Arbeit vs. Kapital: Sechs Thesen darüber, was im Donbass wirklich los ist

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Dank der immer wieder erfrischenden Facebook-Gruppe "Am Majdan gleich links" - der deutschsprachigen, gut in der Ukraine vernetzten ständigen Vertretung des Linken Sektors - bin ich auf einen Beitrag der Seite "Nihilist" gestoßen, der die Realitäten im Donbass ganz anders sieht - nämlich ohne russisch-und ukrainisch-nationale Brille, von der europäisch-linken ganz abgesehen, welche de facto meistens die russisch-nationale ist.

http://www.nihilist.li/2015/10/19/rabochie-konflikty-na-donbasse-klassovaya-bor-ba-na-fone-vojny/ [Russisch]

Hier die Hauptthesen:

 

1) Die immer wieder beschriebene Frontstellung "Separatismus" vs. "Ukrainischer Patriotismus" ist ein Scheingegensatz, der die wirklichen Interessenkonflikte im Donbass verschleiert. Ganz davon abgesehen, dass man Söldner und Gewaltunternehmer mit russischen Pässen schon aus Vernunftgründen nicht als ukrainische Separatisten bezeichnen sollte, bestehen die wirklichen Gegensätze hier immer noch zwischen Unten und Oben, zwischen Arbeit und (Racket-)Kapital. Im besetzten wie im unbesetzten Teil des Donbass.

 

2) Den Leuten im Donbass geht es angesichts himmelschreiender sozialer Zustände um elementare Herausforderungen: die Verweigerung basaler Arbeitnehmerrechte, Lohndumping und Lohnverweigerung durch die Arbeitgeber, die zusammenbrechende medizinische Versorgung, ausstehende oder gekappte Sozialleistungen. Das sind die Überlebensfragen. Wer sie zufriedenstellend lösen würde, hätte die Sympathien und die Loyalität des Donbass. Und das ist auch nicht verwerflich, anders als es die verblasene Kritik am proletarischen "Materialismus" des Donbass immer wieder äußert. Gegenwärtig lösen weder Kiew in dem ukrainisch kontrollierten - größeren - Teil des Donbass, noch Moskau und seine Marionetten im besetzten Teil diese Probleme.

 

3) Streik- und Demonstrationsrecht werden im nicht besetzten Teil des Donbass mit Hinweis auf die Kriegssituation beschnitten, sozialer Protest als "Separatismus" denunziert. Im von russischen und prorussischen Milizen besetzten Teil des Donbass sind Menschen- und Arbeitnehmerrechte vollständig außer Kraft gesetzt. Andersdenkende oder Konkurrenten um Ressourcen werden in Geheimknästen gefoltert oder verschwinden einfach; sozialer Protest wird nach stalinistischer Manier - und wie in Russland - als "Volksverrat" denunziert, Gewerkschafter müssen um ihr Leben fürchten.

 

4) "Russische Welt" vs. "Ukrainischer Staat" sind von geringerer Bedeutung für die Menschen, als es immer dargestellt wird. Genauer: Viele Menschen im Donbass, die mit der faschistoiden russischen Milizenherrschaft nichts am Hut haben, fühlen sich alleingelassen und abgelehnt aufgrund der in der Ukraine weit verbreiteten ethnozentrischen Lesart, derzufolge der Donbass ein "fremdes", nichtukrainisches Element sei, das die Ukraine immer wieder "nach Moskau" und "nach unten" ziehe, weswegen man ihn besser den Russen vor die Füße schmeißen und eine Mauer drumrum bauen solle - um dann in Ruhe eine westorientierte Ukraine mit NATO, EU und IWF aufzubauen. Wir kennen dieses Argument, antiwestlich und reaktionär-panslavisch gewendet, aus der Moskauer Propagandaküche - doch weder in der einen noch in der anderen Rezeptur ist es genießbar. Prominentestes Sprachrohr dieser Position - das darf ich von meiner Seite hinzufügen - ist übrigens der hierzulande als ukrainischer Europäer, Frei- und Schöngeist gefeierte Schriftsteller Jurij Andruchovyč, der diesen Unsinn in seinem Schönbrunner Deutsch wohltönend unters Buchmessenpublikum bringt.


5)
 Linke in der Ukraine wundern sich immer wieder darüber, dass Linke in Deutschland zwar prima Bescheid wissen über die Kämpfe im Maghreb, in Kurdistan und in Lateinamerika - aber die Ukraine vor ihrer Haustür "links" liegen lassen. Denn unsere Antiimps wissen ja im Vorhinein - ohne Lektüre, Landes- oder Sprachkenntnis: hier tobt ein Kampf zwischen US-Imperialismus und Ukrofaschismus auf der einen und aufrechten russischen "Antifaschisten" auf der anderen Seite. Deshalb ist die Ukraine im linken Diskurs nach wie vor ein Schwarzes Loch, das mit dem Schrott der Kronauers und Elsässers verfüllt wird.

 

6) Fazit: Liebe Linke, 20 Monate Bullshit sind genug. Es wird Zeit, die Augen zu öffnen, den Denkapparat in Bewegung zu setzen, und sich jener Instrumente der Analyse und Kritik, deren sich Linke gemeinhin rühmen, auch zu bedienen. Schmeißt den Vorurteilsplunder über die Ukraine und den Donbass endlich dahin, wo er hingehört: auf den Müllhaufen der Geschichte.

 


 

Quelle: https://www.facebook.com/annavero.wendland/posts/549050821937166 

Zum Thema: Empfehlenswertes Interview mit Pawel, einem Schachtarbeiter und Gewerkschaftsführer aus dem Donbass: https://vimeo.com/130931757

 


 

 

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