Politik mitverantwortlich für Flut in Mexiko

LK, Gruppe B.A.S.T.A. 15.11.2007 05:36 Themen: Globalisierung Soziale Kämpfe Weltweit Ökologie
Fehlplanung, Korruption und Unterlassungen haben Auswirkungen verschärft. Präsident Calderón nutzt Desaster zur Imagepflege
Interview mit Norma Cacho und Miguel Pickard von Zentrum für ökonomische und politische Forschung (CIEPAC) aus San Cristóbal de las Casas, Chiapas (www.ciepac.org)

Frage: In den vergangenen Wochen wurde auch in Europa über die Flut im südmexikanischen Bundesstaat Tabasco berichtet. Wie ist die Situation im ebenfalls betroffenen Nachbarbundesland Chiapas aktuell einzuschätzen?

Norma Cacho: In Chiapas sind die Landkreise Reforma, Juárez, Pichucalco, Sabanilla, Ostuacán und Huitiupán am stärksten betroffen. 1.231 Häuser wurden beschädigt und 2.673 Menschen befinden sich in 32 Notunterkünften. Über 5.000 Personen, die in hochgefährdeten Gemeinden in Reforma und Pichucalco leben, wurden evakuiert. Dort sind vier Flüsse über die Ufer getreten. In Reforma hat der Río Carrizal Häuser und Anbauflächen überschwemmt. Hier wurden mehr als 1.400 temporäre Flüchtlinge umquartiert. In Chicoasén wurden diverse Häuser durch die Strömung des Río Chiquito mitgerissen. Dutzende Menschen werden vermisst. Das Abrutschen eines Hügels hat 300 Meter der Autobahn zwischen Tuxtla Gutiérrez, der Hauptstadt von Chiapas, und Ciudad Cuauhtémoc, weggespült. Dies hat dazu geführt, dass neun Landkreise aus Nordchiapas ohne Verbindung zur Außenwelt sind.
Im Moment setzt ein Preisanstieg der Basisprodukte ein, der bis zu 100 Prozent umfasst, in mehr als 30 Landkreisen der Nordzone, der Urwaldregion und des Zentrums.

Miguel Pickard: Die schwerwiegendste Situation herrscht in der Gemeinde Juan de Grijalva im Landkreis Ostuacán, wo die sturzbachartigen Regenfälle eine Lawine verursacht haben, die fast das gesamte Dorf unter der Erde begraben hat. Bis zum 12. November wurden mindestens 13 Leichen gefunden, aber es wird erwartet, dass sich die Zahl der Toten weiter erhöht. Wegen der Überschwemmungen in Ostuacán sind noch immer 700 Personen evakuiert. Viele Gemeinden in Chiapas sind völlig abgeschnitten und die Aufarbeitung der genauen Schäden beginnt erst.

Frage: Warum sind die Auswirken der Katastrophe so heftig? Es sind bereits Unmutsäußerungen seitens unabhängiger Organisationen und der Bevölkerung zu hören. Worin besteht ihre Kritik gegenüber den bundesstaatlichen und der Zentralregierung?

Pickard: In Tabasco beschuldigen die Menschen die ehemaligen Gouverneure Roberto Madrazo und Manuel Andrade, beide von der ehemaligen Einheitspartei PRI, fast 180 Millionen US-Dollar gestohlen zu haben, die vom parastaatlichen Ölkonzern Pemex für Maßnahmen gezahlt worden waren, die die Überschwemmungen unter Kontrolle bekommen sollten. Pemex selbst hat jedoch auch verschiedene Straßen in dem Bundesstaat gebaut, die verhindern, dass das Wasser in seinen natürlichen Flussbetten aus den feuchten Zonen in Richtung Meer fließen kann. Es wurde zudem berichtet, dass Ex-Gouverneur Andrade in der Hauptstadt Villahermosa zahlreiche Baugenehmigungen für Wohnhäuser und Einkaufszentren erteilt habe, die auf Ländereien gebaut wurden, die als Abfluss in Richtung Meer gelten. Dies hat dazu geführt, dass das Wasser nicht seinen natürlichen Strömen folgen kann, was die Stadt überflutet.

Cacho: Andrés Manuel López Obrador, ehemaliger Präsidentschaftskandidat der sozialdemokratischen PRD hat gesagt, dass die staatliche Energiebehörde CFE fahrlässig gehandelt habe, als sie die Tore des Wasserkraftwerks Peñitas öffnen ließ. Er beschuldigte ebenso das Energieministerium, dass seit der Elektrizitätsreform ein schlechtes Management des Talsperrensystems vorherrsche, das die Kraftwerke Angostura, Chicoasén, Malpaso und Peñitas umfasst. Dies sei der Tatsache geschuldet, dass sie nicht in vollem Umfang Strom produzieren. Daher füllen sich die Seen und wenn außergewöhnliche Regenfälle auftreten, müssen die Schleusen geöffnet werden.
In Chiapas gibt es vier Talsperren entlang des Flusses Grijalva. Alle wurden ausschließlich dazu konstruiert, Elektrizität zu erzeugen. Und Probleme wie die Fluten, die es zuvor schon gegeben hatte, wurden nicht in Betracht gezogen. Außerdem – wie es hier immer in solchen Fällen geschieht – wurde nicht darüber nachgedacht, welche Auswirkungen die Stauseen auf die Siedlungen haben könnten, die sich entlang des Grijalva befinden, und viel weniger noch wurden die Menschen dort konsultiert.

Auch wenn die Klimasituation ungünstig ist, liegen die Notsituationen in Tabasco und Chiapas im Verantwortungsbereich des Staates, der trotz der vergangenen Überschwemmungen nicht die Sicherheit der Bevölkerung garantiert, sondern sich damit zufriedengibt, Nothilfe zu leisten. In Tabasco wurde bereits 1999 vor schweren Fluten gewarnt. Weder die Lokal- noch die Zentralregierung waren in der Lage, Präventiv- oder Rehabilitierungsmaßnahmen in Bezug auf die Wassersysteme zu realisieren.
Im Fall von Chiapas registrieren wir bei jeder Regenperiode schwere Schäden in den ärmsten Gemeinden. Und jedes Jahr ist es das selbe: Hunderte oder Tausende Personen werden geschädigt und vertrieben. Die Versprechungen sind ebenfalls immer wieder gleich, aber die Lokalregierung unternimmt keine effektiven Aktionen, um die Schäden zu reduzieren.

Frage: Was unternimmt Präsident Felipe Calderón in dieser Situation?

Pickard: Seit seinem illegitimen Amtsantritt – die Wahlen von 2006 sind bis heute umstritten - versucht sich Calderón mit allen Mitteln zu legitimieren. Tabasco und Chiapas sind da keine Ausnahme. Wenige Tage nach Beginn der Katastrophe zeigte er sich in der Region und hat keine Möglichkeit unterlassen, in seinen öffentlichen Botschaften zu betonen, dass die Bundesregierung den Umständen entsprechend reagiert. Trotzdem wird an die Solidarität der Zivilgesellschaft appelliert, obwohl der Staat in solchen Fällen die Hilfe garantieren muss. Die Zentralregierung hat jede Verantwortung für die Situation negiert. Sie hat stattdessen den “Klimawandel” dafür verantwortlich gemacht. Inmitten dieser Situation präsentierte Calderón ein “Programm zur Wassernachhaltigkeit” für die Region um Mexiko-Stadt, wobei er betont, dass die Stadt eine ähnliche Katastrophe wie in Tabasco ereilen könnte. Dies geschieht mit klaren politischen Interessen. Wir werden aufpassen müssen, ob die vorgesehenen Finanzmittel wirklich für dieses Ziel eingesetzt werden.

Cacho: Ferner ist es typisch, dass im Falle solcher Katastrophen die Bevölkerung verantworlich gemacht wird, weil sie sich in gefährlichen Zonen niederlasse, in der Nähe von Flüssen und in Gegenden, die wenig geeignet zum Leben seien. Dabei wird vergessen, dass die soziale und ökonomische Ausgrenzung die Gründe dafür sind, dass die Menschen unter diesen Umständen leben müssen.

Frage: Nach dem Hurrikan “Stan” im Herbst 2005 wurde einigen zerstörten Gemeinden von staatlichen Funktionären Land entzogen. Besteht im aktuellen Fall die Gefahr, dass sich dies wiederholt?

Cacho: Selbstverständlich existiert dieses Risiko. Die Autoritäten könnten vorbringen, dass die Menschen sich an Orten niedergelassen haben, die von den Überflutungen oder anderen Phänomenen geschädigt werden könnten, und fordern, dass sie umgesiedelt werden. Die Leute werden also vertrieben und selbstverständlich werden ihnen keine angemessenen Bedingungen für eine Wiederansiedlung garantiert. Es reicht, das Beispiel vom Hurrikan “Stan” zu betrachten, nach zwei Jahren seines Auftretens sieht man immer noch Verwüstungen und viele Personen sind noch immer orkangeschädigt.
Wir dürfen nicht die Hypthese von Naomi Klein aus ihrem letzten Buch “Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus” vergessen: die Funktionäre nutzen die fragile Umweltsituation nach jeder Katastrophe - sei sie natürlich oder vom Menschen gemacht - , um Maßnahmen durchzusetzen, die in anderen Fällen von der Bevölkerung abgelehnt würden.

Frage: Welche Maßnahmen müssten ergriffen werden, um die Situation mittel- und langfristig zu verbessern?

Pickard: Es müsste strukturell darauf geantwortet werden, es müssten zum Beispiel die Deiche der Flüsse gesichert werden, aber das scheint angesichts der Erfahrungen mit den vergangenen Regierungen illusorisch. Diese Fakten zeigen die Verwundbarkeit des mexikanischen Staates, sowohl im Bereich der sozialen Sicherheit, als auch im Bereich der Energie, denn das Flussbecken des Grijalva ist der größte Energieproduzent des Landes. Wir rufen die internationale Gemeinschaft auf, die Situation weiter aufmerksam zu beobachten, denn wenn die sich die Unfähigkeit und die Korruption in den Regierungen forsetzen, wird sich die Situaion wahrscheinlich verschlechtern.

Interview: LK, Gruppe B.A.S.T.A., Mexiko-Stadt

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Ergänzungen

Wie umgehen mit einer schlechten Regierung?

AS, München 30.11.2007 - 09:22
Hallo LK,

hab mich gefreut über deinen Artikel, das Thema wird ja für viele Menschen auf dem Planeten zunehmend lebensbestimmender. Vor allem in den Tropen nehmen die Unwetter-Katastrophen, Taifune, Hurrikane, aber auch Dürren, seit den 80er Jahren rasant zu. Allein im Jahr 2005 fanden im Gebiet der Karibik 3 der 10 schwersten Hurrikan-Katastrophen der letzten 100 Jahre statt.

Natürlich stimme ich den beiden CIEPAC-Leuten zu, dass eine schlechte Regierung entscheidende Auswirkungen auf den Ausgang einer Unwetter-Katastrophe für die Betroffenen hat, sowohl bei den fehlenden Präventionsmaßnahmen als auch bei der Hilfe bzw. den "Reformen" danach.

Ich wollte aber noch zwei Dinge anmerken:

1. Internationale Verantwortung:
Immer noch wird kontrovers diskutiert, ob die Zunahme der Hurrikan-Tätigkeit Ausdruck des Klimawandels ist - ich hab auch nach langer Suche keine vernünftigen Argumente gegen diese nahe liegende These gefunden. Klar ist, dass die Voraussetzung für das Entstehen von Hurrikans eine Wassertemperatur von über 26 Grad ist, und ebenfalls bewiesen ist der Anstieg der Temperaturen in den betreffenden Seegebieten in den letzten Jahrzehnten. Dass der Zusammenhang Treibhausgas-Emmission - Erderwärmung - Wassererwärmung - Zunahme von Hurrikanen u.ä. noch immer nicht offiziell anerkannt wird, hat meines Erachtens politische Gründe. Die Hauptverursacher des Klimawandels hätten dann nämlich keine Argumente gegen etwaige Ansprüche der Betroffenen auf Entschädigung. So können sie sich weiterhin als edle Retter gebärden, die bei den schlimmen Naturkatastrophen barmherzig Hilfe leisten, und zwar in dem Maße, wie ihnen das recht ist.
Leider habe ich noch nicht mitbekommen, ob bisher Stimmen aus dem Süden eingefordert haben, der Norden solle zu seiner Mitverantwortung für die Katastrophen stehen. Auch für den nicaraguanischen Präsidenten Daniel Ortega, dessen Land im September von dem verheerenden Hurrikan "Felix" heimgesucht wurde, und der ansonsten für antiimperialistische Rhetorik bekannt ist, sind die Hurrikane "unberechenbar".

2. Selbstschutz auch ohne gute Regierung
Das Siedeln in gefährdeten Gebieten dürfte ein Phänomen sein, das sich in vielen Ländern findet, wo die sozialen Bedingungen den unteren Schichten keine andere Wahl lassen, weil sie ohnehin ums Überleben kämpfen.
Aus El Salvador und Nicaragua kenne ich Beispiele, wie Gemeinden, mit der Hilfe lokaler NGOs, mit einfachen Mitteln z.B. landwirtschaftlich genutzte Hänge am Abrutschen hindern, z.B. mit beplanzten Versickerungsgräben. Die Untätigkeit der dortigen Regierungen auf dem Gebiet der Katastrophenprävention hat die Leute vor Ort dazu gebracht, das Problem selbst in die Hand zu nehmen und so zu einer stärkeren Selbstorganisation beigetragen.
Bei Bedrohungen durch schlecht geplante Staudämme geht das natürlich nicht. Um diesen Zumutungen beizukommen, muss man tatsächlich GEGEN die schlechte Regierung vorgehen. Im Falle des in Nicaragua geplanten COPALAR-Staudammes ist das auch gelungen, u.a. dank einer Kampagne der Münsteraner NGO CIR gegen das ausführende Unternehmen Siemens.
Lustig: Internationale Solidarität als Maßnahme zur Katastrophenprävention.


viele Grüße aus der Metropole,

AS