überall grenzen - ein reisebericht zu den sackgassen und schlupflöchern europas

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es handelt sich um einen reisebericht von mitte september, als der ungarische grenzzaun geschlossen wurde.

 

 

Montag, der 14. September 2015

 

Zur Errichtung des europäischen Grenzzauns an der ungarisch-serbischen Grenze beschließen wir endlich die Geflüchteten auf ihrem Weg gegen die Wand nicht allein zu lassen. Wir fahren mit Autos voll Hygieneartikeln, Kochutensilien und Textilien und treffen schon am Übergang Ungarn -Österreich auf die ersten Trecks: Gruppen von einigen hundert Menschen zu Fuß Richtung Grenze. Wir können einen Aufschrei nicht zurückhalten und realisieren in diesem Moment, dass wir nun mittendrin sind. In ihrer Flucht. Es sind so viele..was haben sie schon alles hinter sich..was erwartet sie....wir steigen aus und begrüßen sie. Ich schäme mich Europäerin zu sein.

 

Zur Dunkelheit erreichen wir das alte ungarische Durchgangslager Röszke, was nun, verbarrikadiert von dem eben geschlossenen Zaun, überflüssig geworden ist. Das Einsetzen des letzten Zaunstückes gleicht einer perversen Inszenierung und erstrahlt nun im Scheinwerferlicht für die Kameras aus aller Welt.

 

 

 

Dienstag, der 15. September 2015

 

Tags darauf sind wir auf der serbischen Seite und stündlich landen immer mehr Menschen in dieser Sackgasse. Zwei Zäune und eine Polizeikette verhindern jedes Weiterkommen. Anfangs reichen die privat organisierten Hilfsgüter (Wasser!) noch irgendwie aus, doch die Hitze und immer mehr Ankommende sprengen sehr bald den Rahmen der psychischen und physischen Zumutbarkeit.

 

Schnell formt sich ein lautstarker Protest vor dem Tor und uns wird mitgeteilt, dass die serbischen und ungarischen Behörden sich angeblich in Verhandlungen befinden. In einem Moment der Euphorie können wir den Grenzübergang an der 200 Meter entfernten Autobahn erreichen und stecken doch wiederum nur in der nächsten Sackgasse. In der Zwischenzeit wurde dieser wohl mit fahrbaren Wänden blockiert, die dort fünf Tage stehen bleiben werden. Arabische Polizeidurchsagen informieren uns, dass die Geflüchteten entweder ein Asylgesuch für Ungarn in den nahegelegenen Containern stellen können oder umdrehen sollen. Die, die sich für Fingerabdrücke entscheiden, werden ebenso enttäuscht: mit einer Quote von fünf Personen pro Stunde und 60 Prozent Ablehnungen ist diese „Alternative“ bei inzwischen einigen tausend Anwesenden eine reine Farce.

 

Die Proteste und notdürftige Zeltunterkünfte werden auf die Autobahn getragen und es beginnt ein Hungerstreik. Binnen kürzester Zeit ist das Gelände ein großes beengtes Camp. Ohne ausreichend Wasser und Essen, von sanitären Einrichtungen ganz zu schweigen. Kinder, körperlich beeinträchtigte und alte Menschen, Schwangere, alle in der brütenden Hitze. Stuck.

 

Viele Freiwillige und Aktivist_innen versuchen den Notstand mit ihren Mitteln einzudämmen, aber beim Austeilen der organisierten Güter kommt es immer wieder zu Bedrängnis, Streit und Geschrei. Der Mangel und die Angst sind allgegenwärtig.

 

 

 

Mittwoch, der 16. September 2015

 

Der folgende Tag bringt erst einmal keine Veränderungen: anhaltende Unterversorgung und Protest. Bald kommen Busse, um Geflüchtete in ein nahe gelegenes Lager zu bringen.

 

Mittags beginnen wir die Festung Europa zu erklimmen: wir stürmen zu dem kleineren Grenzübergang, die zwei Zäune werden entfernt, sodass wir nur mehr einem Wasserwerfer und bis an die Zähne bewaffneten ungarischen Polizist_innen gegenüberstehen. Pfeffer-, Tränengas und Wasser. Auf Kinder, Frauen, Presse, EU-Bewohner_innen, Alle.

 

Von Seiten der serbischen Polizei wird nicht eingegriffen – ihr Ziel ist anscheinend unserem ähnlich: den Druck auf Ungarn verstärken. Da kommt ihnen der Straßenkampf wohl gelegen.

 

In einem Moment der Euphorie (davon gibt es tatsächlich mehrere..) öffnet sich die Polizeikette und deutet eine Art Korridor an. Etwa 100 Menschen strömen friedlich hinein, setzen sich, rufen „Thank you, Thank you“ und bekommen den Zynismus mit voller Wucht zu spüren: Kinder im Nato-Draht, Geknüppel, Gas, Trennungen, brutalste Gewalt. Kein Durchkommen.

 

Derweil versuchen NGOs und Freiwillige die Geschädigten notdürftig zu verarzten. Nachdem sich die Lage etwas beruhigt hat, treffen verstärkt Busse ein, die die Geflüchteten angeblich zur kroatischen Grenze bringen. Trotz der Unsicherheit werden die Plätze heftig umkämpft und auch die Busfahrer scheuen sich nicht ein Geschäft mit der Not zu machen: 40 Euro kostet die halbe Stunde Fahrt.

 

 

 

Donnerstag, der 17. September 2015

 

So machen auch wir uns auf, um die neue Route zu erkunden: ein Übergang wird „offiziell“ geöffnet. Das heißt wir laufen mitten in der Nacht auf einem Feldweg kilometerweit um den serbischen Ausgang herum, um schließlich an völlig unbeteiligt wirkenden kroatischen Beamt_innen vorbei wiederum hinein zu gelangen. Wir können einfach nicht glauben, was wir da sehen und erleben: die Menschen sind so ausgezehrt. Die Kinder laufen, ja, aber ohne zu laufen

 

kein Zurück vorwärtsstolpernd wie Maschinen kein links kein rechts nur vorwärts. weiter weiter

 

Nur weil irgendwer irgendwann einmal dachte, dass Staat und Grenzen sinnvolle Ideen seien. Es ist alles so absurd.

 

Nochmals einige Kilometer Fußmarsch später erreichen wir den Bahnhof Tovarnik. Dort angekommen, legen sich die Menschen einfach direkt auf den Asphalt und schlafen ein, so wie sie sind. Ein Zug ist eh‘ nicht in Sicht.

 

Später werden wir erfahren, dass die Geflüchteten auf dem Bahnhof mit minimalster Versorgung festgehalten werden und dabei völlig im Unklaren bleibt, wohin die völlig überfüllten Züge fahren, die nach stundenlanger Wartezeit eintreffen.

 

Irgendwann geht es weiter Richtung Zagreb. In der kroatischen Hauptstadt treffen wir auf Aktivist_innen von No Border Zagreb und auch hier klingeln die Telefone Sturm, es werden Flugblätter über den Weg zur slowenischen Grenze erstellt, eine Demo organisiert und Freiwillige transportieren Gestrandete weiter zur slowenischen Grenze.

 

Allerdings ist diese, wie zu erwarten, geschlossen, sodass die kroatischen Behörden beginnen die Geflüchteten in Lager unterzubringen und in Bussen über Ungarn umzuleiten. Innerhalb eines Tages schließt Ungarn daraufhin die fehlenden 40 Kilometer mit Drähten.

 

So stauen sich seit Freitag weiterhin Menschen an der slowenischen Grenze und immer wieder von Neuem beginnt das Warten und Ausharren mit der Hoffnung endlich irgendwo anzukommen.

 

Kein zurück.

 

Unsere Reise ist an dem Punkt vorbei, aber wir kommen wieder (das geht nämlich). Wir werden nicht hinnehmen, dass Politik weiterhin auf Kosten der Menschenwürde verhandelt wird. Menschen können nicht verhandelt werden. Die Geflüchteten werden wie Spielbälle zwischen den Staat(sgrenz)en hin- und hergeschoben. Dieses Katz-und-Maus Spiel ist so niederträchtig und demütigend. Menschen können nicht illegal sein.

 

Wir fordern sichere Fluchtwege und eine entsprechende Unterbringung und Betreuung in den Zielländern. Ohne zu rechnen.

 

Fahrt und seht hin, zeigt euch an diesen neuen-alten Brennpunkten! Immer wieder machen sich Freund_innen mit Hilfsgütern auf den Weg, um den Geflüchteten entgegenzufahren und mit ihnen die Grenzen Europas in Frage stellen. Wir kochen Essen, schenken Tee aus, bündeln und verbreiten Informationen über die Weiterreise, bauen improvisierte Camps auf und ab, verteilen Hygieneartikel und Wechselkleidung, organisieren Wasser, verarzten so gut es geht. Und erfahren zunehmend Repressionen seitens der Staaten. Die Zustände sind unhaltbar und trotzdem wird es freiwilligen Unterstützer_innen, die außerhalb der völlig unzureichenden Rot-Kreuz- und UNHCR-Infrastrukturen agieren, immer schwerer gemacht. Doch wir bleiben solidarisch. Es geht uns nicht darum Versorgungslücken zu schließen – das ist unmöglich - sondern aufzuzeigen, dass die Verantwortlichen für diese Misere eben ihrer Aufgabe nicht gerecht werden. Ja, dass es nicht einmal in ihrem Interesse liegt. Es geht darum den Druck zu verstärken. Für diese Schande gibt es keine Rechtfertigungen.

 

 

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