Die radikale Unfähigkeit des Kapitalismus, ein (gutes) Leben zu garantieren – Ambivalenzen, Widersprüche und linksradikale Forderungen in der Corona-Krise

Ein vehementer Angriff erschüttert derzeit den Globus: das Corona-Virus, das tödliche Konsequen-zen mit sich bringen kann, versetzt viele Menschen in Angst und Panik und stellt scheinbar alle sozialen Gewissheiten in Lichtgeschwindigkeit auf den Kopf. Auch die Welt der Autor_innen steht derzeit Kopf – der folgende Text versammelt einige Gedanken, Perspektiven und Forderungen, ist aber nur bedingt stringent und deckt sicher nicht alle relevanten Themenfelder ab. Neben der ambivalenten Rolle des Staates in der Corona-Krise wollen wir auch auf die Ebene des Subjektes eingehen und zum Ende einige politische Forderungen formulieren.

Die radikale Unfähigkeit des Kapitalismus, ein (gutes) Leben zu garantieren – Ambivalenzen, Widersprüche und linksradikale Forderungen in der Corona-Krise

„Ein Gespenst geht um in der Welt – das Gespenst des Corona-Virus“
(Christian Drosten) [1]

Ein vehementer Angriff erschüttert derzeit den Globus: das Corona-Virus, das tödliche Konsequen-zen mit sich bringen kann, versetzt viele Menschen in Angst und Panik und stellt scheinbar alle sozialen Gewissheiten in Lichtgeschwindigkeit auf den Kopf. Auch die Welt der Autor_innen steht derzeit Kopf – der folgende Text versammelt einige Gedanken, Perspektiven und Forderungen, ist aber nur bedingt stringent und deckt sicher nicht alle relevanten Themenfelder ab. Neben der ambivalenten Rolle des Staates in der Corona-Krise wollen wir auch auf die Ebene des Subjektes eingehen und zum Ende einige politische Forderungen formulieren.

Gesunder Kapitalismus?
Die kapitalistische Gesellschaft ist bekanntermaßen auf Profit ausgerichtet: das Kapital beutet die Arbeiter_innen aus und eignet sich den von ihnen produzierten Mehrwert an. Der Staat ist, kurz gesagt, für die Gewährleistung der Rahmenbedingungen der Kapitalakkumulation zuständig. Dazu gehört auch die Gesundheit der Bevölkerung, an welcher der Staat prinzipiell ein Interesse hat, um sowohl die Produktion als auch Reproduktion der Gesellschaft zu gewährleisten. Zu diesem Zweck unterhält der Staat in Deutschland etwa kommunale Gesundheitsämter, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und weitere nachgeordnete Bundesbehörden. Zudem existiert ein hochkomplexes Gesundheitswesen, das im Wesentlichen von den Krankenkassen und medizinischen Akteuren (Ärzteverbänden, Kliniken etc.) selbst verwaltet wird und für das der Staat lediglich die Rahmenbedingungen setzen soll.

Die letzten Jahrzehnte waren geprägt von einem Rückzug des Staates aus weiten Bereichen der Daseinsvorsorge bei gleichzeitiger autoritärer Formierung in Form des Ausbaus von Polizei, Militär und Überwachung. Im Zuge dieser Transformation seit den 1980er Jahren wurden auch in vielen Ländern der Welt die Gesundheitssysteme – analog zur Waren-Produktion – auf JustInTime-Systeme umgestellt. So wurden etwa Bettenkapazitäten abgebaut und die „blutige Entlassung“ nach Operationen eingeführt, Fallpauschalen eingeführt, Personal und Labore eingespart sowie Kliniken und Pflegeheime privatisiert. Eine Entwicklung die u.a. dazu führte, dass Menschen in Pflegeheimen mitunter vor sich hin vegetieren, während zugleich Pflegeheim-Ketten zu den profitabelsten Kapital-Anlagen avancierten. Das Virus trifft damit – zumindest in Deutschland – auf ein auf Kante genähtes , profit-orientiertes Gesundheitssystem, das seit Jahren ohne große Konsequenzen im Modus des Pflege-Notstandes läuft.

Starker Staat …!?
Wie reagiert nun der Staat? Im bekannten kapitalistischen Krisen-Modus wird das Parlament und die politische Opposition wie auch die kritische Zivilgesellschaft (ganz zu schweigen von der außer-parlamentarischen Linken) quasi umgehend bedeutungslos. Bundesweite politische Akteure er-scheinen hauptsächlich in Person der Kanzlerin, einzelner Bundesminister sowie der Ministerpräsidenten. Sie treffen ihre Entscheidungen unter Einbezug des medizinischen Experten-Wissens, personalisiert durch den neuen Posterboy der Nation, den Virologen Christian Drosten. Expert_innen anderer Berufszweige (Politikwissenschaftler_innen, Jurist_innen, Psycholog_innen etc.), geschweige denn dissidente Meinungen, finden kaum noch Gehör.

D.h. die Exekutive regiert weitgehend durch und bedient sich dabei stark des Instruments der Ver-ordnung, die im Gegensatz zum Gesetz nicht das Parlament passieren müssen. Das Parlament als der klassische Ort der Selbstreflektion der bürgerlichen Gesellschaft ist somit weitgehend ausgehebelt. Wo der Bundestag doch noch einbezogen wird, winkt er größtenteils in vorauseilendem Gehorsam eilig formulierte Gesetze durch. Aktuell wurde am 24.03.2020 die Überwindung des föderalistischen Prinzips auf der Ebene des Infektionsschutzes von einer breiten Mehrheit verabschiedet, nur AfD und Linkspartei enthielten sich. Mit diesem „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ hat die Bundesregierung Kompetenzen der Länder an sich gezogen, weitreichende (digitale) Überwachungsbefugnisse installiert sowie die Gesundheitsämter zur Umsetzung verschärfter Ausgangssperren und Ortsverbote befähigt. Nur ein Beispiel von Mehreren, das zeigt, wie Grundrechte wie das Recht auf Bewegungsfreiheit und auf informationelle Selbstbestimmung derzeit ohne wirklichen Widerspruch beschnitten werden.

Zugleich verfolgt die Bundesregierung eine offen nationalistische Politik, die ebenfalls loyal von großen Teilen der Bevölkerung mitgetragen wird. Anfang März hatte ausgerechnet der Exportwelt-meister Deutschland ein zweiwöchiges Verbot des Exports medizinischer Schutzausrüstung ins Ausland erlassen. Dieses Verbot wurde in der zweiten Märzhälfte durch eine EU-Verordnung gekippt, die nun wieder einen Export ermöglicht – allerdings nur innerhalb des EU-Binnenmarktes. Zudem wurden in den letzten Wochen immer mehr Grenzen zu den Nachbarländern Deutschlands geschlossen. Offenbar ging Berlin im Alleingang vor und hat damit das Schengener Abkommen ausgehebelt, zum Ärger der offiziellen Politik Frankreichs und Italiens. Nicht einmal deren diplomatische Kritik an der Bundesregierung wird hierzulande noch zur Kenntnis genommen Dabei handelt es sich bei den Grenzschließungen um eine komplett ideologische Maßnahme, die keine epidemiologische/medizinische Evidenz im Kampf gegen die Pandemie hat. Es geht lediglich um das Signalisieren von Handlungsmacht und Souveränität, wohl auch um rassistischen Befürchtungen bezüglich eines zweitens 2015 (Einreise hunderttausender Geflüchteter) zuvor zu kommen.

Im Zuge der autoritären Formierung der letzten Jahre wurde auch ein weiterer Akteur der Exekutive weiter gestärkt: die Polizei. Sie mauserte sich oft zum eigenständigen politischen Player, etwa in der Hetze gegen linke Bewegungen (vgl. Connewitzer Silvesternacht). Die Polizei wird nun auch die bundesweiten Ausgangsbeschränkungen durchsetzen und es wird zu beobachten sein, wie sie hier agiert. Erste Erfahrungen aus Frankreich zeigen eine hohe Aggressivität der flics und eine Fokussierung auf die Stadtteile der sozial Benachteiligten. In Deutschland scheint bisher allein die starke Polizei-Präsenz auf der Straße schon einschüchternd auf die Untertanen zu wirken. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Personengruppen wie PoC, Wohnungslose und Drogenkonsument_innen, die vorher schon im Fokus der Repression standen, nun noch stärker polizeilich drangsaliert werden.

Parallel zu den repressiven Formaten werden von der Politik ungewöhnlich umfangreiche Finanz-Programme aufgelegt, die sich an Banken und Unternehmen richten, aber auch einige Härten der Corona-Krise für kleine Selbstständige, Mieter_innen etc. auffangen sollen. Plötzlich fällt etwa die Vermögensprüfung auf Grundsicherung weitgehend weg, die lange ein fester Pfeiler des Verar-mungsprogramms HartzIV war. Jedoch wurden diese Erleichterungen wohl vor allem installiert, um die kommende Antragsflut überhaupt durch die Jobcenter bewältigen zu können, sowie um möglichen sozial unerwünschten Folgen der Verarmung breiter Schichten (Anstieg von Suiziden und selbstschädigendem Verhalten, erhöhte Kriminalität, Verrohung etc.) entgegen zu wirken. Wie weitreichend einzelne Maßnahmen auf den ersten Blick auch scheinen: sie können die tiefen ökonomischen Einschnitte des derzeitigen Ausnahmezustands mit Sicherheit nicht ausgleichen, maximal etwas abmildern.

Reaktionäre Begleitrhetorik

Begleitet wird die Krise von einer politischen und medialen Rhetorik des Ausnahmezustands, des Appellierens an Gemeinschaft und Solidarität, des Durchhaltens und Engagements. Mehr oder weniger offen wird eine Nationalisierung des Diskurses betrieben, wenn etwa die Kanzlerin in ihrer An-sprache von einer „Herausforderung an unser Land“ wie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr spricht. Als ob der 2. Weltkrieg wie eine Naturkatastrophe über die Deutschen hereingebrochen wäre und nicht ein von ihnen initiierten Vernichtungskrieg gewesen wäre. Auch kulturindustriell wird schwarz-rot-gold gewedelt, wenn etwa der Rapper LGoony plötzlich „Desinfektion“ auf „Nation“ reimt und Capital Bra an sein Publikum als „Deutsche“ (sowie „Österreicher und Schweizer“) appelliert. Vom rechten Rand werden fleißig rassistische Projektionen auf Asiat*innen und Geflüchtete sowie antisemitische Verschwörungstheorien in Umlauf gebracht. In SocialMedia sind diese Feindbilder derzeit durchaus relevant. Die diversen angeblichen oder tatsächlichen „Nachbarschaftshilfen“ von Rechts sind derzeit von uns in ihrer Wirkmächtigkeit noch nicht einzuschätzen. In den etablierten Medien spielen AfD und Co. hingegen im Gegensatz zu den letzten Jahren kaum eine Rolle.

… schwacher Staat!?

Die aktuelle Tendenz zum autoritären Maßnahmenstaat ist deutlich zu kritisieren, zumal die vor Kurzem noch unvorstellbare Repression durch ein gutes Gesundheitswesen, ein frühzeitiges Ernstnehmen der nahenden Pandemie, die massenhafte Ausweitung von Tests etc. zu vermeiden gewesen wäre. Es wäre jedoch zu eindimensional, den Staat nur als allmächtige Unterdrückungsmaschine zu betrachten, der die Krise inszeniert, um sein Repressionsarsenal auszubauen. Das psychische wie physische Leid, das durch Corona hervorgerufen wird, ist fucking real! Schwere Lungenentzündungen, heftige Atemnot, hohes Fieber und elender Zustand über Tage oder Wochen – so sieht die Bilanz für viele der Erkrankten aus. Für einen nicht unbeträchtlichen Teil der Infizierten werden klinische Behandlungen, künstliche Beatmung und Behandlung auf der Intensivstation notwendig. Schlussendlich bedeutet Corona für einen von Region zu Region variierenden Anteil der Infizierten den Tod. Vor Allem ältere und chronisch kranke Menschen sind von solchen gravierenden Verläufen bis hin zum tödlichen Ausgang betroffen. Aber auch für jüngere Menschen kann eine Corona-Infizierung mitunter massive akute und ggf. auch chronische Folgen haben.

Der Staat ist daher neben seiner gewaltförmig-repressiven Seite mindestens ebenso für sein Ver-sagen, den Schutz und die Gesundheit der Einzelnen zu gewährleisten, zu kritisieren. Im österreichischen Ischgl wurde etwa die Corona-Welle lange nicht thematisiert, um den Ski-Tourismus nicht zu gefährden. Am Beispiel Ischgl zeigt sich unter dem Brennglas, wie Kapital und Staat die Gesundheit vieler Menschen zugunsten des Profits opfern. Auch in China wurden tausende Menschenleben geopfert, nicht weil der Staat zu repressiv handelte, sondern weil er zu spät eingriff – und auf frühe Warnungen nicht hörte bzw. diese sogar aktiv unterdrückte. Ebenso wurde der Virus in faschistoiden Regimen wie dem Iran nicht ernst genommen, sondern sogar geleugnet, oder die Ausbreitung noch befördert durch religiöse Praxen wie das Besuchen von heiligen Stätten. Die staatliche Autorität hat in diesen Fällen also nicht den Virus instrumentalisiert, um die Dissidenz niederzuhalten, sondern im Gegenteil hat sich der Staat hier mit dem tödlichen Virus gegen die Bevölkerung verbündet. Derartige staatliche Untätigkeit und verzögerte Krisenbekämpfung wird zehn-, vielleicht hunderttausenden oder mehr Menschen das Leben kosten.

… Staat des Kapitals!
Der Staat zeigt sich so betrachtet zugleich als starker und als ohnmächtiger Staat, der die Unversehrtheit der Menschen nicht garantieren kann, da er unter dem Primat des Kapitals steht. Selbst jetzt, wo in Deutschland beinahe das komplette soziale Leben still gelegt wird – sogar Friedhöfe wurden geschlossen – wird die Arbeitspflicht nicht ausgesetzt. Die deutsche Ontologie der Arbeit macht den Gedanken, dass nun einmal die Produktion komplett stillstehen muss, offenbar undenk-bar. Das führt zu absurden Szenen, wenn etwa die Polizei Menschen, die allein im Park sitzen, verwarnt, und wenige Meter weiter aber Bauarbeiter_innen in engen Gruppen zusammenstehen oder ein Meeting in geschlossenen Büroräumen stattfindet.

Die Ausgangsbeschränkungen gelten also „nicht der wertschöpfenden Tätigkeit, sondern der Lust. Dabei stehen die einzelnen Spaziergänger … wohl kaum im Verhältnis zu den Virenherden Büro und Produktionsstraße.“ Von der Linken sollte daher „auf den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit geblickt werden und die Kapitalisten zur Rechenschaft gezogen werden, da hier Arbeiter entweder Gesundheit oder Lohn riskieren.“ [2] Wie in Deutschland nicht anders zu erwarten, reagieren die Gewerkschaften jedoch vorwiegend handzahm. Ein von weiten Kreisen geteilter Aufruf zum Generalstreik wie in Italien ist hierzulande kaum vorstellbar. Die proletarische Passivität wird sich vermutlich noch deutlich rächen. Dabei ginge es aus Sicht der Arbeiter_innen nicht allein um das Ansteckungsrisiko in den Betrieben und Büros! Auch die noch relativ privilegierten Mittelschichts-Angehörigen, die im HomeOffice arbeiten, leiden massiv unter der dauernden Kinderbetreuung aufgrund der Kita- und Schulschließung, der mannigfaltigen Aufhebung der Trennung von Privatem und Beruflichen sowie dem Zwang, sich in einer psychischen Ausnahmesituation auf Lohnarbeit zu konzentrieren.

… Einvernehmen mit dem Tod als Einvernehmen mit dem Staat
Seit einigen Tagen ist das Kapital nun auch propagandistisch erneut in der Offensive und findet in der bürgerlichen Presse wieder Gehör. So fragte Alexander Dibelius, einflussreicher Manager und früherer Deutschlandchef der Investmentbank Goldman Sachs, im Interview mit dem Handelsblatt am 24.03.2020: „Ist es richtig, dass zehn Prozent der – wirklich bedrohten – Bevölkerung geschont, 90 Prozent samt der gesamten Volkswirtschaft aber extrem behindert werden“ – dies „mit der unter Umständen dramatischen Konsequenz, dass die Basis unseres allgemeinen Wohlstands massiv und nachhaltig erodiert?“ Der drohende Tod zahlloser Älterer und chronisch Kranker ist für diese Gesellschaft eben noch lange kein valides Argument, den (ökonomischen) Betrieb einmal auf Pause zu stellen. Wie in den schon lange währenden Diskursen um „Priorisierung“ im Gesundheitswesen und die Frage nach der Bezahlbarkeit künstlicher Hüftgelenke für alte Menschen zeigt sich hier auch ein sozialdarwinistisches Element: die für das Kapital sowieso nicht oder nur marginal verwertbaren „Risikogruppen“ sollen dem tödlichen Risiko ausgesetzt werden, um nicht den eigenen Profit zu gefährden. „Bis in hochgebildete und standesgemäß linksliberale Kreise hinein herrscht die Überzeugung vor, dass es schon irgendwie okay und verschmerzbar ist, wenn Alte und Kranke früher sterben. Noch wie in der Kindheit stehe ich allein mit meinem Entsetzen, wenn von Frischverstorbenen quasi entschuldigend gesagt wird, sie seien immerhin ‚schon sehr alt gewesen‘ – so als hätten sie vielleicht nicht noch Bock auf ein, zwei Nachmittage mit Likör gehabt.“ (Leo Fischer).

Am 25.03. wird die sozialdarwinistische Position, man müsse aussichtslos Kranke zugunsten von Menschen mit besseren Überlebensaussichten sterben lassen, von Seiten ärztlicher Fachgesellschaften und sogenannter Medizinethiker auch fachlich legitimiert: „Wenn nicht mehr alle kritisch erkrankten Patienten auf die Intensivstation aufgenommen werden können, muss analog der Triage in der Katastrophenmedizin über die Verteilung der begrenzt verfügbaren Ressourcen entschieden werden“, heißt es. Es sei „unausweichlich“, eine Auswahl zu treffen, welche Personen akut- oder intensivmedizinisch behandelt werden „und welche nicht (oder nicht mehr).“ [3] Implizit sind damit v.a. alte Menschen, aber auch Menschen mit Behinderung oder schweren Krankheiten gemeint. Der in kapitalistischer Sicht gegen Null tendierende Wert der Alten und Kranken wird so in den nächsten Wochen fortlaufend gegen den kapitalistischen Mehr-Wert abgewogen werden. Es steht zu befürchten, dass sich die Interessen des Kapitals durchsetzen werden, wenn nicht endlich deutliche Gegenstimmen laut werden.

Im Gegensatz zu manch anderen Kämpfen, in denen sehr klar Stellung bezogen wird, scheint die Linke konfus und indifferent angesichts der eklatanten sozialdarwinistischen Menschenverachtung des Kapitals. Klare Positionen können hingegen aus älteren Schriften der Kritischen Theorie bezogen werden: „Der Tod ist die größte Angst des Menschen. Das Projekt der Aufklärung ist, von den Menschen die Angst zu nehmen“ (Theodor W. Adorno/Max Horkheimer). Der Tod ist der Kritischen Theorie zufolge die „härteste Gegenutopie“ (Ernst Bloch). Das aktive Einverständnis mit dem Tod zahlreicher Menschen bedeutet „Einvernehmen mit dem Herrn über den Tod: der Polis, dem Staat, der Natur oder dem Gott“ (Herbert Marcuse). Vor einigen Jahren warnte der Text „16 Thesen zum Scheitern der Linken am Tod“ in drastischen Worten, die sich angesichts der Corona-Krise besonders aktuell lesen: „Die heutigen Diskussionen um ‚lebenswertes‘ Leben teilen ihre Grundlage mit dem nationalsozialistischen Denken: das identifizierende, bürgerliche Bewusstsein, das Menschen auf ihre Verwertbarkeit hin unterteilt und alles (vermeintlich) Andersartige als Bedrohung wahrnimmt. Die Unterscheidung von ‚wertem‘ und ‚unwertem‘ Leben ist auch in den heutigen Todesdiskussionen, etwa um Sterbehilfe, Patient_innenverfügung, Organspende aber auch Pränataldiagnostik etc. präsent.“ [4]

Vertiefung gesellschaftlicher Widersprüche
In der Krise spitzen sich auch jenseits des engen Terrains des Gesundheitswesens die gesellschaftlichen Widersprüche zu. Die Spaltung in Deutsche und Migrant_innen verschärft sich etwa, wenn als asiatisch gelesene Menschen auf der Straße angegriffen werden – aber auch die strukturelle Benachteiligung, wenn etwa lebensnotwendige offizielle Informationen zu Corona vorwiegend in deutscher Sprache verfügbar sind. Die Spaltung zwischen Staatsbürger_innen und Geflüchteten verschärft sich zudem insbesondere durch deren rechtliche Schlechterstellung und Lager-Unterbringung, welche die Ansteckungsgefahr wie auch die Dimensionen der Quarantäne exponentiell verschärft. Die Spaltung von Besitzenden und Besitzlosen verschärft sich, wenn sich etwa Vermögende auf Landsitze zurückziehen und Privatkliniken in Anspruch nehmen können, während arme Menschen auf beengtem (urbanen) Raum miteinander leben müssen. Oder gar als Obdachlose kaum noch Zugang zu Essen, Geld, Finanzen und Übernachtungsmöglichkeiten finden. Und wenn auch einige – bei Weitem nicht alle – der als „systemrelevant“ deklarierten Berufe wie die Pflege oder Supermarktpersonal weiblich codiert sind, verschärft sich in der Krise auch der patriarchale Charakter der Gesellschaft. Insbesondere die Schließungen von Kitas und Schulen verstärken den Reproduktionsdruck und zwingen vielen Frauen, die Kinder betreuen, extraordinäre Zusatzbelastungen auf. Erfahrungen aus China zeigen zudem, dass es hier durch den Lockdown zu einem Anstieg häuslicher Gewalt kam – erste Zahlen der Berliner Polizei von Ende März deuten auf eine vergleichbare Entwicklung in Deutschland hin.

Die sozialen Folgen der Ausgangsbeschränkungen sind derzeit noch nicht abzusehen. Jedenfalls müssen die Menschen, die nun ggf. aufgrund von psychische Belastungen in den Suizid getrieben werden, die Junkies die an unreinem Stoff sterben, die Menschen denen nun reguläre Gesundheitsleistungen nicht mehr zugänglich sind, oder diejenigen, deren Gesundheit durch die plötzliche Verarmung belastet wird, als indirekte Opfer noch zu den direkten Opfer der Pandemie hinzu gezählt werden. Der Kapitalismus zeigt somit erneut seine Unfähigkeit, für ein gutes Leben zu sorgen: erst werden Gesundheitssysteme aus Profitgründen abgebaut, dann wird zu spät auf eine evidente Gefahr reagiert, und schließlich bringt die staatliche Reaktion wieder zahlreiche Menschen in existentielle Nöte.

Zwischen Klopapier und Corona-Party – Regression und Ohnmacht der Subjekte

Was bedeutet die Corona-Krise nun für die einzelnen Menschen? In der kapitalistischen Gesellschaft treten sich die Individuen objektiv als Vereinzelte gegenüber, die in Konkurrenz zueinander stehen. Als Subjekte entwerfen sie eine Selbsterzählung von einem kohärenten, mit sich selbst identischen Ich, das weitgehend autonom seine eigenen Absichten verfolgt. Was dieser Erzählung vom autonomen und rationalen Leben entgegensteht, wird verdrängt auf „die Anderen“ projiziert – so etwa in der rassistischen Figur „Die Ausländer nehmen mir die Arbeitsplätze weg“.

Wurde dieses Narrativ eines autonomen Subjekts schon in den letzten Jahrzehnten durch die zu-nehmende Prekarisierung und Flexibilisierung der Gesellschaft immer brüchiger, zerplatzt diese Erzählung nun wie eine Seifenblase. Lange gehegte Selbstverständlichkeiten – soziale Rituale wie Händeschütteln und Umarmungen zur Begrüßung, die Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum, der gesellige Austausch in der Freizeit etc. – werden in rasanter Geschwindigkeit in Frage gestellt. Die verdrängte Abhängigkeit von Dritten, die in einer globalisierten Welt tendenziell eine globale Abhängigkeit bedeutet, wird den Subjekten in der Corona-Krise schockartig vor Augen geführt. Sogar die kurzfristige Planung der kommenden Tage gestaltet sich äußerst prekär. Die scheinbare Naturkatastrophe bricht über die Einzelnen in Form der ununterbrochenen Informationsflut der medialen Live-Ticker und Timelines einher. Daraus resultiert das Gefühl eines totalen Kontrollverlustes über den eigenen sozialen Nahbereich und die eigenen Lebenspläne, eine beinahe komplette Ohnmacht.

Zum Verlust des Autonomie-Gefühls treten existenzielle Ängste und Sorgen um die ausreichende Verfügbarkeit von Lebensmitteln sowie um die angesichts des Corona-Virus ungewisse körperliche Unversehrtheit der eigenen Person wie auch vieler Nahestehender. Neben der oben erwähnten nationalistisch angehauchten Durchhalte-Rhetorik existieren kaum kollektiven Bewältigungsstrategien – öffentliche Schrei- oder Heultherapien gibt es nicht, und auch das vermittelte Ausagieren von Aggression etwa im Sportverein entfällt derzeit. Lediglich die punktuelle Solidarität etwa in Form nachbarschaftlicher Initiativen kann Manchen etwas Handlungsmacht und Sicherheit zurückgeben. Die überwältigenden und widersprüchlichen Affekte müssen daher vorwiegend im Privaten, im sozialen Nahumfeld des Freundes- und Familienkreis, oder angesichts der fortschreitenden Quarantänisierung und (Selbst-)Isolation sogar komplett allein ausgetragen werden. Das eigene Heim – wo es existiert, was im Falle von Geflüchteten, Obdachlosen, Inhaftierten etc. nicht der Fall ist – wird zur Schutz- und Trutzburg gegen den Virus, der im Außen tobt. Im Corona-Biedermeier putzen, polieren und renovieren die Deutschen ihre Wohnungen, wie sie nun ihre Hinterteile mit dem im Überfluss gehamsterten Klopapier zum Exzess abwischen können. Die Regression auf infantile Verhaltensmuster aus der Kindheit, die derzeit haufenweise stattfindet und tatsächlich Trost und Geborgenheit inmitten des Chaos stiftet, findet auf nationaler Ebene ihre Entsprechung im Putzfimmel und dem Klopapier-Hamstern: die Deutschen regredieren in der Krise kollektiv auf den analen Charakter, auf die ursprüngliche Gemeinschaftserfahrung des deutschen „Volkes“ von Sicherheit, Sauberkeit, Ordnung und Arbeit/Produktion. Dem entspricht das Ressentiment gegen die lustorientierten und ausschweifenden (angeblichen) Corona-Parties, deren Teilnehmende sich nicht Merkels Ruf nach „Verzicht und Opfer“ (22.03.2020) fügen wollen. Glücklicherweise ist der Vernichtungsimpuls im Postnazismus weit weniger stark ausgeprägt als 1933-1945. Daher geht derzeit auch keine Corona-Bürgerwehr in SA-Uniformen auf der Jagd nach „Volksfeinden“. Vielmehr prä-gen den öffentlichen Raum neben der Polizei Spaziergänger_innen und die Jogger_innen, die mit ihrer individuellen Selbstoptimierung das perfekt an die Krise angepasste, flexibilisierte Subjekt ab-geben.

Corona und die Linke
Aus der Linken gibt es bisher wenige klare Antworten auf die Corona-Krise. Auch die Linke wurde von der Pandemie komplett überrascht und paralysiert, zumal Gesundheitspolitik bis auf wenige Initiativen in der Pflege, die Bewegung gegen den §218 oder rund um die kleinen Krüppel- und Antipsychiatriebewegungen kein von links besetztes Thema ist. Offenbar fällt es vielen Linken auch schwer, die Ambivalenz der aktuellen Vorgänge zu erfassen, die nicht auf althergebrachte Nenner zu bringen ist. Entsprechend eher mager und zum Teil wirr fielen erste Stellungnahmen aus. Das Spektrum reichte von linksliberalem Sozialdarwinismus [5], die Rede von der „Corona-Hysterie“ (indymedia), vielen Aufrufen und Praxen der Nachbarschafssolidarität und Texte zur Anti-Repression bis hin zu zuletzt vermehrt erscheinenden antirassistischen, materialistischen und klassenkämpferischen Analysen. Einige wichtige Forderungen haben sich so herauskristallisiert, die wir abschließend sammeln und ergänzen möchten:

Wie könnte ein linksradikales Programm aussehen?
- Generalstreik in allen Sektoren, die nicht von akuter Relevanz sind!
Da wo weiterhin gearbeitet werden muss, um die gesellschaftliche Reproduktion und die Überwindung der Pandemie zu ermöglichen, müssen die Bedingungen radikal und sofort verbessert werden, z. B. durch Verdopplung des Lohns, konsequenten Gesundheitsschutz, Physical Distancing, Einhaltung von Pausenregeln etc. Auch die Arbeitsbedingungen im HomeOffice müssen verbessert werden. Zudem könnten die dadurch freigesetzten Zeitressourcen genutzt werden, um auf freiwilliger Basis die Reproduktion des überlasteten medizinischen und pflegerischen Personals (z. B. durch Einkaufshilfen) zu gewähr-leisten

- Sofortige radikale Aufstockung der (intensiv-)medizinischen Kapazitäten, um die drohende Überlastung des Systems und den Einsatz der „Triage“ abzuwenden!
Kein Mensch darf sterben (gelassen werden), weil sie_er alt oder krank ist! Ganzheitliche psychosoziale, medizinische und pflegerische Unterstützung für alle Alten, chronisch Kranken, Menschen mit Behinderung und psychisch Belasteten!

- Miet-Generalstreik!
Es ist angesichts der vorherrschenden finanziellen Unsicherheit nicht zumutbar, weiterhin Mieten, Hypotheken, Kredite etc. zu zahlen!

- Bedingungsloses Grundeinkommen von 3.000 Euro für Alle!
Unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. Unbürokratische Auszahlung ohne Zwang zur indivuellen Antragsstellung

- Besetzung allen Leerstand, Hotels, Büroräume!
Räume schaffen für gutes und hygienisches Wohnen für Geflüchtete, Obdachlose und alle, die jetzt in beengten Verhältnissen leben

- Antinationale Perspektiven verbreiten!
Ein Virus, der sich über physische Nähe überträgt, kann nicht mittels nationaler Grenzen bekämpft werden! Wir brauchen eine universelle, kosmopolitische Bewegung. Ein_e Corona-Tote_r in Kreuzberg, New York oder Tübingen ist genauso schlimm wie in Wuhan, Lagos oder Kairo

- (Psychische) Gesundheit als Handlungsfeld ernst nehmen und kostenlose Gesundheitsversorgung für Alle!
Gesundheit als eine wichtige Grundlage für ein gutes Leben muss stärker in den Fokus auch linker Analysen rücken. Kurzfristig bedarf es zudem des Ausbaus einer psychosozialen Unterstützungsstruktur, um die durch die Pandemie verursachten mannigfaltigen psychischen Krisen aufzufangen

- Emanzipatorische Trauerarbeit entwickeln!
Weltweit werden in den kommenden Wochen und Monaten viele Menschen durch den Corona-Virus sterben. Auch Genoss_innen werden davon nicht ausgenommen sein. Die Linke (in Deutschland) hat bisher kaum eigene Trauerrituale, Trauer ist meist religiös und/oder familiär besetzt. Ggf. kann die queere AIDS-Bewegung der 1980er-Jahre hier ein Vorbild sein.

- Sachzwänge überwinden und am Lustprinzip festhalten!
Wenn wir es wollen, ist auch unter den Bedingungen physischer Distanz Vieles möglich!

Unter dem Regime des physical distancings ist es eine besondere Herausforderung, Protest und Subversion zu organisieren. Wir freuen uns, wenn ihr diese Inhalte off- wie online im öffentlichen Raum via Transparenten, Graffiti etc. verbreitet. Eine Möglichkeit könnten auch Hashtag-Kampagnen (z. B. #corona_generalstreik), koordinierte Shitstorms gegen die Accounts der Herr-schaft oder digitale Blockaden bestimmter Websites sein. Auch kreative Aktionen gegen Ärzte- und Kapital-Verbände sowie andere reaktionäre Kräfte, die sich nun mit sozialdarwinistischen Triage-Forderungen, Hetze gegen alte und kranke Menschen und Arbeitswahn hervortun, sind im Bereich des Möglichen.

„Zart wäre einzig das Gröbste: dass niemand künstlich beatmet werden muss.“ [6]

Corona du Opfer, gib Impfung – Kapitalismus du Opfer, gib gutes Leben!
Für radikale Empathie und Zärtlichkeit. Nie wieder Profitorientierung!


gruppe 8. mai [berlin/wuhan/lagos]
achtermai.blogsport.de

 

Fußnoten:
[1] Fiktive Aussage, in Anlehnung an Karl Marx: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.“
[2] https://twitter.com/B___Walther
[3] Aus dem Ärzteblatt: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/111377/Mediziner-nennen-Kriterien... Die erwähnte Stellungnahme „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie Klinisch-ethische Empfehlungen“ stammt von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, der Deutschen Gesellschaft für Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin, der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin, der Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin, der Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin, der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin und der Akademie für Ethik in der Medizin
[4] http://somost.blogsport.de/16-thesen/
[5] „Einer der natürlichsten und für die Population gesündesten Vorgänge der Welt, das Sterben alter Individuen, wird plötzlich zu einer Ungeheuerlichkeit“, so die linksliberale Bloggerin Meike Lobo.
[6] In Anlehnung an Theodor W. Adorno: „Zart wäre einzig das Gröbste: dass keiner mehr hungern soll.“

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