Proletarische Welten und Autonomie

Durch die noch nicht beendete Artikelreihe „Proletarische Welten“ haben wir festgestellt, dass es durchaus ein Bedürfnis gibt, individuelle Geschichten von unten zu erzählen und mit anderen zu teilen. Uns haben Beiträge von verschiedensten Leuten erreicht, wobei die weibliche Perspektive nach wie vor fehlt und die migrantische zu kurz kommt, was hoffentlich nicht so bleiben wird.

Man hat gesehen, was viele linke Analysen schon seit Jahren sagen: Der ArbeiterInnenklasse ist die große Homogenität schon lange abhanden gekommen, wenn sie denn überhaupt je so in der Form bestand, wie viele ihr nachtrauern. Die proletarischen Welten sind sehr unterschiedlich. Es stehen keine 10.000e mehr am Band und treffen sich nach Feierabend in der Kneipe. Das Leben ist vereinzelt geworden, in der Arbeit sowie in der Freizeit. Die ArbeiterInnen haben sehr unterschiedliche Einkommen, nicht die gleichen Rechte, nicht die gleiche Lebenswelt. Die Folgen sind weniger Zusammengehörigkeitsgefühl, weniger Arbeitskämpfe und weniger Hoffnung damit noch irgend etwas erreichen zu können. Der Neoliberalismus war ein harter Schlag für die Linke und die Befreiung der Menschen aus Ausbeutung und Unterdrückung allgemein. Doch bei allen Unterschieden innerhalb der Klasse gibt es dennoch die große Gemeinsamkeit, vom verbürgerlichten Facharbeiter mit Eigenheim zum prekären Transportarbeiter, der uns die Pakete bringt: Wir alle sind gezwungen einen Großteil unserer Lebenszeit damit zu verbringen, unter dem Kommando des Kapitals Tätigkeiten auszuüben und haben so gut wie keine Möglichkeit mitzubestimmen, wie sich die Arbeit gestaltet oder was überhaupt produziert werden soll. Je nach Lage innerhalb der Klasse kann man sich gut oder schlecht damit abfinden, das zu sein was man ist: Jemand der dafür existiert, den größten Teil des Lebens für die Herrschenden aufzugeben. Sei es ganz klassisch in der Industrie direkt Mehrwert schaffend oder indirekt im Sozialen Bereich die Reproduktionsarbeit leistend: Wir sind gezwungen +-40 Stunden in der Woche dafür zu leben, dass die ganze Scheiße hier jeden Tag so weiter geht, während wir in der restlichen Zeit noch alles andere (Stichwort Reproduktion) auf die Kette kriegen müssen. Man lebt jahrelang so vor sich hin und vergisst sich selbst, wird zum Ding und entfremdet sich von der Welt. Das ist das Schicksal, das wir alle teilen. Wer es bis zum Ruhestand schafft fragt sich mit Recht: Soll das etwa alles gewesen sein? Und junge Menschen fragen sich gerade auch mit Recht: Schaffe ich es überhaupt bis zum Ruhestand oder ist vorher der Planet kaputt? Oder bleibt für uns nach dem Privatisierungswahn überhaupt noch eine Rente und wie lange müssen wir dafür arbeiten?

An diesem Punkt kommt der Begriff ins Spiel der unserem Magazin den Namen gegeben hat: Autonomie.

Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf: die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.“ Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit.

Was heißt das aber eigentlich in diesem Zusammenhang? Ganz allgemein ist sie die Selbstbestimmung. Das klingt ja erst einmal ganz nett und dagegen kann ja wohl niemand was haben, vor allem nicht in einer solch „freien“ Gesellschaft, wie Liberale sagen würden. Sie fordern diese ebenfalls ständig ein, vor allem wenn es darum geht die Selbstbestimmung der Herrschenden zu verteidigen. Bei jeglicher Regung, die den Unteren in dieser Gesellschaft was bringen würde, wie etwa aktuell der Berliner Mietendeckel, wittern sie die Einschränkung ihrer Autonomie, ihrer unternehmerischen Freiheit und damit den Untergang ihrer Ordnung. Doch daran kann aus unserer Sicht nichts falsches sein. Es ist eher die Bestätigung etwas richtig zu machen. Der Kapitalismus ist ein System, dass dem Großteil der Menschen täglich ihre Autonomie nimmt. Also ist es für uns als Teil der ArbeiterInnenklasse nur möglich Freiheiten zu erlangen, wenn wir uns die Autonomie von den Herrschenden und im Kampf gegen sie zurückholen, Stück für Stück. Es geht ganz einfach darum, sich die Kontrolle über sein Leben wieder anzueignen. Dabei wirkt jeder Erfolg im Klassenkampf beflügelnd und jede Niederlage macht noch einmal deutlicher wie wichtig der Kampf ist. Dieser Kampf muss auch nicht erst bei Streiks oder Riots beginnen. Er beginnt schon bei kleineren Sachen. Und wenn wir im Betrieb allein dastehen beginnt er erst einmal im Bereich der Freizeit, denn auch dort sind wir immer mehr fremdbestimmt und müssen uns zunächst einmal davon lösen. Der moderne Mensch produziert nahezu 24 Stunden fürs Kapital. Wir kommen von der Arbeit nach Hause und machen einen beliebigen Streamingdienst an. Selbst unser Schlaf wird von unseren Smartphones analysiert und produziert Daten für Großkonzerne, ebenso wie jeder Like. Es gibt auch auf der ganz individuellen Ebene schon Möglichkeiten sich Autonomie zu verschaffen, indem man sich von manchen „Zwängen“ (bei denen man es selbst in der Hand hat) ganz einfach löst.

Eine zentrale Frage für Revolutionäre und Revolutionärinnen muss auch sein, wie man es zunächst selbst schafft, den Zumutungen des Alltags zu trotzen und dieses Können weiterzugeben. Eine wichtige Aufgabe kommt hier der kollektiven Bildung zu. Denn Autonomie, dass bedeutet auch reflektieren und erkennen können. Denn das Kapital kolonisiert nicht nur unseren Alltag, indem wir permanent unentlohnt arbeiten, es kolonisiert auch das Denken mit seiner ideologischen Werbemaschinerie.

Der Neoliberalismus hat aus uns EinzelkämpferInnen gemacht, die glauben es alleine schaffen zu müssen. Wer es nicht schafft dem wird eingeredet nicht zu genügen und man wundert sich ernsthaft über die „Volkskrankheit“ Depression. Wer heutzutage einigermaßen bei Verstand ist fühlt sich immer weniger verbunden mit der Welt um sich herum und sich den Problemen allein gegenübergestellt. Helfen kann da nur das Einzelkämpfertum aufzugeben und Probleme kollektiv anzugehen um sich so Freiräume zu schaffen. Was das angeht ist so mancher Familienclan der organisierten Kriminalität schon einen Schritt weiter als die deutsche Linke. Im Kollektiv lässt sich der tägliche Wahnsinn leichter aushalten. Schaffen wir es selbst nicht uns zumindest einen kleinen Teil Autonomie zu sichern, haben wir keine Möglichkeit mehr für unsere Sache zu kämpfen. Es verhält sich nämlich nicht so, dass es den Leuten erst einmal schlechter gehen muss, bevor es automatisch besser wird. Gerade in Deutschland sollte man wissen, wie naheliegend oft der Schritt zum Faschismus ist, wenn es den Leuten noch schlechter geht und eine Linke nicht überzeugen kann.

Von diesem Punkt aus komme ich nun zur letzten Frage: Wenn wir es schaffen uns selbst so zu organisieren, dass wir eine gewisse Kraft sind, ohne uns dabei zu verheizen, wie geht es dann weiter bzw. die Frage die sich wohl gerade viele Linke stellen: Wie werden wir mehr?

Es wurde auch in diesem Magazin schon viel von der aktuellen Polarisierung und Zuspitzung der Verhältnisse gesprochen. Bewegt man sich auch da „draußen“, sprich außerhalb der Szene, fällt einem auf, dass viele Menschen immer mehr Interesse an politischer Auseinandersetzung zeigen, erst einmal ganz egal auf welcher Seite sie stehen. Die Masken fallen zur Zeit täglich: RassistInnen zeigen offen, dass sie welche sind. Neoliberale Arschlöcher nehmen kein Blatt mehr vor den Mund. Nur die Linken verstecken sich oft noch aus Angst bei den Leuten nicht anzukommen, vielleicht ein böses Wort zu sagen oder angreifbar zu werden. So schafft man es auf jeden Fall nicht, die Herzen der Menschen für seine Sache zu gewinnen. In öffentlichen Diskussionen gewinnen nie die ruhigen Vernünftigen, sondern die Lauten, Polarisierenden, auf Emotionalität setzenden. Und wenn wir ehrlich sind gibt es doch genug Themen die als Linke völlig zurecht auch emotional angegangen werden sollten. Also warum sich der bürgerlichen Illussion hingeben, dass politische Auseinandersetzung mit Gefühlen nichts zu tun haben darf? Wem jeden Tag ein Großteil des Lebens geklaut wird und wer kaum seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, ist völlig zurecht wütend. Diese Wut muss auch von anderen gehört werden. Die „Bauchlinken“ da draußen müssen wissen, dass es uns gibt.

Außerdem müssen wir uns weitere Fragen stellen: Bei aller richtigen Analyse der Linken stellt sich doch die Frage warum wir immer noch so marginalisiert sind. Wir sind doch die Einzigen die für alles eine logische Erklärung haben. Warum ist es für viele Menschen, die eigentlich von uns angetan sein müssten, keine Option sich uns anzuschließen und was hat das mit der Verfasstheit der Szene zu tun? Wie gestalten wir unseren Aktivismus? In welchem Verhältnis stehen Engagement und Ergebnis? Und ist der auch mit Kindern und Vollzeitarbeit zu machen? An welchen Punkten nehmen wir uns auch gegenseitig unsere Autonomie und werden für außenstehende unattraktiv, weil sie vieles womit wir uns beschäftigen gar nicht verstehen können und wollen? Und inwiefern entfremden wir uns selbst von unseren eigenen Problemen und machen Politik die wenig mit unserem eigenen Leben zu tun hat?

Der Alltag der meisten Leute ist sehr durchgetaktet und funktioniert wie eine gut geölte Maschine. Manche haben sich ihre Alltagsbewältigung über Jahre hinweg aufgebaut und brauchen die Routinen um klarzukommen. 40 Stunden Arbeit, am Wochenende irgendwas schönes zum Ausgleich: Zum Fußball gehen, Feiern gehen, einen Ausflug mit den Kindern. Macht alles mehr Spaß als auf die hundertste Demo zu rennen, die kaum jemanden interessiert. Die deutsche Linke ist sehr studentisch geprägt und leider kaum sensibel dafür, wie die Realitäten bei so vielen Menschen aussehen. Da kommt es für viele eben nicht in Frage sich 2 oder 3 Abende in der Woche für politische Arbeit zu nehmen. Die einzige Antwort die man dann meistens hört ist, es wäre den Leuten dann wohl nicht wichtig genug, politisch aktiv zu sein. Oft sind die Leute die so etwas sagen dann mit Anfang 30 selber von der Bildfläche verschwunden, weil sie Kinder haben.

Ein solcher Aktivismus kann nicht die Lösung sein, wenn er weiterhin auf die Lebensrealitäten derer scheißt, die eigentlich die AdressatInnen unserer Politik sind. Natürlich können nicht alle gleichermaßen politisch aktiv sein, das würde die Realität ebenso verkennen. Es muss aber ein Weg gefunden werden, wie auch Leute die weniger Zeit haben (und das sind die meisten in dieser Gesellschaft), irgendwie bei uns mitmachen können. Dazu muss es eine für viele realistische Handlungsoption werden. Deshalb ist es unsere Aufgabe, unseren AdressatInnen die Vorzüge an kollektiver Selbstermächtigung zu zeigen, sprich was man davon hat sich nach und nach immer mehr Autonomie zu erkämpfen. Das Ganze muss sehr alltagsnah sein, sodass der Nutzen auf der Hand liegt. Angesichts der Verhältnisse sollten wir aber schon vorgestern damit angefangen haben.

Foto: Umbruch Bildarchiv

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