Die Einführung der Scharia wäre hier nicht mehrheitsfähig
Herr Schmidinger, die Türkei begründet den Einmarsch ihrer Armee in Syrien damit, dass die Region Afrin ein „Terrornest“ sei, vom dem aus kurdische Terroristen in türkisches Territorium einsickern und dort Anschläge verüben. Sie waren in Afrin – hatten Sie den Eindruck, in einem „Terrornest“ zu sein?
So ein Einsickern gab es von irakischem Territorium aus, aber nicht aus Afrin. Die Gebiete der Türkei, in denen es Kämpfe mit kurdischen Einheiten gab, sind Provinzen wie Sirnak und Hakkari im Südosten, nicht aber die Provinzen Hatay und Kilis im äußersten Westen, die auf der anderen Seite der Grenze zu Afrin liegen. Zudem hat die Türkei die gesamte Grenze zu Afrin mit einer hohen Betonmauer abgeriegelt, die stellenweise erst wieder abgebaut werden musste, um mit Panzern hindurchzukommen.
Seit dem Rückzug des Assad-Regimes im Sommer 2012 herrschen in Afrin die „Partei der Demokratischen Union“ (PYD) und deren bewaffnete „Volksschutzeinheiten“. Welches Gesellschaftsmodell propagiert die PYD – und wie verhält sich das zur Wirklichkeit?
Die PYD propagiert eine auf Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern ausgerichtete demokratische Gesellschaft als Teil eines föderal aufgebauten syrischen Staates. Nationalistische Töne werden gemieden, auch eine Unabhängigkeit wird nicht als Ziel angegeben.
Welche Rolle spielt der Islam in Afrin?
Afrin hat in Syrisch-Kurdistan den Ruf, äußerst säkular zu sein. Eine Einführung der Scharia etwa wäre sicher nicht mehrheitsfähig. Das wird auch auf das jesidische Erbe Afrins zurückgeführt. Heute gibt es in der Provinz noch sechsundzwanzig jesidische Dörfer, aber zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts waren nach verschiedenen Quellen mehr als die Hälfte der Einwohner Afrins Jesiden. Unter Druck konvertierten viele von ihnen später zum Islam, ohne jedoch sonderlich überzeugte oder gar fanatische Muslime zu werden. Der Islam spielt in Afrin grundsätzlich keine dominierende Rolle.
Zeigt sich das im Alltag?
Die Stadt Afrin, die vermutlich um die 100 000 Einwohner hat, ist die größte Stadt in Syrien unter ausschließlich kurdischer Verwaltung, und es gab dort bis
zum türkischen Angriff keinerlei Sicherheitsprobleme. Unter diesen Bedingungen hat sich dort so etwas wie ein bürgerliches Leben entwickeln können, ein Alltag des Mittelstands. Man sieht in Afrin Frauen, die nur mit anderen Frauen im Café sitzen – das ist für Syrisch-Kurdistan, aber auch für Syrien insgesamt bemerkenswert. Eine armenische Familie in Afrin hat früher den bekanntesten Anisschnaps Syriens gebrannt. Zwar ist die Produktion nach Belgien verlegt worden, der Schnaps wird aber weiterhin getrunken in Afrin – ebenso wie Bier, das bis zum Kriegsausbruch meist aus der Türkei über die Grenze geschmuggelt wurde. Kurzum: In der urbanen Mittelschicht Afrins hat sich ein säkularer Lebensstil entwickelt, der sich Europa annähert.
Kurdinnen sind trotzdem auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter beschränkt. Der bewaffnete Kampf ist meist der einzige gesellschaftlich akzeptierte andere Weg einer kurdischen Frau. Oder werden Kurdinnen in Syrien außer dem Recht, in eigenen Frauenbataillonen gegen Dschihadisten zu kämpfen, auch individuelle Rechte zugestanden?
Auch im vergleichsweise liberalen Afrin sind Frauen weit davon entfernt, individuelle Entscheidungen für andere Lebenswege treffen zu dürfen. Für die Mehrheit gilt, dass ihnen der Kampf in den „Volksverteidigungseinheiten“ die Möglichkeit zu einem Lebensweg ebnet, der früher nicht bestand. Davon machen Tausende junge Kurdinnen Gebrauch. Die YPJ, die weiblichen Bataillone der Volksverteidigungseinheiten, sind durchaus auch militärisch relevant.
Nehmen kurdische Clanführer es denn so einfach hin, dass ihre Töchter kämpfen wollen, statt zu gebären?
Es gibt Kritik daran, dass sich junge Frauen, teilweise aus wirklich konservativen Familien, auch gegen den Willen der Familien den Volksverteidigungseinheiten anschließen können. Ich habe von konservativ-religiösen Kurden oft gehört, dass man ihre Mädchen „entführe“. Bei genauerem Nachfragen drängte sich aber stets der Schluss auf, dass es sich nicht um Entführungen handelte, sondern dass Mädchen vor einer frühen Verheiratung oder einer Überfülle häuslicher Pflichten geflohen waren.
In den Kurdengebieten des Iraks wird noch die Vielehe praktiziert. Wie ist das in Afrin?
Das ist jedenfalls sehr selten. Ich kenne keinen Fall einer polygamen Ehe in Afrin. Vielleicht gibt es noch einige ältere Großbauern auf dem Lande, die mehrere Frauen haben, aber es ist gesellschaftlich absolut unüblich. Bei den Aleviten, die in dem knapp achttausend Einwohner zählenden Städtchen Mabeta nordwestlich von Afrin leben, gibt es das überhaupt nicht und bei den Jesiden ebenso wenig. Auch bei den Muslimen Afrins habe ich es nie gesehen oder gehört.
Eine kurdische Frauenrechtlerin in Syrien hat sich allerdings beklagt, es sei auch bei Kurden immer noch üblich, dass ein zehnjähriger Bruder seiner doppelt so alten Schwester Befehle erteilen könne.
Vor allem auf dem Land ist das tatsächlich immer noch gesellschaftlicher Alltag. Dort herrschen weiterhin sehr konservativ-patriarchalische Verhältnisse. Propaganda und Maßnahmen der PYD zugunsten von Frauen verändern gesellschaftliche Verhaltensweisen nicht über Nacht.
In Syrien wächst jetzt die erste kurdische Generation heran, die muttersprachlichen Schulunterricht erhält. Wie auch immer der Krieg endet: Ist ein Zurück zum Status quo ante, als nur auf Arabisch unterrichtet wurde, noch realistisch?
Eine Rückkehr zum Arabischen würde zumindest für die Generation, die nun auf Kurmanci unterrichtet wird, der in Afrin vorherrschenden Varietät des Kurdischen, einen massiven schulischen Rückschritt bedeuten. Das Kurmanci wird in Syrien wie in der Türkei mit dem lateinischen Alphabet geschrieben. In den ersten drei Schuljahren lernen Kurden in Afrin kein Arabisch mehr.
Gibt es denn genügend Lehrer, die auf Kurdisch unterrichten können?
Eine Lehrerschaft entsteht erst. Viele Kurden aus Afrin haben früher in Aleppo studiert oder dort an der Universität gelehrt. Das ist jetzt kaum mehr möglich, hat aber dazu beigetragen, dass in Afrin im Herbst 2015 die erste Universität der Kurden in Syrien gegründet werden konnte. Viele Lehrkräfte waren früher Professoren in Aleppo. Nun bilden sie Mediziner, Techniker und Lehrer in Afrin aus – aber noch viel zu wenig, um den Bedarf zu decken.
Gibt es an den Schulen auch kurdischen Geschichtsunterricht?
In den höheren Klassen schon, wobei ich noch kein kurdisches Geschichtsbuch gesehen habe. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass es um die Buchproduktion in den kurdischen Kantonen in Syrien generell schlecht bestellt ist. Es mangelt an Papier und Druckereien. Deshalb gibt es zwar eine Fibel für die Volksschule, aber sonst kaum Bücher.
Erstaunlich, dass Beamte in Afrin weiter vom Assad-Regime bezahlt werden.
Das ändert sich zwar langsam, aber noch gilt tatsächlich: Wer vor dem Bürgerkrieg syrischer Staatsbeamter war, bekommt weiter Geld aus Damaskus. Für das Regime ist das ein Vehikel, um Einfluss auf die Kurdengebiete auszuüben. Daraus entstehen natürlich Loyalitätskonflikte. Aber die PYD kann das nicht einfach unterbinden, da ganze Großfamilien von den Überweisungen aus Damaskus abhängen und diese Mittel noch nicht aus kurdischen Quellen ersetzt werden können.
Wie steht es um die Menschenrechte in Afrin? Es gibt Berichte, dass auch die PYD ihre Gegner foltern lasse.
Dass es in Einzelfällen dazu kommt, halte ich für absolut glaubwürdig. Ich habe selbst die durch Zigaretten verursachten Brandwunden eines Oppositionellen gesehen, der von kurdischen Polizisten verhaftet worden war. Folterungen politischer Gegner sind in der politischen Kultur Syriens tief verwurzelt, und es wäre fast ein Wunder, wenn das bei den Kurden von heute auf morgen völlig verschwunden wäre. Soweit ich es übersehe, lässt die PYD ihre Gegner aber nicht systematisch foltern, so wie es das syrische Regime macht. Angesichts der Umstände in Syrien scheint mir selbst das schon ein Fortschritt zu sein. Die Erwartung, dass mitten im Bürgerkrieg in einem Teil Syriens eine blühende Demokratie entstanden sein könnte, ist unrealistisch. Immerhin hat die PYD Kritik, wie sie etwa von Human Rights Watch geäußert wurde, nicht pauschal zurückgewiesen, sondern Übertretungen eingestanden und Besserung gelobt.
Die PYD hat seit mehr als fünf Jahren die Macht in Afrin, doch da es noch keine regulären Wahlen gab, weiß niemand, wie populär die Partei wirklich ist. Könnte sie sich bei halbwegs demokratischen Wahlen an der Macht halten?
In Afrin gab es im Dezember Regionalwahlen, an denen sich die wichtigsten Oppositionsparteien aber nicht beteiligt haben. Allerdings hätte die PYD auch dann mit hoher Wahrscheinlichkeit eine absolute Mehrheit erhalten. Aus Gesprächen in der Region habe ich den Eindruck gewonnen, dass sich die PYD durch ihren Kampf gegen den „Islamischen Staat“ und dadurch, dass sie Afrin bis zum türkischen Angriff vollkommen aus dem Kriegsgeschehen heraushalten konnte, selbst bei jenen Kurden eine gewisse Legitimität verschaffen konnte, die sie vorher nicht unbedingt akzeptiert haben. Die innerkurdische Opposition gegen die PYD ist im Osten des kurdischen Gebietes wesentlich stärker als in Afrin. Dort ist die PYD auf jeden Fall die populärste politische Kraft. Das hat auch mit der homogenen Bevölkerung des Kantons zu tun. Zählt man die Jesiden zu den Kurden, dann ist die ursprüngliche Bevölkerung von Afrin, also abgesehen von den Binnenvertriebenen, zu mindestens 98 Prozent kurdisch. Es gibt nur ganz kleine Minderheiten – einige tausend Aleviten und kleine Reste christlicher Gemeinden, auch die halten zur PYD. Der Angriff der Türkei hat zudem zu einer gewissen innerkurdischen Konsolidierung geführt: Der kurdische Nationalrat, in dem sich die härtesten Gegner der PYD zusammengeschlossen haben, hat den türkischen Einmarsch einhellig verurteilt. Sollte die Türkei tatsächlich bin in die Stadt Afrin vorstoßen, wird sie sich sehr schwertun, dort kurdische Kollaborateure zu finden.
Thomas Schmidinger, geboren 1974, ist Politikwissenschaftler und Kulturanthropologe am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.
Das Gespräch führte Michael Martens.