Interview: Streik an der Uni São Paulo

Wladek Flakin (RIO) 29.11.2011 20:21 Themen: Bildung Repression Weltweit
Seit fast zwei Wochen streiken Tausende von Studierenden an der Universität von São Paulo gegen die Anwesenheit der Polizei. Ein Interview mit Diana Assunção, Vorsitzende der Gewerkschaft der Nicht-Akademischen ArbeiterInnen an der Universität von São Paulo (SINTUSP) und führendes Mitglied der Liga Estrategia Revolucionaria – Quarta Internacional (LER-QI), Schwesterorganisation von RIO in der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale (FT-CI).
- Seit dem 8. November streiken Tausende Studierende an der Universität von São Paulo. Was ist der Hintergrund davon?

Monate davor hatte der Rektor der USP, João Grandino Rodas, nach einem Raubmord auf dem Universitätsgelände einen Vertrag mit der Militärpolizei unterschrieben. Er nutzte die „Sicherheit der Universitätsgemeinschaft“ als Vorwand, um noch schärfere Maßnahmen durchzusetzen, als die ganzen Missbrauchsfälle, die schon lange vor dieser tragischen Situation von Seite der Polizei kamen.

Die kämpferischen Studierenden sowie die Gewerkschaft SINTUSP haben klargestellt, dass die Polizei nicht da war, um die Sicherheit von irgendjemandem zu garantieren, sondern um Proteste zu verhindern und dem Rektor bei seinen Privatisierungsprojekten in der größten öffentlichen Universität Brasiliens zu helfen.

Nach immer mehr Fällen von Polizeigewalt auf der Uni wuchs eine Revolte der Studierenden, bis Beamte schließlich drei Studierende festnehmen wollten, die angeblich Marihuana geraucht hatten. Hunderte andere verhinderten die Festnahme und daraufhin gab es eine fürchterliche Repression. Diese Repression zählte mit der Hilfe der Direktorin der geisteswissenschaftlichen Fakultät, weshalb es zwei Besetzungen gab, die erste von der Fakultätsverwaltung und die zweite vom Rektorat.

- Wie reagierte die Gegenseite?

Bis zu diesem Moment war es eine Bewegung von einigen Hunderten. Der Rektor Grandino und der Gouverneur Alckmin wetteten, dass sie mit der Festnahme von 73 die Bewegung stoppen würden. Aber sie irrten sich! Als Antwort auf den krassen Militäreinsatz bei der Räumung des Referats – mit über 400 Elitesoldaten, zwei Hubschraubern und der Kavallerie – begann der Streik. Sie dachten, dass wir Hunderte waren. Jetzt sind wir Tausende, die für die Freilassung von allen Festgenommen und den Rückzug der Polizei aus der Universität kämpfen.

- Hat man sonstwo in Brasilien schon mal die Losung “Polizei raus aus der Uni!” gehört?

Das ist eine neue Forderung, denn die Anwesenheit der Polizei auf den Universitäten ist auch etwas Neues. Seit dem Ende der Diktatur bis vor sehr Kurzem gab es keine Polizei auf dem Gelände, das war eine Errungenschaft der Studierenden im Kampf gegen die Diktatur. Die Bundesverfassung garantiert ihnen zwar die Autonomie, – diese Vorschrift wird aber von Rektoren ebenso wie von Provinz- und Bundesregierungen (auch von Lula und Dilma) mit Füßen getreten, um ihre Pläne von Privatisierung und Prekarisierung der Arbeit in den Universitäten durchzusetzen. Sie mussten also militarisieren, um Stimmen des Protestes zum Schweigen zu bringen.

- Wie organisieren sich die Studierenden für ihren Kampf?

Wir organisieren uns in Generalversammlungen als höchstens Organ der kämpfenden Studierenden, und wir haben auch ein "Kommando" (Komitee, AdÜ.) aus Delegierten, die von Versammlungen der Fakultäten gewählt werden, gebildet. Mit diesem Organ können wir die Demokratie von allen garantieren, die sich jeden Tag treffen, nachdenken, den Streik durchsetzen, die Demonstrationen für die Gefangenen organisieren, die Lehrveranstaltungen auf offener Straße anbieten und andere Initiativen des Streiks umsetzen.

- Brasilien will sich für das Jahr 2014 fit machen, wenn das Land die nächste Fußballweltmeisterschaft ausrichtet. Welches Verhältnis hat das mit der Militarisierung von einigen "Favelas" oder Armenviertel?

Wir, als Teil einer Elite-Universität in einem armen Land, verstehen die Militarisierung nicht als etwas, das nur uns betrifft. Die Repression gegen Studierende und solidarische ArbeiterInnen der SINTUSP dient der Militarisierung des ganzen Landes, die verschiedene Regierungen vorantreiben, vor allem die Dilma-Regierung und ihre lokalen Verbündeten. Die Militarisierung der Universität und der Favelas – in beiden Fällen mit der “Sicherheit” als Vorwand – tritt die Grundrechte mit Füßen und macht eine stärkere Kontrolle der ArbeiterInnen und Jugend möglich. Das passiert in einem Land, das stark von Armut und Ungleichheit geprägt ist, das sich aber wie eine Großmacht bei der Weltmeisterschaft und den Olympischen Spielen zeigen will.

- Wie kann der Kampf gewonnen werden?

Um den Kampf zu gewinnen, müssen wir das Neue an diesem Kampf weiterentwickeln, nämlich die Selbstorganisierung vorantreiben und die Infragestellung der Polizei vertiefen, nicht nur in der Universität sondern auch in den Favelas. Wir müssen uns als eine Tribune sehen für diejenigen, die außerhalb der Universität sind, und als Teil eines Kampfes, der weder lokaler noch nationaler sondern internationaler Natur ist. Die Militarisierung, Prekarisierung und Privatisierung der Universität, die in Brasilien durchgesetzt wird, sehen wir auch in anderen Ländern Lateinamerikas oder Europas. Dagegen müssen wir uns international wehren. Deswegen hat auch unsere Gewerkschaft auch eine Solidaritätsbotschaft an die Streikenden bei der Charité Facility Management in Berlin geschickt.

Interview: Wladek Flakin, Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO),  http://www.klassegegenklasse.org

Eine kürzere Version dieses Interviews erschien in der Tageszeitung junge Welt am 19. November 2011,  http://www.jungewelt.de/2011/11-19/028.php

Solidaritätsbotschaft der SINTUSP für den Streik an der Charité Facility Management (CFM) in Berlin:  http://www.klassegegenklasse.org/von-brasilien-nach-berlin/

Liga Estrategia Revolucionaria – Quarta Internacional (LER-QI), brasilianische Sektion der FT-CI,  http://www.ler-qi.org
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PCC kein Grund ???

R.o.l.a.n.d. B.i.a.l.k.e. 30.11.2011 - 17:32
Wladek,

ein wichtiger Artikel. Jedoch vergisst Du ein paar Sachen und beschönst bzw. verfälschst damit ein paar Gegebenheiten. Ich ergänze aber gerne und hoffe, dass ich ebenso ergänzt werde.

Militarisierung der Favelas (Ghettos)

Die Militarisierung in den Favelas ging nicht von der Polizei oder dem Militär aus, sondern von politischen Gruppen, die sich mit Hilfe militärischer Mittel einen Wirtschafts- und Terretorialapparat aufgebaut haben. Heute sind die Auseinandersetzungen allerdings wechselseitig. D.h. sehr vereinfacht: Der brasilianische Staat will nicht zulassen, dass er Staatsgebiet verliert, und im Gegenzug wollen die neuen militärischen Machthaber ihr Terretorium und Einflussbereich erweitern.

Das alles darf sich aber nicht so vereinfacht vorgestellt werden! Der brasilianische Staat zahlt Polizisten viel zu geringe oder manchmal gar keine Löhne. Bei anderen Berufsgruppen sieht das ähnlich aus. Auch dadurch ensteht eine gewaltige Korruption. (Fast) Jeder und jede mit etwas Macht, nutzt diese aus, um sich zu bereichern. D.h. das brasilianische Staatsgebilde ist nicht nur an bestimmten lokalen Punkten komplett aufgelöst, sondern im Ganzen von direkten Profitinteressen unterwandert.

So haben die politischen Gruppen in den Favelas Teile des Polizei- und Militärapparats bestochen bzw. gekauft, sodass die Militärpolizei spezielle Sondereinheiten aufstellen musste, die autonom ermitteln und agieren und in einer zentralen Behörde (BOPE) gebündelt sind.

Mitte der 1990er Jahre gab es eine Mordquote von 0,005 Prozent in Sao Paulo. Wenn Wir Uns hier mal eine grosse Schule mit 1000 Schülern und Schülerinnen vorstellen, dann heisst das, das alle 2 Jahre eine Person aus den 1000 ermordet wird. Daneben sind andere "Bandendelikte" wie Raub und "schwere Körperverletzung" an der Tagesordnung. Pro Jahr war das soviel, dass - Wir bleiben bei dem Schulbeispiel - einmal pro Jahr jemand aus Deiner Klasse oder Deiner Nebenklasse Betroffene(r) von Mord, Raub oder "schwerer Körperverletzung". wurde. Wenn nur jedem oder jeder das einmal während der Schullaufbahn geschehen ist, heisst das, dass ca. jede(r) fünfte in der Schullaufbahn ermordet, beraubt oder "schwer verletzt" wurde. Soviel zu den Verhältnissen und der Betroffenheit der Bevölkerung in Sao Paulo in der Mitte der 1990er Jahre.

In den Favelas selbst laufen die Anhänger der politischen Gruppen, in den Medien werden sie meistens "kriminelle Banden" genannt, mit Maschinengewehren und Granatwerfern rum. Das ist kein Scherz! Sie greifen mit diesen Polizeistationen an und wenn irgendwelche Jorunalisten oder Jorunalistinnen über sie berichten wollen, dann werden diese meist ermordet. In den Favelas selbst gibt es keine polizeiliche Infrastruktur.

Was sind Favelas?

Das sind Orte mit zwischen mehreren tausend bis schätzungsweise 500.000 Einwohnern und Einwohnerinnen. Diese Orte haben keine oder nur wenig Infrastruktur - d.h. keinen Strom, kein fliessend Wasser, keine Feuerwehr, keine Krankenhäuser, keine Schulen, keine Polizei, keine Läden im herkömmlichen Sinn. Diese Orte haben oft verfallende Häuser, die aus Armut besetzt wurden, aber wenig instand gehalten werden. Meist am Rand von grossen Städten gelegen entwickelten sich hier Ballungsräume von armen Menschen, die meist auch noch von der eigentlichen Stadt durch Schnellstrassen abgeschnitten sind. D.h. die dort lebenden Menschen sind nicht nur finanziell von der übrigen Gesellschaft abgegrenzt, sondern auch durch das Terretorium. Die "Mittel- und Oberschicht" kann also einfach die Schnellstrassen benutzen und an der Unterschicht vorbeifahren.

Die politischen Gruppen in den Favelas versuchen 1. ihren Machtbereich zu stärken, dass heisst die eigene UND einzige Gewalt in den Favelas darzustellen und ihren Machtbereich auszuweiten. So werden die Schnellstrassen beispielsweise blockiert, um zu erzwingen, dass sich die "Mittelschicht" aus der eigentlichen Großstadt durch die Favelas bewegen muss. Auch wird versucht über die Universitäten, wo sich politisches Leben regt, Bündnisse einzurichten, meist über Drogen oder mit Hilfe von Sexdiensten, um sich auch in den Innenstädten - wo es das Geld gibt - zu etablieren.

Eine anderes Verfahren dieser Gruppen ist es, in der Innenstadt Unruhen anzuzetteln. Ähnliches ist auch in London dieses Jahr geschehen. (Dazu ein anderes Mal einen ausführlichen Artikel.) Diese Unruhen sind aber nur ein Tarnmanöver um Profitinteressen durchzusetzen. Beispielsweise gibt es Ausschreitungen und Brandstiftungen, die Polizei ist hierbei relativ machtlos, und währenddessen werden in den Gebietvon organisierten Kräften Juwelierläden und Banken aufebrochen.

Das PCC - ein Beispiel für politische Gruppen in den Favelas

Das PCC (Primeiro Comando da Capital / Erste Kommando der Hauptstadt) ist eine aus anarchistischen Ideen 1993 in einem brasilianischen Gefängnis enstandene politische Organisation. Schon kurz nach der Gründung als Gefängnis-Fussballmanschaft (vgl Gefangenenbewegungen in Süd-Afrika) wurde das PCC stark hierarchisch, mit festen politischen Regeln, und begann sich über die Gefängnismauern hinweg in Sao Paulo zu etablieren. Mitglieder bekommen eine kostenlose ärztliche Versorgung, Schutz, werden am Profiten der Organisation beteiligt, müssen im Gegenzug aber bestimmte Dienste (Drogenhandel, Auftragsmorde, Raub, Einbrüche, Kriegsdienste) leisten.

Das PCC ist hauptsächlich in Sao Paulo aktiv und kontrolliert dort die meisten Favelas. Es wird geschätzt, dass das PCC zur Zeit etwa 150.000 Mitglieder hat. Ähnliche Strukturen gibt es auch in anderen brasilianischen Großstädten, so z.B. auch in Rio de Janeiro die Organisation "Rotes Kommando", die kommunistische Wurzeln hat und auf eine über 40-jährige Geschichte zurückschauen kann.


Wladek, wenn Du von Streik schreibst, warum fragst Du Deine Interviewparterin nicht, wie siesich zum PCC verhält und ob das PCC ein Grund für die Militärpolizei ist? Ich sage Dir voraus, dass Deine Interviewpartnerin nicht dazu bereit ist sich (öffentlich) zu dem Thema zu äussern, auch wenn das PCC Themenrelevant ist. Wer möchte schon mit einer Motorsäge den Kopf abgesägt bekommen? Von daher wäre sie nicht weniger korrupt...