Aus der Zeitschrift Ronahi Ausgabe 38

YXK - Verband der Studierenden aus Kurdistan 01.09.2013 23:10 Themen: Antifa Antirassismus Freiräume Gender Repression Weltweit
Der folgende Artikel ist erstmals in der 38. Ausgabe der Verbandszeitschrift des Verbandes der Studierenden aus Kurdistan erschien. Er beschreibt die aktuellen politischen Entwicklungen in Kurdistan, die sozialen und politischen Kämpfe im gesamten Nahen- und Mittleren Osten und die Situation der kurdischen Community insbesondere der Jugend in Deutschland und Europa.
Eine Chance auf Frieden – Eine Chance die Geschichte neu zu schreiben
„Dies ist kein Ende, sondern ein Neubeginn. Der Kampf ist nicht zu Ende, sondern ein neuer, anderer Kampf beginnt.“1


Die Kurdische Frage ist unweigerlich mit dem Einfluss der kapitalistischen Moderne auf den Nahen und Mittleren Osten (NMO) seit Anfang des 19. Jahrhunderts verbunden. Sie resultiert aus den drei Grundpfeilern der Kapitalistischen Moderne – Nationalstaat, Industrialismus, Kapitalismus – und lässt das Gebiet, das wir als Kurdistan begreifen, sowie die umliegenden Länder seit 200 Jahren nicht zu Atem kommen.
In den letzten Monaten schienen sich die Ereignisse mit Bezug zur Kurdischen Frage nahezu zu überschlagen. Der Begriff „Friedensprozess“ bestimmt die Diskussion und mensch neigt dazu, ihn mit der aktuellen politischen Lage gleichzusetzen. Doch um diesen Prozess zu verstehen und auf die Entwicklungen reagieren zu können, müssen wir uns die Zeit nehmen, wichtige Fragen zu stellen: Wie konnte es überhaupt zu einem Friedensprozess kommen? Was ist bereits im Zuge dieses Prozesses geschehen? Wie gestaltet sich die weitere Auseinandersetzung um die Kurdische Frage? Was ist von dem Friedensprozess zu erwarten? Welches sind die Perspektiven der YXK aufgrund der aktuellen politischen Lage? Was haben die Proteste um den Gezi-Park für die Zukunft zu bedeuten. Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden.

Wie ist es zu dem Friedensprozess gekommen?

Dieser Frage stellen sich viele Mainstream-Medien derzeit überhaupt nicht. Stattdessen klammern viele Beiträge die Ereignisse der letzten Monate konsequent aus oder beschränken ihre Darstellung auf die Aussage, dass der bewaffnete Konflikt im letzten Jahr wieder zahlreiche Menschenleben gekostet habe, sodass Abdullah Öcalan zur Beilegung des bewaffneten Kampfes aufgerufen habe, woraufhin sich die Guerilla-Einheiten aus der Türkei zurückziehen würden. Dass uns diese Lesart der aktuellen Ereignisse keine befriedigenden Antworten bieten kann, liegt auf der Hand, denn es lässt sich nicht nachvollziehen, warum gerade jetzt ein Frieden geschlossen werden sollte und wie dieser Frieden aussehen könnte – ob überhaupt von einem gerechten Frieden die Rede sein kann. Daher müssen wir mit unserer Betrachtung der aktuellen Ereignisse in der Vergangenheit ansetzen.
Ende Mai 2010 erklärte die ArbeiterInnenpartei Kurdistans (PKK) die dritte Phase des Freiheitskampfes unter ihrer ideologischen und politischen Führung für beendet. Diese Phase zeichnete sich durch die Suche nach einer Lösung für die Kurdische Frage aus. Spätestens seit 1993 war die Freiheitsbewegung bestrebt, eine politische Lösung herbeizuführen, die das Blutvergießen beenden und einen gerechten Frieden sichern sollte. Eine solche Lösung musste jedoch erst entwickelt werden, da der eigene Weg zu einem freien Kurdistan nicht einfach den Modellen des Realsozialismus oder nationaler Befreiungsbewegungen des 20. Jahrhunderts folgen konnte, wie deren Erfahrungen spätestens zu Ende der 1980er Jahre gezeigt hatten. Die Suche nach einem neuen Lösungsansatz gestaltete sich vor allem aufgrund des andauernden schmutzigen Krieges und dem durch ihn begünstigten „Bandenwesen“2 innerhalb der PKK als durchaus schwierig und langwierig. Im Laufe dieses Prozesses wurde vor allem durch Abdullah Öcalan das Paradigma der demokratischen, ökologischen und geschlechterbefreiten Gesellschaft entwickelt, nach dem sich eine freiheitliche Gesellschaft im Modell des Demokratischen Konföderalismus organisieren könnte. Mit dem Aufbau von Selbstverwaltungsstrukturen, eingebettet in das System der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), wurde ab 2005 ein wichtiger Schritt in Richtung Demokratischer Konföderalismus unternommen. Ein beispielhafter Versuch einer revolutionären Bewegung, breite Teiler der Bevölkerung und Zivilgesellschaft in die eigene Politik einzubeziehen und gemeinsam ein eigenes System als Alternative zur vorherrschenden Kapitalistischen Moderne aufzubauen.
Die vierte Phase des Freiheitskampfes wurde im Frühjahr 2010 ausgerufen. Sie wird auch als Zeit der Lösung bezeichnet. Ausdruck findet sie in dem Slogan „An Azadî, An Azadî!“3 Sie zeichnet sich dadurch aus, dass der Ansatz des Demokratischen Konföderalismus konsequent verfolgt wird und auf diese Weise eine Lösung der Kurdischen Frage herbeigeführt werden soll. Dies soll im Rahmen der „Demokratischen Autonomie“ mit oder notfalls auch ohne den Staat geschehen. „Das Konzept der Demokratischen Autonomie lautet „Staat + Demokratie“. Das heißt, die Demokratische Autonomie sucht nicht den Machtkampf mit dem Staat und will auch selbst keinen Staatsapparat aufbauen. Sie stellt vielmehr ein Modell dar, das den Staat dazu bewegen soll, den demokratischen Willen der Bevölkerung und dessen Bedürfnisse und Selbstverwaltung zu respektieren.“4
Die ausdrückliche Betonung der Möglichkeit einer unilateralen Lösung muss als Reaktion auf die andauernde staatliche Zurückweisung der ausgestreckten Hand, welche von der Freiheitsbewegung als Zeichen des Friedens und der Versöhnung gereicht wurde, verstanden werden. Als Ausdruck der Bereitschaft zu einem Friedensprozess von Seiten der Freiheitsbewegung sollten Initiativen wie das Vorlegen eines konkreten Aktionsplans für die Beilegung des bewaffneten Konfliktes durch Abdullah Öcalan im August 20095 sowie das Entsenden der sogenannten „Friedensgruppen“ aus dem Flüchtlingscamp Maxmur in Südkurdistan und von der Guerilla im Kandil-Gebirge aus in die Türkei im Oktober 2009 nicht vergessen werden. Solche Initiativen wurden vom Staat mit der Konfiszierung der „Roadmap“, der Anklage der Friedensgruppen, der anhaltenden Repression gegen die zivilen Strukturen der Freiheitsbewegung und der militärischen Eskalation beantwortet. Für die Betrachtung der aktuellen politischen Lage sollten wir uns merken: 1. Es gab bereits vor der vierten Phase zahlreiche Versuche einer friedlich-politischen Lösung, vor allem durch die Freiheitsbewegung. 2. Diese Initiativen blieben unbeachtet oder wurden mit Krieg beantwortet. 3. Als Konsequenz wurde die Phase der (notfalls auch einseitigen) Lösung erklärt.
Seit Beginn der vierten Phase 2010 kam es zu einigen markanten Eckpunkten im Verlauf der Kurdischen Frage, die hier aufgrund des begrenzten Raumes nur angerissen werden können: der Oslo-Prozess6 scheiterte, da es die Regierung am notwendigen Willen zur Lösung mangeln ließ, woraufhin sich Abdullah Öcalan von Gesprächen mit dem Staat zurückzog und damit seiner politischen Haltung Ausdruck verlieh, sich nicht instrumentalisieren und hinhalten zu lassen. Daraufhin verhängte der Staat im Juli 2011 eine Totalisolation gegen ihn, die bis heute nicht aufgehoben wurde – seine AnwältInnen können ihren Mandaten nach wie vor nicht besuchen.7 Im gleichen Monat riefen die Vorsitzenden des Demokratischen Gesellschaftskongresses (DTK) die Demokratische Autonomie in Nordkurdistan aus, um der einseitigen Lösung Nachdruck zu verleihen.
Nach dem Abbruch des Oslo-Prozesses versuchte der Iran im Juli/ August 2011 mit einer militärischen Großoffensive in das Rückzugsgebiet des militanten Teils der Freiheitsbewegung, die Medya-Verteidigungsgebiete in Kandil einzumarschieren. In Kreisen, die der türkischen Regierung nahe stehen, machte der Ausdruck der „tamilischen Lösung“ die Runde, womit das Programm der militärischen Vernichtung der kurdischen Freiheitsbewegung offen benannt wurde. Die iranischen Militäroperationen wurden von den Guerilla-Einheiten der Partei für ein freies Leben in Kurdistan (PJAK), Einheiten des Ostens Kurdistans (HRK) und denen der PKK, Volksverteidigungskräfte (HPG) abgewehrt, wobei viele iranische Soldaten ihr Leben verloren. Die vorgesehene Offensive des türkischen Militärs, welche die Guerilla mit einer zweiten Front konfrontieren sollte, blieb daraufhin aus. Eine „tamilische Lösung“ der Kurdischen Frage erwies sich erneut als Sackgasse der staatlichen Politik.
Mit den Protesten gegen die staatliche Politik im November 2011 und der Feier des Newroz-Festes 2012 entgegen jeglicher staatlicher Verbote – beides im nordkurdischen Amed – machte die kurdische Bevölkerung deutlich, dass sie die Zentralregierung in Ankara nicht anerkennt und mit Aktionen des massenhaften zivilen Ungehorsams das Gewaltmonopol des Staates in Frage stellt. An die Aktionen des zivilen Ungehorsams in Nordkurdistan knüpften kurdische PolitikerInnen, Intellektuelle und AktivistInnen in Europa mit einem unbefristeten Hungerstreik im Frühjahr 2012 in Strasbourg an. Dieser wurde von Demonstrationen und vielfältigen kreativen Protesten vor allem kurdischer Jugendlicher in der europäischen Diaspora begleitet. Die Hauptforderung der Proteste war, die Isolation gegen Abdullah Öcalan aufzuheben und als AkteurInnen europäischer Politik und Staaten Druck auf die türkischen EntscheidungsträgerInnen auszuüben, um Raum für eine demokratische Lösung zu schaffen.
Den Sommer 2012 über führten Guerilla-Einheiten der HPG sogenannte „revolutionäre Aktionen“ in Nordkurdistan durch, deren Ziel es war, ganze Gebiete für das Militär unpassierbar zu machen. Die türkischen Streitkräfte wurden in ihre Kasernen zurückgedrängt und konnten teilweise nur aus der Luft versorgt werden. Währenddessen führten die HPG Straßenkontrollen durch und inhaftierten Politiker und Staatsdiener8, die sich am Krieg gegen die kurdische Bevölkerung beteiligt hatten. Die „revolutionären Aktionen“ in Nordkurdistan wurden durch die rasanten Entwicklungen in Westkurdistan beflügelt. Nachdem sich die Freiheitsbewegung, vertreten durch die Partei der demokratischen Einheit (PYD) lange zurückhaltend zu der syrischen Revolution verhielt9, befreite sie mit den neu eingerichteten Volksverteidigungseinheiten (YPG) eine Stadt nach der anderen innerhalb der kurdischen Gebiete vom Assad-Regime. Sie baute in kürzester Zeit Volksräte und eine selbstorganisierte Zivilgesellschaft auf und konnte auf diese Weise offen die Demokratische Autonomie in Westkurdistan ausrufen, an der sie bereits seit Jahren, während der Assad-Herrschaft, im Untergrund gearbeitet hatte.
Am 1. September 2012 trat die Kampagne „Freiheit für Abdullah Öcalan“ mit einer breit angelegten Petition für die Freiheit Öcalans und der politischen Gefangenen in der Türkei sowie einer demokratischen Lösung der Kurdischen Frage an die internationale Öffentlichkeit. Während die Petition, die bis zum 1. September 2013 geführt wird, weltweit für Unterstützung warb, begannen die politischen Gefangenen der Freiheitsbewegung in den türkischen Gefängnissen ihren einzigartigen Widerstand für politische und kulturelle Rechte für die kurdische Bevölkerung sowie die Gesundheit, Sicherheit und Freiheit Abdullah Öcalans. Inhaftierte PKK- und PJAK-AktivistInnen begannen einen unbefristeten Hungerstreik, dem sich tausende politische Gefangene anschlossen, sodass er zum größten Hungerstreik in der neueren Geschichte anwuchs und erst am 68. Tag beendet wurde. Ein Ende fand der Streik erst, nachdem sich die Regierung gezwungen sah, mit Abdullah Öcalan in Dialog zu treten, sodass dieser die Hungernden bitten konnte ihre Aktion zu beenden, bevor es zu Toten kommen würde.
Dieser Zeitpunkt Ende November 2012 war der Moment, an dem der Wille der Regierung, die Anliegen der kurdische Freiheitsbewegung zu ignorieren und sie selbst zu vernichten, gebrochen wurde und sich die Freiheitsbewegung mit dem Ziel, eine politische Lösung im Dialog herbeizuführen, vorerst durchsetzen konnte. Es war der Moment, an dem ein Friedensprozess möglich wurde. Diese Entwicklungen lassen einen roten Faden in den Aktionen der Freiheitsbewegung erkennen, die mit ihrer Politik im Zuge der vierten Phase sehr erfolgreich war, den türkischen Staat an den Verhandlungstisch zu zwingen und die Schranke vor dem Weg zu einer politisch-friedlichen Lösung zu durchbrechen.

Der bisherige Friedensprozess: kleine Schritte mit historischer Tragweite

Abdullah Öcalan mit seiner Bitte an die Hungerstreikenden im November 2012 erneut öffentlich zu Wort kommen zu lassen, war das Eingeständnis der türkischen Regierung gegenüber der kurdischen Freiheitsbewegung, sie durch eine „tamilische Lösung“ nicht vernichten zu können und Öcalan als politischen Akteur und vor allem als Ansprechpartner auf Seiten der Freiheitsbewegung anzuerkennen. Es folgten mehrere Gespräche mit staatlichen VertreterInnen auf Imralı sowie bereits mehrere Delegationen von BDP-ParlamentarierInnen10. Die BDP wiederum konnte Briefe Öcalans an die KCK- und PKK-Verantwortlichen in Kandil – und zwar in aller Öffentlichkeit – und die Freiheitsbewegung in Europa überbringen sowie im Rahmen der Neworz-Feierlichkeiten am 21. März auf Kurmancî und Türkisch eine Erklärung Abdullah Öcalans verlesen.11 Der Versuch der Regierung, den PKK-Vorsitzenden vom Prozess auszuschließen und von der Freiheitsbewegung zu isolieren, ist gescheitert, stattdessen wird nun bereits öffentlich über eine Zusammenlegung Öcalans mit weiteren gefangenen FührungskaderInnen und PolitikerInnen aus Zusammenhängen der Freiheitsbewegung oder seine Verlegung in Hausarrest diskutiert.
Den Äußerungen von und zu Abdullah Öcalan folgte die Initiative der Guerilla, die erklärte, sich aus dem türkischen Staatsgebiet zurückzuziehen. Dieser Schritt stieß bei vielen SympathisantInnen der Friedensbewegung und solidarischen Gruppen auf Skepsis bis Unverständnis, warum er besonders aufmerksam analysiert werden sollte. Die Marxistische Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) etwa erklärte: „Für die MLKP ist es offensichtlich, dass die PKK sich ihrer Situation, oder anders ausgedrückt dem Risiko, welches sie eingeht, bewusst ist.“12 Die Guerilla-Kräfte in Nordkurdistan waren lange Zeit eine – wenn nicht gar die – Garantie dafür, dass der Staat seine „tamilische Lösung“ nicht umsetzen konnte und hatten mit ihren „revolutionären Aktionen“ bedeutenden Anteil daran, dass die Regierung gezwungen war einen Friedensprozess in Gang zu setzen. Die Regierung konnte sich zu Jahresbeginn allerdings eine kurze Zeit lang als treibende Kraft des Friedensprozesses darstellen, da sie die Gespräche mit Öcalan ermöglichte und die Initiative im Prozess nicht aus der Hand gab, obwohl sie keine eigenen Vorschläge für dessen Verlauf unterbreitet oder öffentlich zur Diskussion gestellt hatte. Auf diese Weise machte sich die Regierung unangreifbar und stellte die Freiheitsbewegung – vor allem die Guerilla – in der (Welt-) Öffentlichkeit als Hindernis für einen Frieden dar. Mit der Presseerklärung der KCK am 25. April machte die Freiheitsbewegung der Regierung einen Strich durch diese Rechnung: Kernstück der Erklärung war die Ankündigung des militärischen Rückzugs ab Anfang Mai. Dieser Vorstoß birgt zwar ein großes Risiko, da vorerst auf eine Garantie und ein wichtiges Druckmittel verzichtet wird, doch wurde er international sehr begrüßt und hat erneut allen BeobachterInnen deutlich gemacht, dass die Freiheitsbewegung ihre Forderungen nach einer friedlich-politischen Lösung ernst meint und bereit zu Verhandlungen ist. Die Initiative und die bestimmende Rolle im Friedensprozess liegen wieder auf Seiten der Freiheitsbewegung und nicht nur das; die Presseerklärung hat weitere wichtige Eckpunkte der Politik der Freiheitsbewegung im Prozess definiert: 1. Der militärische Rückzug wird allein nach den Vorstellungen der Guerilla stattfinden. 2. Abdullah Öcalan ist nach wie vor als Repräsentant der Freiheitsbewegung anzuerkennen, ein Friedensprozess ist nur mit ihm im Mittelpunkt vorstellbar. 3. Die militärische Komponente, auf die in Nordkurdistan freiwillig verzichtet wird, soll durch eine politische Offensive ersetzt werden. Der Rückzug der Guerilla muss somit als Anfang einer anhaltenden Auseinandersetzung verstanden werden, nicht als ihr Ende. Beachtlich ist zuletzt die Tatsache, dass dieser Vorstoß der Freiheitsbewegung aus einer Position der Stärke heraus geschieht, sie also diejenige ist, die die Bedingungen diktiert und an der mittlerweile keine Politik mehr vorbei gemacht werden kann.
Damit auch am Parlament keine Politik vorbei gemacht wird, wurde nach Vorschlag der Regierungspartei AKP13 mit den Stimmen der AKP- und BDP-Fraktionen eine Kommission gegründet, welche den Friedensprozess untersuchen und beaufsichtigen soll. Durch diese Kommission, zu deren Gründung Abdullah Öcalan schon seit Jahren anregt, wird der Friedensprozess ins Parlament getragen und bleibt nicht hinter verschlossener Tür vom wechselhaften Kurs der Regierungspolitik abhängig, der bereits in der Vergangenheit eine Lösung der Kurdischen Frage gefährdete. So konnte beispielsweise der Oslo-Prozess ohne Aufhebens abgebrochen werden, da er aufgrund der Geheimhaltung aller Beteiligter nicht von einer kritischen Öffentlichkeit begleitet werden konnte.
Ähnlich verhält es sich mit dem sogenannten „Rat der Weisen“, welcher mit je neun Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft in sieben Regionen der Türkei auf eine demokratisch-friedliche Lösung hin arbeiten soll. Seine Zusammensetzung wird zwar von Seiten der Freiheitsbewegung – und vor allem von der kurdischen Frauenbewegung, die die Gründung eines „Rates der weisen Frauen“ angekündigt hat – kritisiert, doch wird seine Einrichtung grundsätzlich begrüßt, da sie die Erfüllung einer langjährigen Forderung der Freiheitsbewegung darstellt. Von ihm kann ohnehin nur erwartet werden, ein bestimmtes gesellschaftliches Spektrum zu erreichen, nämlich das, welches ihm auch politisch nah steht. Gerade deswegen hat die Freiheitsbewegung angekündigt, weiterhin politischen Druck aufzubauen und den Prozess öffentlich zu thematisieren. Vier große Konferenzen in Ankara, Amed, Brüssel und Hewler sollen den Friedensprozess in die breite Zivilgesellschaft tragen und Allen, die sich ernsthaft in den Prozess einbringen wollen, eine Diskussionsplattform bieten. In Dersim, Colemêrg und Şirnex wurden erneut „Zelte für eine Demokratische Befreiung und Lösung“ von der Demokratischen Freien Frauenbewegung (DÖKH) errichtet; diese Aktionsform war schon im Jahr 2010 während des Oslo-Prozesses ausprobiert worden, doch jetzt gilt es die Diskussionen um die Beilegung des bewaffneten Konfliktes in die Gesellschaften der Türkei und die internationale Öffentlichkeit zu tragen. Im Zentrum der Demokratisierung der Türkei wird auch der Demokratische Kongress der Völker (HDK) stehen, ein Zusammenschluss linker und demokratischer Parteien sowie religiöser und ethnischer Gruppen, der zunehmend Türkei-weit Unterdrückte und ihre Kämpfe zusammenführen soll und wohl die einzige große, demokratische Oppositionspartei werden wird.
Diese Arbeiten sind auch entscheidend für die bevorstehende Änderung der Verfassung. Eine parlamentarische Kommission zur Ausarbeitung eines Änderungsvorschlages wurde bereits eingerichtet. Die Diskussionen um die Neugestaltung der Türkei dürfen allerdings nicht allein dem Parlament und den Parteien überlassen werden. Die bisherigen Schritte im Friedensprozess haben zwar historische Tragweite und sind von keinem/ keiner Beteiligten so leicht abzubrechen beziehungsweise rückgängig zu machen, doch wird die politische Auseinandersetzung mehr in die Gesellschaft getragen werden müssen, um ein breites Umdenken zu fördern, gespaltene und voneinander entfremdete Gesellschaften zusammenzuführen und so eine dauerhafte Lösung der Kurdischen Frage zu ermöglichen. Eine solche Partizipation wird von der Gesellschaft aktiv eingefordert, wie die Proteste nach der versuchten Zerstörung des Gezi-Parks in Istanbul deutlich gemacht haben.

Eine demokratisch-friedliche Lösung durch politische Auseinandersetzung

Eine in Aussicht stehende Beendigung des militärischen Kampfes darf nicht mit einer Lösung der kurdischen Frage verwechselt werden. Der Staat propagiert, dass eine Beilegung des bewaffneten Konflikts automatisch und sofort die kurdische Frage lösen würde, doch kann lediglich von einer anderen Art und Weise der Konfliktaustragung gesprochen werden; politische, soziale und ökonomische Ungleichheiten und Herrschaftsverhältnisse bleiben unangetastet weiter bestehen. Ganz zu schweigen davon, dass der Freiheitsbewegung nach wie vor die militärische Option zur Verfügung steht und auch in anderen Teilen Kurdistans – mensch führe sich nur die Entwicklungen in Westkurdistan oder die Ausgangssituation in Ortkurdistan vor Augen – in Erwägung gezogen werden muss.
In der Roadmap unterbreitet Abdullah Öcalan den Vorschlag, den Friedensprozess in drei Phasen einzuteilen: Die 1. Phase zeichnet sich durch eine dauerhafte Waffenruhe aus, in der alle beteiligten AkteurInnen Provokationen unterlassen und sich selbst sowie die Öffentlichkeit auf einen Friedensprozess vorbereiten. Das notwendige Vertrauen nach fast 30 Jahren bewaffneter Auseinandersetzung muss erst wieder hergestellt werden. Die 2. Phase sieht politische Reformen vor. Der gesetzliche Rahmen soll dafür geschaffen werden, den Konflikt beizulegen und die politische Lösung der kurdischen Frage einzuleiten. In dieser Phase verortete Öcalan den Rückzug der Guerilla sowie die Freilassung der politischen Gefangenen. Verschiedene Kommissionen sollen eine Amnestie ausarbeiten und zur gesellschaftlichen Versöhnung beitragen. Internationale BeobachterInnen sollen dieses Prozess kontrollieren. Die 3. Phase kann als Normalisierung bezeichnet werden: die Militanten der PKK werden in das zivile Leben, Flüchtlinge und ExilantInnen nach Kurdistan zurückkehren. Die kurdische Freiheitsbewegung soll legalisiert werden und ihre Arbeit für eine demokratische Türkei und ein freies Kurdistan fortsetzen. Es zeigt sich also, dass diese Vorschläge angenommen, nicht aber exakt übernommen wurden. An die genaue Einteilung wird sich zwar nicht gehalten, doch sind die meisten bisherigen praktischen Schritte im Friedensprozess auf Vorschläge aus der Roadmap zurückzuführen.14 Ihre Lektüre sei daher sehr empfohlen.
Der Freiheitskampf in Nordkurdistan wird sich im Laufe des Friedensprozesses auf eine politisch-ideologische Auseinandersetzung verlagern. Erste Anzeichen haben wir bei den anhaltenden Protesten im Zuge der Verteidigung des Gezi-Parks gesehen. An diesem Kristallisationspunkt sind erstmals verschiedene politische Lager aufeinander gestoßen, ohne dass die Regierung „separatistische Kräfte im Osten“ anführen konnte, gegen die es die nationale Einheit zu verteidigen gelte. Dieser Formel hatte sich auch das islamisch-nationalistische Lager, welches derzeit vor allem durch die AKP-Regierung verkörpert wird, immer wieder bedient. Dieses Lager genießt seit der Zeit des AKP-Modells die Unterstützung des Westens, allen voran der EU, der USA und der NATO. Es bilden sich allerdings Risse in diesem Lager, vor allem gegenüber dem Friedensprozess und dem Umgang mit den Taksim-Protesten: der Flügel des Fethullah Gülen zeigte sich gegenüber den Taksim-Protesten versöhnlich, gegenüber des Friedensprozesses jedoch ablehnend. Der Erdoğan-Flügel hingegen leitete den Friedensprozess ein, zeigte gegenüber den Protestierenden allerdings sein autoritäres Gesicht. Wie sich die Entwicklung innerhalb dieses Lagers auch gestalten wird, die kurdische Bewegung hat deutlich gemacht, dass sie weder mit einem der Flügel noch mit dem gesamten Lager einen Separatfrieden schließen wird, um die Lösung der kurdischen Frage auf Kosten anderer Unterdrückter zu lösen.
Das säkular-nationalistische Lager ist auch weit gespannt. Die ultranationalistische Strömung, welche im parlamentarischen System durch die Partei der nationalistischen Bewegung (MHP) repräsentiert wird und deren AnhängerInnen zurecht als FaschistInnen bezeichnet werden können, lief Sturm, als sich der Friedensprozess abzeichnete. Für sie gibt es nur die „tamilische Lösung“, so hat das MHP-Umfeld angekündigt, diesmal notfalls selbst „auf die Berge zu gehen“ – also bewaffnet Widerstand gegen eine demokratische Neuordnung der Türkei zu leisten. Die FaschistInnen werden vor Provokationen und Sabotageakten nicht zurückschrecken. Dabei agieren sie als tiefer Staat, getarnt als Sicherheitskräfte oder als SchlägerInnen auf den Straßen. Pogromartige Übergriffe und sogenannte „Morde unbekannter TäterInnen“ gegenüber ZivilistInnen wie kurdischen WanderarbeiterInnen oder AktivistInnen der legalen Parteien gehen genauso auf ihr Konto wie die Ermordung von Jugendlichen und Studierenden durch Polizeigewalt15. Die Pariser Morde vom 9. Januar an Leyla Şaylemez (Ronahî), Fidan Doğan (Rojbîn) und Sakine Cansiz (Sara), zu denen weitere versuchte Mordanschläge gegen FührungskaderInnen der PKK in Kandil gedacht werden müssen, können in diesem Zusammenhang gesehen werden. Eine gerechte Lösung der kurdischen Frage würde das faschistische Weltbild komplett zunichte machen. Das Ausbleiben einer Reaktion von Seiten der FaschistInnen auf die Taksim-Proteste ist daher sehr verwunderlich, kann aber dahingehen interpretiert werden, dass sie in einer demokratischen Türkei keinen gesellschaftlichen Platz mehr haben.
Auch die Strömung des säkular-nationalistischen Lagers, welche sich auf den Kemalismus beruft, steht vor einem perspektivischen Dilemma. Haben die kemalistischen Eliten ihre Machtbasis im Staat in den letzten elf Jahren bereits nach und nach an das islamisch-nationalistische Lager abtreten müssen, sehen sie durch eine demokratische Lösung der kurdischen Frage nun das Konstrukt des Türkentums als Fundament des Nationalstaates gefährdet. Während dieses Lager wie seine Republikanische Volkspartei (CHP) keine zukunftsfähige Antwort auf die kurdische Frage formulieren kann, äußert es sich zu den Taksim-Protesten mit national-chauvinistischen Parolen und fordert schlichtweg die Regierung der islamisch-nationalistischen AKP zu stürzen, um erneut eine säkular-nationalistische Regierung zu installieren. In die kemalistische Strömung setzen noch viele AlevitInnen ihre Hoffnungen, da sie glauben, ihr kollektives Recht auf freie Religionsausübung unter einer derart orientierten Regierung besser geschützt zu sehen, als unter einer sunnitisch ausgerichteten Regierung. Eine solche Haltung kann allerdings nur als Kuhhandel auf Kosten anderer (ethnischer, kultureller) Minderheiten – namentlich der kurdischen Bevölkerung – bezeichnet werden; der Vorwurf gegenüber der kurdischen Freiheitsbewegung, auf Kosten der AlevitInnen einen Separatfrieden mit der AKP zu schließen, ist somit blanker Zynismus.
Es zeichnet sich ab, dass wer nicht in der Lage ist, mit der Zeit zu gehen, von den gesellschaftlichen Entwicklungen wie von einem reißenden Fluss hinweg gespült wird. Wer versucht sich gegen die Zeit zu stemmen, den werden die Wassermassen brechen. Doch wer es versteht mit der Zeit zu gehen, der ist in der Lage, sein eigenes politisches Projekt – mag es so klein sein wie eine Nussschale oder so groß wie ein Ozeankreuzer – auf dem Strom der Zeit sicher zu manövrieren.

Der Aufbau einer demokratischen Türkei und eines freien Kurdistans

Statt sich selbst unter die Fittiche des Nationalismus – ob islamisch oder säkular – zu retten, könnten viele Unterdrückte – ArbeiterInnen, Frauen, Jugendliche, AlevitInnen – ihre Hoffnungen in eine derzeit aufkommende Linke setzen. Die Taksim-Proteste wurden vor allem von jungen Menschen getragen, die bisher keiner Partei oder Organisation angehören. Wenn es der türkischen Linken, die in den Anfangsjahren der Republik bereits bekämpft und mit dem Militärputsch von 1980 komplett zerschlagen wurde, gelingt, sich neu zu definieren und zu organisieren, lässt sie die demokratische Neugestaltung der Türkei genauso wenig aufhalten, wie die Taksim-Proteste. Die Gesellschaft der Türkei ist nicht länger bereit, den autoritären Machtmissbrauch der Regierung hinzunehmen, sondern fordert ihre demokratischen Mitbestimmungsrechte ein. Das hat sie in den ersten Juni-Wochen deutlich gemacht und ist durch ihre Proteste dem Verständnis der kurdischen Frage hoffentlich einen Schritt näher gekommen. Gemeinsam mit der kurdischen Bewegung und deren Vorstellungen könnten linke gesellschaftliche Kräfte wieder erstarken und die Demokratisierung der Türkei vorantreiben.
In diesem Sinne nahmen viele AkteurInnen der kurdischen Freiheitsbewegung Stellung zu den Taksim-Protesten, ob Abdullah Öcalan16, die KCK17, der DTK18, BDP-PolitikerInnen19 oder die YXK20. Sie halten an der Formel „demokratische Türkei = freies Kurdistan“ fest. Ohne ein sich befreiendes Kurdistan kann es keine Demokratisierung der Türkei geben; ohne eine sich demokratisierende Türkei kann es keine Befreiung Kurdistans geben. Beides geht Hand in Hand. Dazu ist ein gemeinsamer Diskurs sowie eine gemeinsame Praxis der fortschrittlichen gesellschaftlichen Kräfte vonnöten und genau dazu besteht heute die historische Möglichkeit. In der Roadmap definiert Abdullah Öcalan dies so: „Wir müssen das Jetzt als Chance für eine Lösung begreifen, dabei jedoch deren Bedingungen in den historischen Wahrheiten suchen.“21

Was tun? – Perspektiven der YXK

Für uns als kurdische Zivilgesellschaft und mit dem kurdischen Freiheitskampf Solidarische muss das bedeuten, dass wir nicht nur die Lösungsperspektiven aus den geschichtlichen Gegebenheiten ableiten, sondern auch, dass wir die Ereignisse der Vergangenheit, welche einen gerechten Frieden bisher verhindert haben, nicht vergessen lassen und stattdessen aufarbeiten. Dabei handelt es sich zum Einen um Ereignisse der neuesten Geschichte wie die Pariser Morde oder das Massaker von Roboskî22, für die immer noch niemand zur Rechenschaft gezogen wurde. Zum Anderen müssen allerdings auch die Ereignisse der Vergangenheit, welche schon länger zurück liegen, aufgearbeitet werden. Die Angehörigen von 17.000 Opfern sogenannter unbekannter TäterInnen warten nach wie vor auf die Aufklärung der Todesumstände ihrer Lieben. Massaker gegen ZivilistInnen (z.B. Pogrome gegen AlevitInnen)23 oder GuerillakämpferInnen wie Andrea Wolf (Ronahî), aber auch die Verfehlungen der Freiheitsbewegung oder Dritter, wie anderer kurdischer – Hisbollah, südkurdische Parteien – oder internationaler Kräfte – Beteiligung der BRD am Krieg – müssen aufgearbeitet werden, um eine Versöhnung und ein zukünftiges Zusammenleben zu ermöglichen.
Aus dieser Diskussion heraus müssen wir einen Diskurs über die Demokratisierung der Türkei und ihre Neugestaltung führen. Dazu werden wir als YXK einen entscheidenden Teil beitragen müssen. Konkret geplant sind bereits öffentliche Diskussionen durch Vorträge in verschiedene Städte zu tragen und unterschiedliche gesellschaftliche sowie politische Gruppen einzubeziehen. Im Spätsommer werden wir eine Konferenz demokratischer Jugendlicher mit Bezug zu Türkei und Kurdistan durchführen, in der wir die Neugestaltung der Türkei, die weitere Befreiung Kurdistans und den Beitrag der Linken in Europa dazu diskutieren wollen. Bis dahin wird die Petition der Kampagne „Freiheit für Abdullah Öcalan“ bis zum 1. September vorangetrieben werden müssen, um der Forderung nach Freilassung der politischen Gefangenen und einer demokratisch-friedlichen Lösung international Ausdruck zu verleihen. Am 23. November dieses Jahren wird in Berlin eine Großdemonstration unter dem Slogan „Friedensprozess unterstützen – PKK-Verbot aufheben“ für eine konsequente Unterstützung des Friedensprozesses stattfinden. Diese Wegmarken werden die YXK in den kommenden Monaten beschäftigen und ihr die Möglichkeit einräumen, einen Wichtigen Beitrag zum Friedensprozess zu leisten.
Wenn uns dies gelingt, können wir längerfristig endlich damit beginnen, unsere eigenen Projekte umzusetzen, die zwar schon lange als Ideen vorhanden sind, aber aufgrund des Krieges nicht umgesetzt werden konnten. Der Krieg in Kurdistan hat bisher das Denken der YXK und natürlich unsere Politik bestimmt, er war der dringlichste Grund warum sich die YXK 1991 gegründet hat, um in Europa ein Bewusstsein für die kurdische Frage zu schaffen. Wir haben meistens reagiert, anstatt selbst zu gestalten. Jetzt werden wir die Chance bekommen, uns von der Mentalität des Krieges freizumachen und die Demokratische Autonomie nach unseren Vorstellungen des Demokratischen Konföderalismus, frei vom Diktat des Krieges aufzubauen. Rolle der YXK wird sich zwangsläufig ändern müssen, wenn wir unsere Nussschale auf dem Strom der Geschichte sicher manövrieren wollen.
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Ergänzungen