivität der betroffenen Person anzuerkennen. Dadurch wird gewährleistet, dass Unterstützung so früh wie möglich die Menschen erreicht, die sie brauchen und die Gefahr, dass sexualisierte Gewalt ignoriert oder von Außenstehenden unbemerkt wiederholt wird, möglichst gering bleibt. „wenn du nicht parteilich mit der Betroffenen bist, bist du es automatisch mit dem Täter. Eine neutrale Position ist unmöglich, denn Schweigen hilft dem Täter "ungeschoren" davon zu kommen. Dem Täter genügt das schweigen. Für die Betroffene bedeutet das Rechtfertigungsdruck und Beweisbringung“(re.ACTion: Antisexismus reloaded, Unrast 2007) Forderungen an Täter / Prozesse Die Forderungen, was konkret geschehen soll, gehen von den Betroffenen aus. Das bedeutet, dass die Betroffenen und ihre Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen. Es bedeutet nicht, dass sie alles, was passieren soll, allein entscheiden müssen. Es ist gut über die Sinnhaftigkeit und das Ziel der Auseinandersetzung auch gemeinsam zu diskutieren. Den Betroffenen soll aber nicht die Entscheidungsmacht genommen werden. Die Auseinandersetzung kann in verschiedenen Formen passieren. Diese Formen gilt es individuell zu finden, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme von passender Lektüre.In erster Linie soll es dabei nicht darum gehen, einzelne Personen als Täter zu markieren und für immer aus emanzipatorischen Räumen oder Szeneorten auszuschließen. Vielmehr soll ein Veränderungsprozess angestoßen werden und dafür gesorgt werden, dass Täter ihre eigene Verantwortung anerkennen, Eigeninitiative zur Aufarbeitung der Geschehnisse ergreifen und übergriffiges Verhalten nicht wieder vorkommt. Es geht um Reflektion und darum, sichere Räume für Betroffene herzustellen.Ein vorläufiger Ausschluss aus manchen, nicht zwangsläufig allen Strukturen, kann in vielen Fällen während des Prozesses trotzdem notwendig sein, um die Betroffenen und andere zu schützen. Auch das hängt von den Forderungen der Betroffenen und den Sicherheitsvorstellungen der Community ab. Besonders wenn der Täter sich weigert sich mit seinem Verhalten auseinander zu setzten. Wenn Fortschritte erzielt und Forderungen erfüllt wurden sollte aber auf irgendeine Weise eine Rehabilitation stattfinden. Die Community sollte (z.B durch die Tätergruppe) darüber informiert werden.Gemeinsame Verantwortungsübernahme heißt in diesem Zusammenhang: Die Betroffenen, sowie Ausübende sexualisierter Gewalt stehen nicht im leeren Raum. Eine antisexistische Gemeinschaft muss sich fortwährend mit Sexismus, Gewalt und Macht in den eigenen Strukturen auseinandersetzen und gegen übergriffiges Verhalten vorgehen. Dazu gehört auch, eigene Dominanz- und Mackerkulturen zu hinterfragen und sich regelmäßig mit Konsens zu beschäftigen; wir sollten nicht nur Feuerwehrstrukturen haben, die dann greifen, wenn bereits ein Übergriff passiert ist, sondern eine Gemeinschaft aufbauen, die auf Prävention setzt und in der sexualisierte Übergriffe keine Norm mehr sein können.Für uns ist dies ein gesamtgesellschaftliches Ziel.Wie die einzelnen Prozesse aussehen und ob es Strukturen gibt, an die man sich wenden kann, muss jede einzelne Struktur je nach ihrem Aufbau selbst entscheiden, das können und wollen wir nicht vorgeben.In schweren Fällen sexualisierter Gewalt besitzt die Community wahrscheinlich nicht die Expertise für die Auseinandersetzung mit Betroffenen sowie Ausübenden sexualisierter Gewalt. Professionelle Begleitung ist oft ratsam.Wenn es von der betroffenen Person gewünscht ist, kann es eine Option sein, sogar die Bullen zu rufen oder den Täter anzuzeigen. Warum es einen Konsens zu diesem Thema geben sollte:    Dieses Paper ist entstanden, um deutlich zu machen, dass die Thematik uns alle etwas angeht. Auch linke Strukturen sind nicht frei von männlicher Dominanz und Gewalt. Leider wird das immer wieder ausgeblendet oder gedacht, man selbst oder das eigene Umfeld sei davor bewahrt. Eine häufige Tendenz in einer linken Szene mit antisexistischem Anspruch ist es, sexualisierte Gewalt als „barbarisches Randphänomen“ zu sehen. Dabei werden eigene Grenzüberschreitende Tendenzen und Sexismen nicht reflektiert und es muss immer wieder der gleiche Prozess angestoßen werden, die gleichen Diskussionen geführt werden. Oft fehlt das nötige Know-How, mit Fällen von übergriffigem Verhalten umzugehen. Meist sind es FLTI*s, die sich auskennen, Prozesse anstoßen und ein Großteil der strukturellen sowie emotionalen Arbeit tragen. Somit ist es uns wichtig, der Vereinzelung etwas entgegen setzen zu können und Strukturen, die Schutz und Solidarität bieten, zu bilden und zu stärken. Zudem soll erreicht werden, dass cis-Männer sich mehr mit dem Thema (von sich aus) beschäftigen.Dabei erhebt dieses Paper keinen Anspruch an Vollständigkeit, und soll auch nicht unbedacht übernommen werden. Vielmehr dient es dazu, dieses Gespräch weiterzuführen, sich mit unseren Vorschlägen bezüglich themenbezogener Medien zu befassen, jedoch auch neue beizutragen und kritisch zu bearbeiten.Wir hoffen dadurch eine Diskussion in der Szene anregen zu können, denn über sexualisierte Gewalt darf nicht geschwiegen werden!Dieses Paper soll von Anfang an zeigen, wo sich solidarische Strukturen befinden, an die sich ohne Angst vor Diskussion oder Rechtfertigung gewendet werden kann. Die betroffenen Personen sollen wissen, wo sie hingehen können und von wem sie Unterstützung erfahren. Wir fordern nach der Heraus- und Weitergabe dieses Papers eine Positionierung oder noch besser (gerade bei Räumen, die Veranstaltungen hosten) ein eigenes ausgearbeitetes Konzept der jeweiligen Räume und Projekte, denen wir es haben zukommen lassen. Mit Absicht haben wir keine Beispiele gegeben und Dinge ungenau gelassen, es soll eure Aufgabe sein, das hier angerissene auf eure Situation zu beziehen und herauszufinden was es in der Konsequenz für euch bedeutet.
   Bücherliste (unvollständig):

  • Was macht uns wirklich sicher? Melanie Brazell, edition assemblage
  • Was tun bei sexualisierter Gewalt? RESPONS, Unrast Verlag
  • Antisexismus_reloaded, reACTion (Hg.), Unrast Verlag
  • Nichts was uns passiert (Roman), Bettina Wilpert
  • Antisexistische Awareness, Ann Wiesenthal, Unrast Verlag
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