Winter Is Coming. Ein Buch und einige fragmentarische Anmerkungen
Längst sind jenen Tagen und Nächte, als Ben Ali aus dem Land gejagt und Mubarak gestürzt wurde, als in Griechenland eine massenhafte Revolte gegen das Spardiktat der Troika in tagelangen Straßenschlachten vor dem Parlament kulminierte, als die „Bewegung der Plätze“ sich im Süden des europäischen Kontinents ebenso wie in den USA fand und versammelte, nicht mehr als eine ferne Erinnerung. Ein kurzes geschichtliches Aufblitzen, ein ferner Nebel in der Galaxie der Klassenkämpfe.
Durch Europa weht jetzt der kalte Wind des Rechtspopulismus, in dessen Windschatten Faschisten und Nationalsozialisten offen auftreten und wie der Fisch im Wasser mit schwimmen können. Ungehindert betritt der Hass auf alles und alle, die nicht als zugehörig betrachtet werden, die offene gesellschaftliche Bühne. Selbst in den lange als „liberal“ gehandelten Gesellschaften Skandinaviens finden sich immer mehr in der Figur des sozial autistischen Zombies wieder.
In den USA wird ein offensichtlicher Soziopath und narzisstischer Clown zum Oberbefehlshaber der größten Militärmacht der Welt gewählt. Eine Gesellschaft schaut fast tatenlos zu, wie ihre Kinder Woche für Woche in den Grund- und Oberschulen, an den Universitäten niedergemetzelt werden. In den Ecken der Welt, in denen der Zerfall des Zentralstaates so weit fortgeschritten ist, dass genügend Machtvakuum und Durchlässigkeit generiert wird, übernimmt die Figur des desperaten Warlords das Kommando. Manchmal im Tarnanstrich religiöser oder ideologischer Bekenntnisse, zuweilen in der nackten Trostlosigkeit völlig willkürlicher Allmacht.
Winter is coming. Die Dimension dessen anzuerkennen, was auf uns zukommt, ist unabdingbare Voraussetzung dafür, vorbereitet zu sein. In der Lage zu sein, Gegenstrategien zu entwickeln, dem Gegner punktuell Niederlagen zufügen zu können. Gesellschaftliche Kerne zu bilden, die auch in schwierigen Zeiten das Überwintern garantieren, die sich ernsthaft mit den Bedingungen für erfolgreiche Gegenoffensiven auseinandersetzen. Eine Voraussetzung dafür, aus der völligen gesellschaftlichen Marginalität, aus dem reinen Abwehrkampf in politisch und sozial offensive Momente zu kommen, ist der Moment des Sich-Findens.
Die Figur des industriellen Arbeiters als Motor des gesellschaftlichen Umbruchs hat ausgedient, seine Umschreibung in eine diffuse Multitude wenig hilfreich. Der konkrete Klassenkampf, der unmittelbare Zusammenstoß findet schon lange nicht mehr auf dem Terrain der Lohnarbeit statt. Alle Sehnsüchte nach „dem großen Streik“ muten so nostalgisch und realitätsfern an wie ein Transparent mit der Aufschrift 15:30 in der Fankurve des Red Bull Leipzig.
Die Brotunruhen in Nordafrika Anfang und Mitte der 80iger haben, von der Metropolenlinken weitgehend unbeachtet, vorgegeben, wie sich der gegenwärtige Zyklus des Zusammenstoßes der Klassen gestalten wird. Völlig desillusioniert von den Entwicklungen infolge der Machtübernahme durch die Nationalen Befreiungsbewegungen richteten sich die Kämpfe niemals, auch nicht in der Zuspitzung, auf die Bildung einer wie auch immer gearteten Organisation, geschweige denn auf irgendeine Form von Machtübernahme aus. Man fand sich zusammen, organisierte sich lediglich entlang der Notwendigkeiten eines Riots, eines vorübergehenden lokal begrenzten Aufstandes, gab sich spontan mit Zugeständnissen der herrschenden und ausbeutenden Klasse zufrieden und verschwand dann bis zum nächsten Ausbruch in der gesellschaftlichen Diffusität.
Wenn wir nun von hier reden, und nur deshalb machen diese Zeilen Sinn, muss die Fragestellung also sein, wo unsere Orte des Einander- Findens, des Aufeinander-Beziehens denn sein könnten. Ohne Zweifel haben die subkulturell bestimmten, identitätsfixierten Überreste der Ausläufer der Revolte der 80iger ausgedient. (1) Die Räume, die die selbsternannten Sprecher der Antagonisten anbieten, gilt es entweder zu sabotieren oder im Sinne einer freundliche Übernahme zu okkupieren.(„Jegliche Instanz der Repräsentation sabotieren – Das Palaver verallgemeinern – Die Vollversammlungen abschaffen“) (2). Jede Bande mit Bewusstsein ist einer beliebigen Ansammlung von Linken vorzuziehen.
Nur wenn wir die politische Sphäre verlassen und uns auf ein soziales Terrain begeben, werden wir auf Jene treffen, die real in der Lage sind, ein Gegengewicht zu dem zu schaffen, was auf uns zu kommt. Der Riot in der Schanze im letzten Sommer war so ein Ort. Diesen Ort gilt es gegen alle Angriffe, von welcher Seite auch immer, zu verteidigen. (3) Auch gegen unser eigenes Begehren nach Klarheit und Übersichtlichkeit, nach Eindeutigkeit. Jenen, die vom Staat aufgegriffen und verfolgt wurden und werden, muss unsere uneingeschränkte Solidarität gelten. Machen wir uns nichts vor. Jene, die sich in der Schanze zu uns gesellten, nehmen sehr bewusst war, inwieweit sie auf unsere Solidarität und Unterstützung zählen können. Und für sich daraus Rückschlüsse für die Zukunft ziehen.
Ebenso wichtig ist das Einander-Finden jenseits der nationalstaatlichen Grenzen. #NoG20 war dafür ebenso ein Ort, wie es Paris im vorletzten Sommer war. Sich in der konkreten Auseinandersetzung mit dem Gegner zu begegnen, sich in Taktiken und Vorgehen abzustimmen und voneinander zu lernen, vielleicht sich sogar gemeinsam vorzubereiten, hat einen konkreten Charme der meilenweit von den allgemein eher langweiligen und ineffektiven Kongressen der selbsternannten Sprecher der Antagonisten entfernt ist. Der Mai 2018 bietet mit der Einladung sich in Paris einzufinden (4) ebenso einen möglichen neuen Bezugspunkt wie die Diskussions-Chaostage in Berlin (5).
„Damit etwas kommt, muss etwas gehen. Die erste Gestalt der Hoffnung ist die Furcht.“ schrieb einst Heiner Müller. Ich denke, dass diese Worte unser Dilemma auf den Punkt bringen. Uns ist bewusst, das wir nicht weiter machen können wie bisher. Gleichzeitig haben wir aber so vieles, an dem wir festhalten, weil es uns Sicherheit gibt. Begrifflichkeiten, theoretische Versatzstücke, Zugehörigkeiten. Vielleicht sind wir auch gar nicht in der Lage, wirklich neue Wege zu gehen, uns auf etwas Neues einzulassen, weil uns schlicht die Phantasie dafür fehlt.
Als im Frühjahr 2016 in Frankreich die herrschende Klasse beschloss die Arbeitsgesetzgebung nach deutschem Vorbild zu „flexibilisieren“, betrat ein neue Bewegung die Arena. Neue, unverbrauchte Parolen erklangen, zuerst waren es nur einige hundert Leute, die den Zusammenstoß mit der Staatsmacht suchten, am Rande der Demonstrationen Schaufensterscheiben einschmissen, Bankautomaten und Überwachungskameras zerstörten. Aber innerhalb weniger Wochen hatten sich an der Spitze der Pariser Demos Tausende eingefunden, die mit Tränengasbrillen und Maaloxan ausgerüstet waren, im ganzen Land wurden Schulen und Universitäten besetzt, bestreikt und blockiert, in zahlreichen Städten kam es zu Zusammenstößen mit den Bullen. Nach mehreren Fällen von rassistischer Polizeigewalt kam es in den Pariser Vororten zu Demos und Unruhen, die sich ansatzweise auch auf andere Städte ausweiteten, es kam zu Solidaritätsaktionen durch „Die Bewegung“, teilweise fand man sich auch zu gemeinsamen Aktionen zusammen. Man fand einander. Einige in dieser Zeit entstandenen Pamphlete, Texte, sowie Interviews mit Protagonist*innen der Kämpfe habe ich in einem Buch zusammen gefasst. (6) Der Sinn dessen besteht aus meiner Sicht darin, sich zu vergegenwärtigen, was möglich ist, wenn man die ausgetretenen Pfade verlässt. Um etwas zu verändern.
Winter is coming. Es ist scheinbar unabänderlich. Oder auch nicht. Alle Versuche, sich darüber zu äußern, wie es verhindert werden kann, bleiben notwendigerweise fragmentarisch. So wie dieser hier. „Auf der Straße schreiben wir Geschichte“ sagten die griechischen Genoss*innen 2008 nach dem Tod von Alexis und den darauffolgenden landesweiten Unruhen. To whom it may concern.
Sebastian Lotzer im März 2018
(1) „2014- Das Jahr in den wir nirgendwo waren“, Autonome aus Berlin
http://www.untergrund-blättle.ch/politik/2014_das_jahr_in_dem_wir_nirgendwo_waren.html
(2) „Der kommende Aufstand“, Unsichtbares Komitee
http://www.trend.infopartisan.net/trd1210/insurrection.pdf
(3) „Zum Riot im Schanzenviertel. Nicht distanzieren!“ Karl-Heinz Dellwo
https://www.g20hamburg.org/de/content/zum-riot-im-schanzenviertel-nicht-distanzieren
(4) „Aus Paris an unsere in aller Welt verstreuten Freunde“ Ein Einladung im Mai 2018 nach Paris zu kommen.
https://www.lespaves.net/eine-einladung-aus-paris/?lang=de
(5) Diskussions- und Chaostage 10.-13. Mai 2018 in Berlin
https://gegenstadt.blackblogs.org/
(6) „Winter Is Coming“ – Soziale Kämpfe und Revolten in Frankreich, Sebastian Lotzer (Hg)
Bahoe Books, Wien, März 2018