Goni floh mit dem Helikopter aus Bolivien

Alejandro Campos (juguete rabioso), dt: ibon 20.10.2003 13:54 Themen: Globalisierung Repression Soziale Kämpfe Weltweit
Eine Zusammenfassung der Ereignisse in Bolivien. Aus der Extraausgabe der bolivianischen Zeitung "juguete rabioso".
Gonzalo Sánchez de Lozada trat am vergangenen Freitag als Präsident von Bolivien zurück, nachdem er von seinen Regierungsverbündeten inmitten der massiven sozialen Proteste verlassen wurde, die einen Saldo von rund 70 Toten forderten. Sein Nachfolger wird der Vizepräsident Carlos Mesa.

Mesa hatte Sánchez de Lozada am Montag zuvor die Unterstützung für seinen Umgang mit dem sozialen Konflikt entzogen. Dieser begann vor einem Monat mit Strassenblockaden und dehnte sich in der Folge auf das ganze Land aus, mit der Teilnahme von Dutzenden von sozialen Organisationen, und ab Samstag waren die Stadt El Alto und die Hautpstadt La Paz vollständig stillgelegt.

Sánchez de Lozada machte seinen Rücktritt mit einem Brief ans Parlament bekannt, das sich noch bis am selben Abend versammelte, um das Rücktrittsschreiben zu verlesen.

Ungefähr um 17 Uhr bolivianische Zeit verliess der Ex-Amtshaber die Präsidentenresidenz und machte sich mit dem Helikopter davon, ohne ein Ziel anzugeben. Es wird vermutet, dass er nach Argentinien oder Peru flog.

Der Abgeordnete Evo Morales, einer der wichtigsten Führungspersonen in den Protesten, machte deutlich, dass er bereit sei, Mesa als neuen Präsidenten Boliviens zu unterstützen, solange dieser die Erwartungen des Volks erfülle. Damit bezog sich Morales auf die Verfassungsänderung und einen Wechsel des Marktwirtschaft-Modells.

Weiter fügte Morales hinzu, dass es jetzt, nach dem Rücktritt von Sánchez de Lozada, darum gehe, einen Gerichtsprozess zu beginnen, in dem der Ex-Amthaber für die Toten infolge der militärisch-polizeilichen Repression zur Rechenschaft gezogen werde.
Noch ist nicht klar, ob der neue Präsident die Amtszeit von Sánchez de Lozada von insgesamt fünf Jahren erfüllen wird, die am 6. August 2007 zu Ende geht, oder ob es ein Übergang bis zu vorgezogenen Wahlen sein soll.

Weder Morales noch der Präsident der Aymara-Bewegung und Abgeordnete Felipe Quispe, eine weitere Führungsperson in den Mobilisierungen, gaben an, ob ihre Organisationen an der neuen Regierung teilnehmen würden.

Der Rücktritt des 73jährigen Sánchez de Lozada kam zustande, nachdem er zweimal innerhalb einer Woche betont hatte, dass er nicht zurückzutreten gedenke. Sonst, meinte er, würde er einen Prozess der Destabilisierung beschleunigen, der seiner Meinung nach von Morales angeführt würde.

Der abgehende Amtsinhaber versicherte mehrmals, dass er es mit einer ?subversiven Konspiration, die vom Ausland unterstützt werde?, zu tun habe, die sich der sozialen Proteste bediene, insbesondere der Proteste gegen den Gasverkauf in die USA, mit dem Argument, dass dieser dem Land schade.

In einem Versuch, die Proteste zu beenden, erklärte Sánchez de Lozada am Mittwoch, dass er einen guten Teil der ursprünglichen Forderungen der Organisationen der Zivilbevölkerung und der politischen Opposition akzeptiere.

Dazu bestätigte er, dass er eine Abstimmung einberufe, um den Ausgang der Pläne für den Gasexport zu bestimmen, und bot an, noch einmal mit den transnationalen Ölfirmen zu verhandeln, um die Einnahmen des Staats im Bereich Steuern und Abgaben zu verbessern. Ausserdem solle auch eine verfassungsgebende Versammlung zur Reform der Grundrechte einberufen werden.

Aber laut den Führungspersonen der sozialen Bewegungen und der Opposition war es bereits zu spät für dieses Angebot: Nach einem Monats der Proteste ohne Antwort der Regierung forderten sie den Rücktritt des Präsidenten.

Die Stadt El Alto, die ärmste des Landes, befindet sich seit einem Monat inmitten von Mobilisierungen und Strassenblockaden, die von Tag zu Tag an Grösse und Stärke gewannen.

Allerdings nahm am letztem Samstag auch die Repression der Polizei und der Armee zu und hinterliess um die 70 Tote, wie verschiedene Quellen bestätigten - obwohl die offiziellen Zahlen von 40 Toten sprechen - und mehrere Hundert Verletzte in La Paz und El Alto.

Auch wurde deutlich, dass Geheimdienstangestellte der Regierung versuchten, die Medien zum Schweigen zu bringen, insbesondere Radio und Fernsehen, und dass versucht wurde, ganze Zeitungsausgaben verschwinden zu lassen.

Obwohl die Behörden dies leugneten, kritisierten diverse Medienverantwortliche Sánchez de Lozada hart für diese Versuche, die Pressefreiheit zu beschneiden.

Die Proteste der Indigenen, der Bauern, MenschenrechtsaktivistInnen, GewerkschafterInnen und anderen sozialen Gruppen hisste zu Beginn die Fahne gegen die Verträge des Gasexports mit privaten Firmen und dem möglichen Weg durch Chile, einem Land, das sich in der Vergangenheit den bolivianischen Meereszugang angeeignet hatte.

Die Mobilisierung wurde jedoch länger und grösser, weil sich darin auch eine historische Unzufriedenheit ausdrückte, mit den Bedingungen der Armut, dem politischen Umgang mit Korruption und Günstlingswirtschaft.

Laut Zahlen ist Bolivien eines der am wenigsten entwickelten Länder Lateinamerikas, mit einer Armutsquote von über 70 Prozent der 8,2 Millionen EinwohnerInnen. Drei von zehn Personen leben in extremer Armut, und um die dreizehn Prozent der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung sind arbeitslos.

Laut inoffiziellen Zahlen sind überdies über eine Million Personen in der informellen Wirtschaft tätig, und Minenarbeiter erhalten ein Monatseinkommen von 14 US-Dollar monatlich für eine Arbeit mit Arbeitstagen von 14 Stunden, und etwa die Hälfte der Familien leben von einem US-Dollar pro Tag.

Ab Mittwoch schlossen sich ausser den sozialen Organisationen auch Persönlichkeiten zum Beispiel aus der Kultur an und begannen einen Hungerstreik, angeführt von der ehemaligen Ombudsfrau Ana María Campero.

Sánchez de Lozada, einer der mächtigsten Minenunternehmer des Landes, trat die Präsidentschaft am 6. August 2002 an, nachdem er in der Stichwahl vom Parlament gewählt wurde. Sein Konkurrent war Evo Morales, der in den zuvor abgehaltenen Wahlen knapp hinter Sánchez de Lozada auf den zweiten Platz gelangt war.

Der Unternehmer hatte in den Volkswahlen zwar den ersten Platz erreicht, jedoch nicht genug Stimmen, um das Präsidentenamt direkt anzutreten. Dies wurde ihm erst ermöglicht, nachdem ihm die Partei MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria - Partei der Revolutionären Linken) von Ex-Präsident Jaime Paz Zamora (1989-1993) ihre Stimmen gab.

Dies war die zweite Amtszeit von Sánchez de Lozada, der bereits von 1993 bis 1997 der Regierung vorstand. In jener Zeit trieb er die so genannte Kapitalisierung voran, eine Mischform von Privatisierung mit staatlicher Beteiligung, die die Ölfirmen und -Quellen transnationalen Unternehmen übergab.

Der Ex-Präsident wird oft Goni genannt, aber die DemonstrantInnen bezeichneten ihn als "Gringo", spricht er doch Spanisch mit einem deutlichen englischen Akzept, der davon herrührt, dass er lange in den USA lebte und dort seine Ausbildung genoss.
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Ergänzungen