Als der Krieg ins Dorf kam

Dietmar Buttler 17.07.2012 22:41 Themen: Indymedia Medien Militarismus Print
Nur ein Friedhof mit fünf Gräbern russischer Soldaten ist übrig geblieben vom einstigen Kriegsgefangenenlager aus dem Ersten Weltkrieg abseits des kleinen Ortes Kassebruch im Kreis Cuxhaven an der Weser. Seit einigen Monaten informiert eine Gedenktafel über die Kriegsgefangenen. Dass die kleine Begräbnisstätte und das Schicksal der Gefangenen überhaupt ins öffentliche Bewusstsein rückten, ist der Bürgerinitiative „Mit us tosamen“ (BI-MUT) zu verdanken.
Die Initiative wehrt sich seit August 2009 bisher erfolgreich gegen die geplante Errichtung einer Bauschuttdeponie in unmittelbarer Nähe des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers. Bis zu 32 Meter hoch soll sich der Bauschutt nach Plänen des Bauunternehmers Bodo Freimuth auftürmen. Ausdrücklich auch Asbestabfälle sollen hier gelagert werden. Im Zuge ihrer Recherchen stieß die Initiative laut BI-Mitglied Karla Mombeck auf den unter Denkmalschutz stehenden kleinen Friedhof. Karla Mombeck: "Die Nachforschungen gestalteten sich als sehr schwierig. Nur noch wenige, überwiegend ältere Menschen, wussten bis vor kurzem überhaupt noch von dem Lager."

Gemeinsam mit Schülern der Hermann-Allmers-Schule Hagen wurde das Projekt „Geschichts- und Erinnerungstafel“ ins Leben gerufen. Am 1. September 2011 wurde die Tafel eingeweiht. Vor allem bei den älteren Menschen sei die Resonanz laut Mombeck durchaus positiv . "Allein schon durch die Tatsache, dass sich gerade junge Menschen mit dem Thema beschäftigt und die Tafel erstellt haben. Die Schüler konnten wiederum erfahren: Der Erste Weltkrieg, der hat nicht irgendwo weit weg stattgefunden, sondern auch in unseren Gemeinden."

Zur Geschichte des Kriegsgefangenenlagers:

Als Zweigstelle des Stammlagers Soltau wurde ab Herbst 1914 am Rande des Grienenbergmoores bei Kasebruch - ein Kriegsgefangenenlager eingerichtet. Ein bereits 1913 für Strafgefangene genutztes Gebäude wurde u. a. durch vier Unterkunftsbaracken für je 250 Kriegsgefangene ergänzt. Ende Januar 1915 wurden etwa 1.000 russische, serbische, belgische und französische Kriegsgefangene nach Kassebruch verlegt. Sie wurden auf Bauernhöfen der umliegenden Ortschaften Driftsethe, Rechtenfleth, Sandstedt, Offenwarden, Uthlede, Hagen und Bramstedt als landwirtschaftliche Hilfskräfte eingesetzt und mussten im Offenwardener und Sandstedter Moor Kultivierungsarbeiten leisten. Vor allem aber gruben sie den sog. "Indiekkanal", einen zehn Meter breiten Wasserlauf, der sich vom Uthleder Berg bis zur Weser erstreckt und das Grienenbergsmoor sowie die umliegenden Feuchtniederungen bis heute entwässert. Den Sand zur Errichtung des etwa einen Meter hohen Deiches beiderseits des Kanals mussten die Gefangenen mit Loren vom Uthleder Berg holen. Alle Arbeiten wurden per Hand ausgeführt. Als es im sogenannten „Steckrübenwinter“ 1916/17 zu einer Krise der Nahrungsmittelversorgung kam, wurden auch die ohnehin schon viel zu knapp bemessenen Rationen für das Gefangenenlager Kassebruch gekürzt. Spärlich einsetzende Hilfsgüter des Internationalen Roten Kreuzes mussten von den Gefangenen mit von ihnen selbst gezogenen Ackerwagen am Bahnhof des Dorfes Stubben abgeholt werden. Mitte 1917 versuchten zehn Gefangene des Lagers einen Tunnel von ihrer Baracke aus unter den Stacheldrahtzaun hindurch zu graben. Der Ausbruch misslang. Aufgrund der schlechten Ernährung waren die Gefangenen anfällig für Krankheiten; vor allem die 1918/19 grasierende "Spanische Grippe" hat sicherlich Todesopfer gefordert. Die genaue Zahl der im Lager Kassebruch verstorbenen und an diesem Ort bestatteten Menschen lässt sich heute nicht mehr feststellen. Gesichert ist z. B., dass 1926 die sterblichen Überreste von elf belgischen Gefangenen exhumiert und in ihre Heimat überführt wurden. Nach der deutschen Kapitulation im November 1918 verließen Kriegsgefangene westlicher Herkunft bald das Lager. Die sog. Rückführung der russischen Kriegsgefangenen verzögerte sich durch die Unruhen in ihrer Heimat – Revolution und Bürgerkrieg in Russland - bis hinein in das Jahr 1921. Nach der Auflösung des Lagers wurden die Baracken abgebaut; übrig blieb das gemauerte Gebäude aus der Vorkriegszeit, das bis 1929 wieder als Außenstelle des Zuchthauses Lüneburg diente, bevor es zu einem Wohnhaus umgebaut wurde.

Der Erste Weltkrieg tobte von 1914 -1918 in Europa, dem Nahen Osten, Afrika und Ostasien. Durch eine vollständig industrialisierte Kriegführung und die daraus resultierenden Material- bzw. "Ausblutungsschlachten" kamen im mörderischem Stellungskrieg über neun Millionen Menschen ums Leben - darunter ca. 500.000 Zivilisten. Während des Krieges gerieten ca. acht Millionen Soldaten in Gefangenschaft. Grundlage für den Umgang mit Kriegsgefangenen sollte die Haager Landkriegsordnung von 1907 sein, nach der Gefangene mit Menschlichkeit und "in Beziehung auf Nahrung, Unterkunft und Kleidung auf demselben Fuße zu behandeln seien wie die Truppen der Regierung, die sie gefangen genommen hat". Vielfach waren die zuständigen Behörden jedoch schon allein mit der ungeheuren Anzahl an Kriegsgefangenen überfordert. Im ersten Kriegswinter 1914/15 kam es in mehreren Ländern zu einem Massensterben unter den Kriegsgefangenen. Allein in deutschen Lagern wurden 2,5 Millionen Menschen aus 13 verschiedenen Staaten festgehalten. Ihr Alltag war geprägt von Hunger und Krankheit und Tod.
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