Diesem Deutschland die Party crashen: Aufstand im Hinterland

Event Datum: 
Dienstag, Oktober 3, 2017 - 00:00
Stadt/Region: 
Tag der deutschen Einheit in Mainz Wir laden euch ein, zum 3. Oktober nach Mainz zu kommen und gemeinsam am Gegenprogramm zur offiziellen Feierei von Nation, Staat und Kapital teilzunehmen.

Kein Grund zum Feiern – Tag der deutschen Einheit in Mainz

Am 3. Oktober wird jedes Jahr der “Tag der deutschen Einheit” begangen und dabei die sogenannte friedliche “Wiedervereinigung” der zwei deutschen Staaten gefeiert. Es ist der Nationalfeiertag einer deutschen Nation, zu deren Selbstverständnis es gehört, angeblich demokratisch, weltoffen, tolerant, humanistisch, geläutert zu sein. “Zusammen sind wir Deutschland” ist dieses Jahr das Motto. Wir feiern nicht, denn wir können dieser Erzählung nicht zustimmen. Wir laden euch ein, zum 3. Oktober nach Mainz zu kommen und gemeinsam am Gegenprogramm zur offiziellen Feierei von Nation, Staat und Kapital teilzunehmen.

STAAT

Seit einigen Jahren soll es also wieder normal sein, stolz auf Deutschland zu sein. Aber wieso? Die Bundesrepublik Deutschland ist der direkte Nachfolgestaat des NS-faschistischen Deutschen Reiches. Auch wenn viele gerne einen Schlussstrich ziehen möchten, es gibt ihn nicht. Schon kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war vieles wieder wie davor. Die alten NS-Eliten hatten fast alle wieder ihre Positionen: In der Wirtschaft, in der Politik, an den Universitäten, in der Justiz, in der Polizei, in der Bundeswehr, in den Geheimdiensten. In einigen Bereichen konnte die 68er Bewegung etwas verändern, doch gerade bei Polizei, Geheimdiensten und Bundeswehr sind die Kontinuitäten offensichtlich. Die kapitalistische Bundesrepublik wollte nicht auf die Kompetenz im Töten, Bespitzeln und Überwachen verzichten.

“Für Fremdenfeindlichkeit ist hier kein Platz” sagen die SPDler_innen und bemühen sich zusammen mit den anderen Volksparteien um das Bild der demokratischen, toleranten Mitte. Doch es sind die bürgerlichen Parteien, die sich einen offenen und toleranten Anstrich geben, die Sozialleistungen demontieren, die Asylgesetzgebung verschärfen und den rassistischen Ausschluss von Menschen immer weiter vorantreiben. Wer sonst ist verantwortlich für die grausame staatliche Sparpolitik, für den Ausbau der Festung Europa, für die militärischen Operationen an den Grenzen, die immer wieder viele Menschenleben kosten?

Menschenverachtung und Neonazismus sind ein Problem der bürgerlichen Mitte. Sonst würde die staatliche Reaktion auf hunderte Tote, die der Neonazismus in Deutschland seit 1990 gefordert hat, anders aussehen. Sonst würden die Abschiebungen von Asylsuchenden aufhören.

NATION

Im Namen dieser frisch erschaffenen Nation nahm das Deutsche Reich am Verbrechen des Kolonialismus teil, wurde die Gesellschaft militarisiert, wurde der Erste Weltkrieg angefangen und nahm das Verbrechen des NS-Faschismus und des Zweiten Weltkrieges seinen Lauf. Und nun wird jedes Jahr am 3. Oktober diese Nation, die so viel Scheiße gebaut hat, gefeiert. Ein Blick in die Vergangenheit offenbart, wie wenig feierlich das ist.

Sich mit der deutschen Nationalität zu identifizieren, heißt sich positiv auf diese Vergangenheit zu beziehen. Es heißt auch die vergangene Unterwerfung von jenen zu akzeptieren und zu reproduzieren, die als Andere, Minderwertige und auf Grund ihrer Herkunft als nicht-Zugehörige konstruiert wurden. In der Gegenwart heißt eine positive Selbstidentifikation mit einer deutschen nationalen Identität auch Grenzen zu ziehen zwischen Deutschen und nicht-Deutschen.

Der “gesunde Patriotismus” will das deutsche Nationalgefühl seit dem Mauerfall wieder salonfähig machen. Die Nation und vor allem die gefährdete Nation wurde wieder als Gemeinschaftsphantasie angeboten. Ein Beispiel hierfür ist die “Leitkulturdebatte” vom Ende der 1990er Jahre in Zusammenhang mit Einwanderung. Spätestens seit 2001 durfte mensch wieder “stolz [sein], ein Deutscher zu sein” (CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer). “Du bist Deutschland!” tönte die bis dahin in der BRD größte Social Marketing Kampagne 2006. Das deutsche Nationalgefühl war erfolgreich gefördert worden. Es fiel sofort auf den fruchtbaren Boden der Ausgrenzung, genährt aus der Mitte der Gesellschaft. Ein Beleg dafür ist nicht zuletzt der Erfolg des menschenverachtenden Buches des SPDlers Thilo Sarrazin.

Auch ein “inklusiver Patriotismus” ist nicht die Lösung. Im Jahr 2016 haben 21 Prozent aller in Deutschland lebenden Menschen einen Migrationshintergrund. Auch der Patriotismus passt sich an. Er wird durch ein bisschen mehr Diversity upgedated. Diversity Management findet sich in fast jedem wirtschaftlichen Projekt und seiner Vermarktung. So findet der Diversity-Anstrich sich auch auf den diesjährigen nationalen Feiern am 3. Oktober in Mainz. Menschen unterschiedlicher Herkunft dürfen Deutschland seit neuestem auch mitvermarkten. Dahinter steckt die Vorstellung, dass Probleme kaschiert werden können, wenn nur ein bisschen mehr Vielfalt draufgeklebt wird.

KAPITAL

Das Motto “Zusammen sind wir Deutschland” ist eine modernisierte Version der Propaganda-Kampagne “Du bist Deutschland” aus dem Jahr 2006. Aus dem Fernsehwerbespot geht klar hervor, um was es geht: Die Menschen sollen sich mit dem nationalen Kollektiv identifizieren, für das Kollektiv Verzicht üben und ihre eigenen Interessen hinten anstellen. Als übergeordnetes Ziel der »Volksgemeinschaft« wird der Erfolg des deutschen Kapitals gesehen. Wenn es ihr gut geht, geht es angeblich allen gut.

Diese Erzählung verschleiert ganz bewusst die soziale Ungleichheit in Deutschland, die durch die Politik immer mehr verstärkt wird. Die Interessen einer profitorientierten Wirtschaft werden als die Interessen der Bevölkerung dargestellt. Alle Menschen seien gleich. Dabei sorgt die derzeitige Wirtschafts-, Gesellschafts- und politische Ordnung dafür, dass genau das nicht der Fall ist. Das Prinzip ist das gleiche wie früher: Du bist nichts, die Volksgemeinschaft ist alles. Egal wie schlecht es dir geht, du kannst stolz sein auf deine Nation.
Da helfen auch keine vorgeschobenen humanistischen Traditionen Deutschlands oder gar der Europäischen Union. Deutschland ist Teil der EU, die als Wirtschaftsgemeinschaft gegründet wurde und heutzutage große Anstrengungen unternimmt, ihren Wohlstand zu verteidigen. Den Wohlstand, den es nur aufgrund des Kolonialismus und einer ungerechten Wirtschaftsordnung gibt. Und so enden die viel gerühmten europäischen Traditionen und die Menschenrechte an dem Stacheldraht der Außengrenzen, im Massengrab im Mittelmeer oder in den Abschiebelagern der kapitalistischen europäischen Peripherie.

SCHEISSE

Alternative und ermächtigende Selbstdefinitionen finden sich außerhalb von nationalen Identitäten. Sie finden sich dort, wo Menschen sich keine Grenzen setzen um zusammenzukommen. Behörden wie zum Beispiel Jobcenter oder Einwohnermeldeamt, Arbeit, Wohnungsmarkt, Ausbildung, Bewegungsfreiheit, Kulturindustrie, politische Meinungsbildung – kaum ein Lebensbereich wo die deutsche kapitalistische Gesellschaft, nationale Politik oder staatliche Kontrolle nicht über uns bestimmt. Sich Inseln in der Scheiße zu erkämpfen hat nichts mit Deutschland oder deutsch-sein zu tun. Im Gegenteil: Freiräume und grenzenlos solidarisches Miteinander können nur ohne Deutschland und gegen Deutschland Wirklichkeit werden.

Zwischen Staat, Nation und Kapital gibt es auch Inseln in der Scheiße: antifaschistisches Engagement, Solidarität mit Migrant_innen, selbstverwaltete Freiräume und noch einiges Anderes. Diese Inseln sind von der heuchlerischen Erzählung von einem erfolgreichen, weltoffenen, geläuterten, geschichtsbewussten, einflussreichen Deutschland bedroht. Sie müssen immer wieder erkämpft werden. Genau diese Inseln in der Scheiße wollen wir mit unserem Protest gegen die Nationalfeierlichkeiten am 3. Oktober in Mainz stark machen. Dabei wird es sicher viele unterschiedliche und kreative Möglichkeiten geben, die Erzählung zu stören und Alternativen aufzuzeigen.

Den ganzen Aufruf, Infos und kurzfristige Programmupdates gibt es unter 3oktobermainz.noblogs.org.

Kontakt: 3oktobermainz@riseup.net

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3oktobermainz.noblogs.org
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