Libyen - Am Abgrund

21.2.2.2011 23.02.2011 08:45 Themen: Repression Soziale Kämpfe Weltweit
Der italienische Historiker Angelo del Boca, 85, hat gestern für die Zeitung Il Manifesto einen Kommentar zur Lage in Lybien und zur Person Ghaddafi verfasst. Del Boca kämpfte in seiner Jugend gegen die Faschisten und die Nazionalsozialisten in Italien. Später widmete er sich der Geschichte des Kolonialismus. Er leistete bahnbrechende Arbeit bei der Aufdeckung der Gräuel des italienischen Kolonialismus in Afrika und ist bis heute ein profunder Kenner Libyens. Seine Gedanken schrieb er vor dem gestrigen Auftritt Ghaddafis nieder.
Libyen - Am Abgrund

von Angelo Del Boca

22. 2. 2011


Die eintreffenden Nachrichten sind Nachrichten eines regelrechten Krieges gegen Zivilisten im Aufstand, also eines Massakers. Das, was Ghaddafi immer versprochen hatte, nämlich, dass er nie die Waffen gegen sein Volk gerichtet hätte: auch das ist ein gebrochenes Versprechen. Es ist Zeit, dass er geht, es ist Zeit, dass hinter dem Blutbad ein Schimmer einer Mediationslösung sichtbar wird die, wie in Ägypten und Tunesien nicht anders beginnen kann, als mit dem Verlassen der Bühne Ghaddafis, der seit 41 Jahren die absolute Macht inne hatte. Es ist Zeit, dass der Westen im neuen Demokratisierungsprozess, den die Massenrevolten im mittleren Osten angestoßen haben nicht die Gefahr des islamischen Integralismus entdeckt, sondern eine Ressource, um jene Welt und unsere abgeriegelten Gesellschaften auf andere Weise zu denken.

Wer jenes Volk und jenes Land geliebt hat, kann jetzt, wo auch die Uno endlich ihre Stimme erhebt, nicht schweigen, wie es die italienische Regierung , die sich hinter Erklärungen auf dem letzten Drücker der EU versteckt und eine Europäische Union tut, die mehr an ihre Geschäfte denkt als an die Gesellschaften und an jene Völker. Also müssen wir die Wahrheit sagen, um das Blut, das in Tripoli, Benghazi und ganz Libyen fließt, zu stoppen. Und wir müssen, vor Allem, das tun, was wir mit dem Italien-Libyen Abkommen von 2003 nicht getan haben. Wir wussten genau, dass Ghaddafi ein Diktator war, und dass es in Libyen keine Achtung der Menschenrechte gibt. Als wir als Italien jenes Abkommen unterzeichneten, haben wir lediglich die Ratifizierung eines wirtschaftlichen, handelsorientierten Abkommens gewollt, das in der Lage ist, die Verzweiflung der afrikanischen Immigration in neue Konzentrationslager festzusetzen, nicht aber eines politischen Abkommens. Wir haben einen extrem schweren Fehler begangen. Einen Fehler, den wir bis Heute mit uns tragen, weil unsere Verantwortlichen an der Regierung nicht den Mut haben, sich der Situation zu stellen, zu sagen: Jetzt reicht es! und in klaren Lettern zu fordern: "Du hast dieses Land 41 Jahre lang geführt, und dein Bestes getan. Lass' jetzt Andere ran". So sollte die konkrete Forderung lauten. Die Ereignisse, die sich während wir schreiben aber aufeinander türmen sagen uns, dass sich der Abgrund bereits aufgetan hat. Weil Ghaddafi auf eine Gewisse weise gerade dabei ist, für zwei grundlegende Fehler in seiner Politik zu bezhalen. Er hat vergessen, dass ein entscheidender Teil Libyens - die Cyrenaika - immer noch vom Mythos der Senussia und Omar Al Mukhtars - den edie Italiener erhängten. Und die Demonstranten bejubeln Al Mukhtar. Noch schwerer wiegt, dass Ghaddafi seit jeher die Bedeutung der Gebel-Stämme, der Stämme der 50 km von Tripolis liegenden Berge herunter gespielt hat. Die Orfella, die Zintan und die Roseban, diese große Stämme aus den Bergen, die die selben sind, die 1911 die Italiener in Schwierigkeiten gebracht haben. Ghaddafi hat die Bedeutung dieser zahlenstarken Komponenten - die Orfella zählen 90000 Leute - im Befreiungskampf und beim Wiederaufbau des neuen Libyens stets herunter gespielt. So schwelte über Jahrzehnte ein dumpfes Ressentiment, das sie nun mit der Revolte verbündet, wenn nicht gar an die Spitze der Revoltierer stellt, die in diesen Stunden Richtung Tripolis marschieren. Es ist kurzum die ganze Geschichte Libyens, die sich "wiederaufwickelt" und dem Regime des Oberst Paroli bietet.

Wenn wir nur wenige Monate zurück denken, als Berlusconi und Ghaddafi in einer römischen Kaserne der Carabinieri einem Serail mit Turnieren und Rittern beiwohnten, kommt die objektive Frage auf: wie hat er es geschafft, nicht zu merken, dass sich die gesamte Welt, die er aufgebaut hat in einer dramatischen Krise befand? Er, der bestrebt war, sich als Führer des gesamten afrikanischen Kontinenen darzustellen, hatte nicht einmal ein Gefühl für die Grenzen seiner Regierung und der Tragödie die sich in seiner Heimat ereignete.

Dabei ist Ghaddafi nicht nur eine Strohpuppe gewesen, wie Ben Ali und Hosni Mubarak. Als er Protagonist des Staatsstreiches 1969 war, hatte er ein clanhaftes Land vor sich, das voller kleiner Organisationen war. Er hat dazu beigetragen, daraus eine Nation zu machen. Innerhalb eines Jahres hat er die britischen und amerikanischen Militäristützpunkte verjagt und die 20000 Italiener, die noch ein Überbleibsel des Kolonialismus bildeten ausgewiesen. Er hat kurzum versucht, aus Libyen eine Nation zu machen. Und als Nation ist Libyen über viele Jahre auch betrachtet worden. Es war bloß eine Anmaßung, jetzt wissen wir es. Es war eine Anmaßung, jenes Projekt, das wirklich dem ganzen Volk eigen sein sollte - und nicht nur den vom Regime gewollten "Volksversammlungen"- auf einen einzigen Mann zu reduzieren. Hier ist er gescheitert. Als er sich als alleiniger Urheber des Sturzes des Kolonialismus und der Gegnerschaft gegen den Imperialismus präsentierte und die libyschan Institutionen, die Geschichte des Landes und die allgemeinen Bestrebungen auf eine Person reduzierte. Als er nach Italien kam, trug er das Bild des anti-italienischen Kämpfers Omar Al Mukhtar auf der Uniform. Es war aber lediglich eine subjektive Provokation, nach dem Motto: "Ich vergesse nicht". Die Tatsache aber, dass er die Bedeutung aller Stämme in den Bergen unterschätzt hat, also der politischen Gesellschaft, die die Geburt Libyens hervor gebracht hat, ist der schwerste Fehler von Allen gewesen, weil diese die grundlegenden Komponenten gewesen waren, die den Widerstandskampf geführt hatten, die Befreiung herbei führten und anschließend dem Land zu Wachstum verhalfen.

Die jetzige Lage ist leider jenseits von all dem. Ich denke mit Schmerz daran, dass jedweder Aufruf mittlerweile zu spät kommt. Die Tatsache selbst, dass die Stämme gen Tripolis hinab steigen, um sie zu befreien, gibt mir das Maß des Zusteuerns auf den Abgrund. Die Ältestengruppe, die der Weisen, hat gesagt, dass man Ghaddafi stürzen muss. Genauer gesagt, mit diesen Worten: "Wir forder zum Kampf gegen den, der es nicht versteht, zu regieren auf", haben die Ältesten der Orfella erklärt, während die Nachbarhäupter der Zentan "die Jungen" aufforderten, "zu kämpfen und die Militärs zu desrtieren und Ghaddafi in die Hölle zu beförder". Das ist die Neuigkeit in der libyschen Krise. Die historische Revolte der Generation der Älteren, der Veteranen. Etwas, das auch aus Kairo bestätigt wird, wo der libysche Vertreter in der arabischen Liga Abdel Moneim Al-Honi zurück getreten ist, um sich den Revolteuren anzuschließen. Es handelt sich um eine überaus bedeutende Nachricht, weil er einer der berühmten "11 Offiziere" ist, die mit Ghaddafi an der Revolte 69 beteiligt waren. Und auch mit der Generation der Jungen und sehr jungen. Jene sehr Jungen, die sich bei einer Arbeitslosigkeitsquote von 30% aus Gründen der sozialen Verzweiflung beteiligt haben. Eine Zahl, die das Märchen der guten Umverteilung der Energieressourcen bloß stellt. Und das Gerede eines "Volksorientierten Sozialismus", das auf dem Papier des grünen Buches des Oberst blieb. Als ich ihn 1986 bei einem Interview traf, gab er zu, dass das "Grüne Buch" gescheitert war und dass Libyen immer noch "schwarz", nicht aber grün sei. Nun ist Libyen auch Rot, durch das Blut seines Volkes, das er vergossen hat. Zum letzten Mal.

 http://www.ilmanifesto.it/archivi/commento/anno/2011/mese/02/articolo/4199/


Nachbemerkung: Es handelt sich bei dem Artikel um einen Kommentar, Del Bocas Sach- und Faktenwissen kommt im Sinne einer Analyse deshalb weniger zum Zuge. Vielmehr spricht ein jahrzehntelanger Begleiter, der Libyen und seine Bewohner aufrichtig geliebt hat. Es gibt für italienischsprechende, die mehr zu sozialen und politischen Aspekten des aktuellen Geschehens wissen wollen jedoch die Möglichkeit, ein interessantes Interview mit der Redaktion des linken Nachrichtenportals infoaut zu hören:

 http://www.infoaut.org/blog/prima-pagina/item/549-libia-nel-precipizio

player am ende des artikels

Ein kürzeres Interview mit Del Boca bringt heute auch die Junge Welt:

 http://www.jungewelt.de/2011/02-23/047.php
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Ergänzungen

fotostream vom wochenede

smash all cleptocrats down! 23.02.2011 - 08:59

NATO

steht bereit 23.02.2011 - 13:30

Swatshopeigner haben auch Probleme

... 23.02.2011 - 14:50
Die europäischen Sweatshop-Betreiber bekommen auch zunehmend Probleme mit den Aufständischen, ein paar tausend sind in einem Camp eingeschlossen und hoffen darauf, daß sie von UK gerettet werden.

livestream

aus benghazi 23.02.2011 - 18:34

@juri

blubb 24.02.2011 - 13:46
Im angesichts der amerikanischen , europäischen und v.a. itaslienischen Reaktionen davon yu sprechen dass der Aufstand im westlichem Interesse geschehe und dementspr. gesteuert sei ist reichlich ignorant. Lybien unter Gadafi ist Deutschlands wichtigster Öllieferant, und was die Abwehr von Migranten anbelangt der der die Drecksarbeit für die Festung Europa zuverlässig erledigt, womit Europa sein scheinbar humanistisches Gesicht im eigenem Handeln waren kann. Es bleibt genau zu beobachten, inwieweit Frontex seine Menschenjagd jetzt ausweitet, um das entstandene machtvakuum auszugleichen.
Die Sitauation in Nordafrika verdeutlicht was bisher nötig war, damit die welt so existiert und funktioniert wie sie ist, und jetzt, wo sich immer mehr Leute in Nordafrika immer weniger Sachen bieten lassen, müsste auch für den letzten Depp deutlich werden, dass die Welt, wenn die westlichen Länder die selbstproklamierte Universalität von "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" ernstnehmen würden nicht mehr so existieren kann wie bis her.
Insofern sind die appokalyptischen Visionen von Berlusconi, Westerwelle und Co als Verteter des Status Quo durch aus zu verstehen.

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@ juni — ich

Zurückhaltung ist angebracht — Forza St Pauli

@ Juri — Igor

"Gaddafi Superstar"3 — IronMike3

"Gaddafi Superstar"9 — IronMike9

uzj6uz6j — 89püäopö