Dunkle Ecken und unvorhersehbare Situationen während widerständiger Aktionen -eine Erfahrung

Der Text beinhaltet Schilderungen von physischer und sexualisierter Gewalt.

 

Dunkle Ecken und unvorhersehbare Situationen während widerständiger Aktionen -eine Erfahrung

Wir wurden im Zuge einer nächtlichen Aktion zu Zeug*innen eines sexuellen Übergriffes. Wir wollen im Folgenden mit euch das Geflecht aus verschiedensten Ebenen teilen. Wir werden sowohl über das Geschehene berichten als auch Gedanken und Teile unserer Reflexionen darlegen und erhoffen uns dazu beitragen zu können, dass wir selbst und andere in Zukunft auf gegebenenfalls ähnliche Situationen vorbereitet sind.

 

Was geschah

Es war eine ruhige Nacht. Die Straßen waren erstaunlich leer und weder Bullen noch groß andere Leute lungerten herum. Wir* fühlten uns gut vorbereitet auf unsere Aktion. Alle Absprachen waren getroffen, verschiedenste Szenarien durchgespielt und wir fühlten uns sicher.

 Unser letzter Treffpunkt war ein dunkler kurzer Grünstreifen ganz in der Nähe des Zielobjektes.

Die Stimmung war angespannt, wir blieben wartend in Deckung der Dunkelheit um unnötige Zeug*innen zu vermeiden. Ein paar Mal durchquerten Passant*innen den Grünstreifen auf den beleuchteten Wegen, ein paar auf dem Fahrrad, einige zu Fuß. Schließlich bog eine Person mit ihrem (vermeintlichen) Hund in die Büsche ein und verschwand in der Dunkelheit. Zu weit weg um genauer sehen zu können.

Nach einigen Minuten gingen zwei von uns noch einmal los, um zu checken, ob die Luft rein ist. Dann ging alles schnell und gleichzeitig wie in Zeitlupe. Außerdem gibt es verschiedene Perspektiven auf das Geschehene. Diese verschiedenen Perspektiven auf das Folgende werden aus verschieden Standpunkten geschildert und fließen hier zu einem Gesamtgeschehen zusammen.

Der Übergriff

Wir hörten Holz und Äste knacken und einen lauten Hilfeschrei, darauf schnell folgendes Wimmern/Rufen und “lass mich“, vor allem aber: “Hilfe”. Just in diesen Moment kamen die beiden um die Ecke, die genau auch diesen Schrei hörten, gefolgt von dem klatschenden Geräusch kräftiger Schläge.

Die gesamte Gruppe reagiert: Die beiden, die gerade in diesem Moment in den Grünstreifen einbiegen und nur wenige Meter von dem Täter entfernt sind, begeben sich sofort in Richtung des Schreis und beginnen den Typ anzuschreien und festzuhalten – drohen mit Gewalt und bringen den Täter zu Boden. Die etwas weiter entfernte Gruppe kommt teilweise zum Ort des Geschehens gerannt, gelaufen – Unsicherheit herrscht vor. Einige bleiben beim Material.

Für manche von uns ist die Situation sofort selbsterklärend: Eine Vergewaltigung.

Einige stellen sich auf das Fahrrad des Mannes und ihm in den Weg, einige versuchen die Frau* anzusprechen, die völlig fertig auf dem Boden liegt. Sie steht langsam auf und versucht sich die Hose hochzuziehen. Sie ist offensichtlich benommen. Er wird angeschrien: „Was hast du gemacht?“, „er hat sie vergewaltigt“ wird gerufen, der Typ bleibt erstaunlich ruhig, redet etwas von seinem Geld, das er wieder haben wolle, fängt sich einige wenige Schläge, geht kurz zu Boden. Sie ruft leise, benommen und dennoch klar, dass wir ihn gehen lassen sollen: “Lasst ihn!”.

Einige aus der Gruppe sind völlig irritiert, wollen die Situation nicht vorschnell einordnen, nicht alle haben das gleiche gesehen. Und: In komplexen und undurchsichtigen Situationenkönnen verschiedene Informationen untergehen, wenn sie durcheinander gerufen werden .

Gleichzeitig wird aus dem nahestehenden Häuserblock gerufen: “Was ist da los? – Ich rufe die Polizei!”. Wir geraten unter Druck. Nach wie vor ist nicht klar, was da gerade passiert ist. Einer von uns ruft weiter: “Alter, der hat die vergewaltigt!”. Der Impuls, sofortige Konsequenzen aus dem Gesehenen zu ziehen und derImpuls,der Frau zuzuhören, stehen sich gegenüber. Im Handgemenge müssen wir uns schnell entscheiden. Währenddessen ziehen sich welche aus der konkreten Situation zurück, um das Material einzusammeln. Das ist definitiv der falsche Ort, die falsche Gruppe und die falsche Uhrzeit um von den Bullen, die (vermeintlich) gerufen wurden, kontrolliert zu werden.

Der Typ wird angeschrien, er solle sich verpissen und haut schließlich ab. Unsere Materialien werden eingepackt und von einigen aus der Gruppe weggebracht. Ein Teil der Gruppe kümmert sich nun um die Frau* und bringt sie an einen von ihr genannten sicheren Ort. Die Frau* hat ein fettes Veilchen im Gesicht. Sie beginnt sofort ihre Perspektive auf das Geschehene zuerzählen

Sie erzählt von einemDeal um Kokain und von Schlägen. Sie habe es „für so wenig nicht machen wollen“ und hätte sich gewehrt. Sie redet von Kügelchen (…) Wir erinnern uns, dass der Typ auch etwas von einem Deal und davon gesprochen hat, dass sie ihm noch was schuldet.

Wir bringen sie an einen Ort ihrer Wahl. Während zwei von uns sie begleiten, laufen zwei weitere mit Abstand hinterher. Und merken dadurch, dass der Typ offensichtlich nach ihr sucht, denn wir begegnen ihm noch zweimal.

Kurz danach treffen wir uns alle wieder, besprechen unseren Schock und entscheiden uns dafür, die Aktion abzubrechen.

Danach

Wir alle kennen die Prozentzahlen, nach denen 90 Prozent der sexuellen und sexualisierten Gewalt im engen Bekannten- und Familienkreis stattfindet. Auch in diesem Fall kannten sich Täter und Betroffene zumindest etwas.Wir waren auf diese Konfrontation mit einer Vergewaltigung und einem Vergewaltiger nicht vorbereitet. Natürlich nicht. Wir waren aus ganz anderen Gründen vor Ort.

 

Im Nachgang stellen wirunsfolgende Fragen und denken, dass diese auch für andereGruppen, die nachts und in dunklen Ecken unterwegs sind, wichtig sein können.

 → Für wen oder welches Milieu sind die Ecken, in denen wir unsnachts aufhalten,ebenfalls interessant?

 → Was hat Vorrang? In was mischen wir uns ein? Das erscheint im Falle einer Vergewaltigung klar, aber es gibt noch unzählige andere Szenarien, in denen Menschen Hilfe brauchen.

    • Die Orte, an denen wir uns bewegen, an denen wir handlungsfähig und organisiert sind, sind auch das Terrain anderer randständiger Gruppen, bspw. Drogenkonsument*innen, Obdachlose, Dealer*innen, Sexarbeiter*innen. In welchem Verhältnis stehen wir zu ihnen, bzw. was wissen wir über diese Gruppen? Was wissen wir über einzelne Akteur*innen?

    • Gibt es konkrete Orte für Deals, für Überfälle, fürVergewaltigungen? Gibt es sichere Orte in der Nähe, an die Opfer von Übergriffen gebracht werden können?

    • Müssen Sachen weggeschafft werden, falls die Polizei eintrifft? Wohin können sie schnell gebracht werden?

    • Wer sollte nicht zusammen kontrolliert werden

 

    • Kann die Aktion noch abgebrochen werden? Soll sie durchgezogen werden? Haben wir einen Treffpunkt für unabsehbare Situationen vorab besprochen?

 Umgang mit dem Geschehenem und Reflexion

Wir haben uns danach mehrmals zum Austausch und zur Reflexion getroffen. Wir haben darüber nachgedacht, was wir machen können und dabei verschiedene Perspektiven ausgetauscht. Das mag banal klingen, war aber wichtig, um uns überhaupt eine gemeinsame Version der Geschehnisse zu erarbeiten. Wer hat wann was mitbekommen? Wie schnell wurde reagiert, was lief zu langsam? Wessen Impulse haben sich durchgesetzt? Wer hat warum gezögert?

Ein weiterer Punkt war, herauszufinden, mit wem wie geredet werden kann und ob es das Bedürfnis gibt, dies auch außerhalb der Gruppe zu tun. Wer braucht emotionale Unterstützung und von wem kann diese geleistet werden?

Die emotionale Belastung einzelner war hoch und musste aufgefangen werden. Nach dem emotionalen Umgang mit der Situation, für den wir viel Zeit verwendet haben, fingen wir an über einen politischen Umgang zu sprechen. In Bezug auf die Thematik, in Bezug auf den Täter aber vor allem in Bezug auf die Betroffene. Wir überlegten, was wir im Nachgang für die Betroffene tun können. Unsere ehrliche Antwort lautete: nichts. Einerseits müssen wir uns vor Repression schützen und trauen uns keine (professionelle) Unterstützungsarbeit zu und das ist auch nicht unsere Aufgabe. Den nachträglichen Kontaktaufbau mit der Betroffenen, mit dem Ziel individueller Unterstützung, konnten wir nicht leisten. Das ist bitter und gleichzeitig realistisch. Hinzu kommt, dass eine Zusammenarbeit mit den Bullen für uns nicht in Frage kommt, weder als Zeug*innen noch irgendwie anders.

Was blieb, war der Wunsch, unsere Erfahrung zu teilen, unser Handeln zur Diskussion zu stellen und andere Nachtaktive zu fragen:

Seid ihr auf solch eine Situation vorbereitet?

(Nachtrag: kurze Zeit später haben wir die Aktion erfolgreich durchgeführt.)

 

 

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Ergänzungen

Danke für euren ausführlichen Bericht und dass ihr eure Erfahrung teilt. Ich wollte anmerken, dass einige immer davon ausgehen, nachts vergewaltigt zu werden. D.h. nicht "vorbereitet zu sein", aber sich mit dieser Möglichket außeinanderzusetzen tue ich mich nicht erst, seit dem ich nachts für Aktionen unterwegs bin, sondern seitdem ich nachts unterwegs bin! Nur mal so als Einwurf. Trotzdem wichtig über sexualisierte Gewalt und wie wir uns und andere schützen können, zu reden! Falls ihr euch vorher noch nie darüber Gedanken gmacht habt, dann sehr gut wenn ihr es jetzt tut. Ergänzend dazu auch nochmal der Hinweis, dass solche Taten auch IN UNSEREN RÄUMEN stattfinden!