Krise des Reformismus und revolutionäre Wiederaufnahme in Brasilien

Krise des Reformismus und revolutionäre Wiederaufnahme in Brasilien

Für viele ist die Krise, die zum Zusammenbruch der Regierungen der sogenannten rosa Welle führte, überwunden. Die Bündnisse, die sie getragen haben, wurden bereits wieder aufgebaut, und der Wettbewerb um die Staatsmacht ist in vollem Gange. Die jüngsten Wahlprozesse, die in Mexiko, Argentinien, Chile und Kolumbien, aber auch in den USA selbst stattfanden, würden dies belegen.

 

In diesem Sinne hätte die lateinamerikanische reformistische Linke, die sich diesem Prozess anschließt, und insbesondere die brasilianische Linke, bereits ihre soziale Basis der Unterstützung wiederhergestellt, die Meinungsverschiedenheiten annulliert und ihr Projekt in einem einzigen Boot aktualisiert. Aber trotzdem ist das Meer nichts für Fische: Diejenigen, die an diesem Prozess festhalten, äußern sehr geringe oder fast keine Erwartungen an die Umsetzung fortschrittlicher Reformen durch die derzeitigen Institutionen und noch weniger an das Vorantreiben eines Projekts für eine stärkere soziale Transformation.

 

Die Wahrnehmung ist, dass sie einen Kontext harter Konfrontation, extremer Polarisierung oder zumindest schwieriger Militanz vorfinden. Andererseits bestünde ein völliger Widerspruch: Die materiellen Lebensbedingungen der Mehrheit sind äußerst prekär oder – was ein soziologisch noch relevanterer Erschwerungsfaktor für die Aktivierung politischen Handelns wäre – rückläufig. Soziale Ordnung wird durch Morde und Hunger erreicht. Und trotzdem würden diese Mehrheiten zögern, sich den sozialen Kämpfen und politischen Projekten anzuschließen, die sie vertreten würden.

 

Dabei gilt es stets, die gesellschaftliche Dynamik der neuen ideologischen Herrschaftsagenten und auch die Dynamik der Gewaltapparate zu berücksichtigen. Beides hat sich zweifellos in den letzten Jahrzehnten stark verändert und ist ein relevanter Erklärungsfaktor. In Brasilien wird jedoch, selbst wenn man diese Faktoren weitestgehend berücksichtigt, der imaginierte Widerspruch der Mehrheiten in einen anderen Prozess gestellt. Sowohl diese Wahrnehmung der politischen Schwierigkeit, die Avantgarden um die Projekte der sogenannten Graswurzelreformen herum wieder aufzubauen, als auch die Wahrnehmung der politischen Schwierigkeit der Massenarbeit dafür, spiegeln tatsächlich eine Klassentrennung wider. Sie sind auch Klassendistanz und damit Ausdruck der Krise des Reformismus bzw. des neuen Reformismus, was eine historisch adäquatere Qualifikation wäre. Kein Wunder, dass dies insbesondere seit 2015 nach der verstärkten Politisierung des Kleinbürgertums und der damit verbundenen Mittelschichten geschieht.

 

Mit anderen Worten, es ist der Reformismus selbst, der zunehmend verwässert wird und verschwindet, bis er politisch praktisch nicht mehr existiert, genau dort, wo seit den 1980er Jahren die sogenannte demokratisch-populäre Strategie einen reformistischen Weg gefestigt hätte. Diese These lässt sich an vielen Aspekten veranschaulichen. Aber ich werde mich kurz auf drei konzentrieren.

 

Erstens: Der institutionelle Spielraum des Reformismus hat sich verringert. Die vollständige Integration der wichtigsten lateinamerikanischen Länder in die internationalen imperialistischen Produktionssysteme seit den 1960er Jahren hat den Handlungsspielraum der bürgerlichen Politik erheblich eingeschränkt und die institutionellen Lücken einer autonomen nationalkapitalistischen Entwicklung in abhängigen Gesellschaftsformationen beseitigt. Mit dem Aufkommen des Neoliberalismus und der Finanzialisierung hat sich dieser Prozess vertieft. Heute begleiten die Möglichkeitsbedingungen für Staatsakteure die Enge der Marktverhältnisse und homogenisieren politisches Handeln bis zur faktischen Aufhebung parteipolitischer Differenzen. Das politische Handeln des Staates in Wirtschaftsfragen kann sich nur durch die beste technische und pragmatische Beachtung der anstehenden Marktordnung differenzieren und alles Äußere in eine ideologische Störung verwandeln. So wurden die reformistischen Agenden, die noch in der PT-Partei (Partido dos Trabalhadores) verblieben waren und aus ihrer Oppositionszeit stammten, beispielsweise nach dem gleichen Prozess der praktisch vollständigen Angleichung sozialdemokratisch inspirierter Parteien an den Neoliberalismus, toter Buchstabe und endeten liquidiert (bis zu dem Punkt, an dem die derzeitige Wahlplattform ohne viel Tamtam möglich war). Und so gedeiht die Militanz, die immer noch versucht, reformistische Agenden mit einer pragmatischen Aktion des Wahlerfolgs zu verbinden, nicht. Und selbst mit intensivem Engagement und starken Forderungen nach der Wiederherstellung einer „PT-Partei von den Ursprüngen“ zum Beispiel verbittert diese Militanz endlose Sequenzen der politischen Krise seit ihrer Gründung. Ein erheblicher Teil dieser Führungen bereits den Aufrufen zur Wiederherstellung dessen zuwendet, was eine „PSOL-Partei (Partido do Socialismo e Liberdade) der Ursprünge“ sein würde.

 

Zweitens: Der neue Reformismus verlor seine Klassenbasis. In Lateinamerika ist der Reformismus der politische Ausdruck der Klassengeschichte des Kleinbürgertums und der damit verbundenen Mittelschichten. Im Falle Brasiliens ist die Integration des Kleinbürgertums in dem Staat bedeutend, aber in einer untergeordneten Position, d. h. nicht in einer Position, die ihm garantiert, eine autonome Klassenpolitik durch den Staatsapparat durchzuführen und den herrschenden Fraktionen politisch zu dienen nur in dem Maße, in der es stabile Regierungen zur Aufstandsbekämpfung bietet. In einem historischen Moment, in dem diese Schichten an politischer Ausdruckskraft verloren haben und gemeinsam mit den Mehrheiten Interessen gegen das pragmatische Handeln des Marktes haben, ist die reformistische Plattform noch brüchiger für den Streit dieser Klassenführung etwa gegen den faschistischen Diskurs.

 

Drittens: Der Reformismus verlor die Bedingungen des Klassenbündnisses. Die neoliberalisierte Sozialdemokratie sucht direkte Unterstützung bei den als Dissidenten geltenden bürgerlichen Fraktionen und bietet Garantien für eine funktionierende Gesellschaftsordnung. Mit dem Streit und der erweiterten Politisierung des Kleinbürgertums und der Mittelschicht wird der Reformismus intern während der Wahlprozesse in der Zusammensetzung von Regierungsschiefen und Regierungen annulliert. Für den neuen Reformismus wäre es daher notwendig, auf Klassenbündnisse zurückzugreifen, die in Lateinamerika historisch ein besseres Kräfteverhältnis garantiert haben. Aber heute hat er aufgrund der Institutionalität nicht die Bedingungen, um auch nur minimal die Klassenagenden zu erfüllen, die es ihm erlauben würden, diese Allianzen zu bilden. Die Agenda der Prekarität der Arbeit wird international diktiert und es gab keinen Spielraum, nicht einmal für die Aufhebung der sogenannten Arbeits- und Sozialversicherungsreformen, noch für die Rücknahme von Privatisierungen usw. Die Klassenkampfapparate des Reformismus können kaum über den Bogen der organisierten Fraktionen der Arbeiter hinauskommen, deren Führungen uneingeschränkt am pragmatischen Prozess der Neoliberalisierung festhielten. Unter den Bedingungen des Slums, der Digitalisierung oder, wie ich provoziert habe, des amazonisierten Arbeitskampfes bedeutet das Verlassen dieses Bogens heute eine Bestandsaufnahme, die erfordern würde, den friedlichen Weg zum Sozialismus aufzugeben und zu riskieren, die Richtung des angeblichen Klassenbündnisses zu verlieren. Andererseits entwickeln sich die heroischen Widerstände der Verteidigung und der Rückeroberung von Territorien seit langem im Kontext direkter Konfrontation und ohne institutionelle Illusionen.

 

Andererseits schränkt der theoretisch-diskursive Apparat des Reformismus, obwohl er in den letzten Jahrzehnten besser an die ideologische Reproduktion des von ihm gelenkten Anteils (Idealismen, Essentialismen, Politismen) angepasst wurde, die Herrschaftsbedingungen im gleichen Maße ein dieses Anteils über die Arbeiterklasse und sterilisiert damit die externe Klassenführung, die diese Fraktion des Kleinbürgertums bei der Führung ihrer Kämpfe und bei der Bildung eines reformistischen Blocks spielen könnte. Die postfaktische Politik, die von diesem Apparat ausgeht, ist nur für die Mikropolitik der Beherrschung und bürgerlichen Bevormundung der proletarischen Fraktionen in den Institutionen wirksam, in denen diese kleinbürgerlichen Schichten Machtpositionen einnehmen. Je radikalisierter sie jedoch ist, desto mehr wird diese Politik isoliert, gegenkulturellisiert und mit einer Bedeutung des kulturellen Ausdrucks der Klasse verknüpft, die mit dem Kleinbürgertum und insbesondere mit den Mittelschichten verbunden ist, die von den überbeuteten Mehrheiten als privilegiert angesehen werden.

 

Entgegen der Politisierung und Polarisierung des Kleinbürgertums auf der linken und rechten Seite verstärken jedoch alle möglichen Szenarien für die kommenden Jahre die Ablehnung und wachsende Diskreditierung der Mehrheiten gegenüber der bürgerlichen Politik als Weg echter Transformation. Unter diesen Bedingungen und angesichts der Krise des neuen Reformismus haben alle kritischen Tendenzen nach und nach Lesarten der Wiederaufnahme und revolutionären Wiederbegegnung ihrer Referenzautor*innen gefördert.

 

Wir haben kürzlich die Interessen analysiert, die den Bolsonarismus in den letzten Jahren an der Macht gehalten haben, und andererseits das Heranreifen der Bedingungen für die Wiederaufnahme der revolutionären Politik in Brasilien. (https://archivo.kaosenlared.net/mate-todos-eles/index.html). Wir schrieben, dass wir in Brasilien andere 1. Mai-Tage haben würden.

 

Jetzt muss ich vielleicht ergänzen. Andere Juni 2013 werden ebenfalls kommen. Das heißt, auch die Bedingungen für Massendemonstrationen, wie die Demonstrationen in Brasilien im Juni 2013, werden wieder aufgebaut. 

 

 

Gil Felix ist Sozialwissenschaftler und Professor an der Federal University for the Latin American Integration (UNILA, Brazil).

https://grupodepesquisasobretrabalho.wordpress.com/

 

 

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