Die Freiheit zur Krankheit - Wider die biopolitische Dressur des Menschen -

Unter Biopolitik versteht der französische Philosoph Michel Foucault die auf den Körper des einzelnen und auf den Bevölkerungskörper insgesamt ausgerichteten Praxen der Normalisierung und Disziplin, um diese Körper zu optimieren, um ihre Produktivität im Sinne der Norm zu steigern und Störungen der gesellschaftlichen Funktionsabläufe zu unterbinden. Die Seuche im Jahr 2020 wurde in diesem Sinn genutzt zum Versuch der Etablierung einer neuen körperlichen und gesellschaftlichen Normalität mit dem Ziel, bereits vorher angestrebte Durchgriffe auf die Subjekte durchzusetzen und ihren passförmigen Umbau für die Verwertungsprozesse des digitalen Kapitalismus zu organisieren. Die Fremdbestimmung dieser Prozesse zu unterlaufen muss Anliegen jedes politisch kritischen Ansatzes sein, in dessen Mittelpunkt die Selbstbestimmung der Subjekte steht. Krisenzeiten sind Zeiten in denen sich diese Auseinandersetzungen um die Kontrolle der Körper zuspitzen.

 

 

 

Dieses Buch nimmt im ersten Text 'Ausweitung des biopolitischen Zugriffs auf die Subjekte in Zeiten der Seuche' diese aktuellen Entwicklungen in den Blick. Der Text wird ergänzt durch einen älteren Texte, der ein Schlaglicht auf vorhergehende Entwick-lungen der aktuellen Biopolitik wirft. Der Text 'Biopolitik & die Individualisierung der Öffentlichen Gesundheit' aus dem Jahr 2012 wies bereits damals auf die Gefahren der Reduktion von Menschen auf Datensätze hin, ein reduktionistischer Blick, der in Zeiten der Seuche nun verallgemeinert wurde.

 

Ausgangspunkt dieser Texte ist eine durch anarchistische Ideen beeinflusste Sicht auf die Individuen und die Gesellschaft. Das heißt die staatliche Biopolitik wird als direkter Angriff auf die Freiheit und die Selbstbestimmung des Subjekts begriffen. Bereits der untersuchende Blick der Medizin auf den Körper und dadurch vermittelt auf den Menschen konstituiert wesentlich Teile des Verhältnisses des Menschen zum eigenen Körper und zu sich selbst und widerspricht in seiner totalitären Anmaßung der Freiheit des Subjekts. Die Ausweitung dieser Kontrollen im postmodernen biopolitischen Selbstmanagement mit Smartwatch und Dauerüber-wachung ist das Gegenteil von Selbstbestimmung. Jede Linke, die eine antiautoritäre Utopie vertritt, muss hier Möglichkeiten der Gegenwehr, des Entzugs und von Alternativen finden. Zum Kern der Freiheit des Subjekts gehört die körperliche Selbstbestimmung inklusive der Freiheit zur Krankheit, der Freiheit Krankheitsrisiken einzugehen, der Freiheit zum ungesunden Leben, aber auch der Freiheit sich davor zu schützen. Die Entscheidungen über den eigenen Körper, z.B. für Krankheit, müssen nicht anderen gegenüber begründet werden, sie müssen keiner von anderen nachvollziehbaren Vernunft Rechnung tragen, es reicht das sie bewusst und frei gefällt wurden.

 

 

 

Leben bedeutet auch zu sterben, Krankheit und Verfall. Der Versuch diese Teile des Lebens vollständig zu negieren führt notwendiger Weise zu einem Leben, das dem wirklichen Leben so vergleichbar ist, wie die Friedhofsruhe der Freiheit. Da aber der Körper und die Menschen in ihrem gesamten Sein im Zuge der Ausweitung der Akkumulationsregime im Digital- und Finanz-kapitalismus immer stärker in den Verwertungsfokus des Kapitals geraten und die biopolitische Optimierung der Subjekte als einer der Wachstumsmärkte der Zukunft gehandelt wird, wird das Nichtbekämpfen körperlichen Verfalls zunehmend zum Stigma. Und es besteht die akute Gefahr, dass in diesem Kontext die Verschärfungen der Kontrollmechanismen und Zugriffe im Zuge der Seuche auf Dauer gestellt werden. Insbesondere unter Berücksichtigung der schon länger laufenden Politiken der 0-Tolleranz gegen biopolitische AbweichlerInnen.

 

 

 

Die Texte in diesem Buch sind Streitschriften, sie sind nicht dazu gedacht Diskurse abzuschließen, sondern neue Blickwinkel, Gedanken, Sichtweisen zu eröffnen und Diskurse zu erweitern. Sie sind zwar dem rationalen Diskurs verpflichtet, aber keine Wissen-schaftstexte, sondern begreifen sich als Denkanstoß. Die LeserInnen sollten, wie jeden Text, auch diesen Text kritisch lesen und sich ihre eigenen Gedanken machen, den Text nutzen, wie einen Steinbruch, und die Teile aufgreifen, die passen.

 

 

 

Notwendig ist eine tiefer gehende Diskussion innerhalb der antiautoritären Linken über die maßlose Unterordnung erheblicher Teile der Gesellschaft unter staatliche Autorität bis hin zu DenunziantInnentum denen gegenüber, die weiter in diesem Staat das Problem sahen und seine Autorität in Frage stellten und stellen. Der weitere Umbau dieses Staates hin zu einem post-demokratischen Überwachungsstaat wurde dabei willentlich nicht nur in Kauf genommen, sondern mit Beifall bedacht, absurder Weise selbst von Gruppen, die sich nach eigenem Bekunden, als antiautoritär links begreifen. Dies alles macht nichts weniger als einen Neuanfang linksradikaler Bewegungspolitik notwendig, aufbauend auf einer klaren Kritik dieser 'linken' Affirmation des Obrigkeitsstaates. Vielleicht ist dies aber auch eine Chance um sich von Gruppen, die zunehmend nur noch als Wartungsteam des herrschenden Systems agieren, in dem sie die systemischen Widersprüche zu glätten versuchen, deutlich abzusetzen und radikale Alternativen neu zu formulieren. Langfristig bedarf es einer starken außerparlamentarischen BürgerInnenbewegung, die in der Lage ist, nicht nur offensiv Kritik und Widerstand gegen die Zumutungen des modernen digitalen Überwachungsstaates und des mit ihm verbundenen Digital- und Finanzkapitalismus zu bündeln, sondern auch Alternativen zu formulieren. Vielleicht sind die unter dem Zeichen der Seuche umgesetzten biopolitischen Zumutungen ja dafür langfristig ein Anlass, diese Texte tragen erst einmal nur ihren Anteil zur Kritik bei.

 

 

 

Ada Frankiewicz - Hannover, 2021

 

 

(vorwort zum Buch)

 

 

 

 

 

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