Bolivien: Rücktritt - was kommt jetzt?

Karl Licht (Übersetzer) 18.10.2003 17:20 Themen: Globalisierung Soziale Kämpfe Weltweit
Goni tritt zurück und sein Nachfolger Carlos Mesa will den Weg für Neuwahlen ebnen und Schritte für eine Volksabstimmung einleiten, die über die Erdgasexporte entscheiden soll. Wie war die Stimmung kurz vor der entscheidenden Parlamentssitzung und was will die Linke in Bolivien?
Artikel ist (wie gestern) eine Zweitübersetzung von Econoticiasbolivia.
La Paz, 17. Oktober 2003, 16:30 Ortszeit. Gefangene der revoltierenden Massen, sprich die leader der neoliberalen politischen Parteien, welche bis gestern die Kontrolle im bolivianischen Parlament innehatten, versuchten nun wiederzugewinnen, was sie auf den Straßen verloren hatten, indem sie für Gonzalo Sanchez de Lozada einen verfassungsgemäßen Ausweg vorbereiten, um ihm die Formalisierung zu erlauben, von der Präsidentschaft zurückzutreten, das Land zu verlassen und die Macht an Vizepräsident Carlos Mesa abzugeben. Gonis Rücktritt ist jetzt schon Tatsache.

Die Verhandlungen sind abgeschlossen und harren ihrer Umsetzung. Abgeordnete und Senatoren kommen bereits im Parlament an, welches zu zwei Dritteln aus Repräsentanten neoliberaler Parteien besteht, um der letzten Botschaft Sanchez de Lozadas als Präsident zu lauschen. An der Präsidentschaftsresidenz spekulieren Journalisten bereits über die nahe bevorstehende Ankunft eines Hubschraubers, um Sanchez de Lozada zum Internationalen Flughafen von El Alto zu bringen.

Am Ortseingang zu El Alto, ein paar Kilometer vom Flughafen weg gelegen, gibt es einige Störungen. Tränengaskartuschen und Steine fliegen auf Militärpolizei und Anwohner, welche vom COR mobilisiert wurden. „Wir müssen wachsam sein, um die Flucht des Gringos (Sanchez de Lozada) zu stoppen", sagt ihr leader Roberto de La Cruz. „Es braucht nur ein Haar eines Gringos, um Neoliberalismus zu schlagen, das Empire zu besiegen. Der Triumph gehört den Armen, den Arbeitern und Bauern" erklärt de La Cruz weiter, angefeuert von einer Menge an seiner Seite.

Städtische Straßen und Überlandwege werden von den revoltierenden Massen von Bergarbeitern, Bauern, Studenten und Nachbarn aus den Armenvierteln beherrscht. Es ist die wirkliche Macht, die über die formale Macht triumpierte. Es ist der Stein und der Holzstock, welche den Panzer und das Maschinengewehr besiegen. Allerdings gibt es Zweifel und Diskussion zwischen den leadern, ob man Carlos Mesa, wenigstens für eine Übergangszeit, akzeptieren sollte oder nicht.

Im Parlament wollen einige Abgeordnete mit dem Massaker nichts zu tun haben. Von dieser Distanzierung erhoffen sie sich Optionen und etwas Autorität, die es ihnen erlaubte, Carlos Mesa als neuen Präsidenten einzusetzen, und verhinderte, daß COB und die Multitude der Tausenden nicht auch auf sie ihre Wut richteten und zerstörten. „Wir werden dem Volk zuhören, so wie wir es immer getan haben", sagte es mit Zynismus der Abgeordnete Jaime Paz Pereira. Sein Vater, der Ex-Präsident Jaime Zamora - leader der MIR (Bewegung Revolutionäre Linke), der Sanchez de Lozada in den frühen Nachmittagsstunden verließ (also dessen Regierung, Anm.d.Ü.) ist sich im Klaren: „Ich richte einen Appell an die Bevölkerung, daß sie sich um den Kongreß kümmert, als wenn er ein Baby wäre, als wenn er neu geboren wäre", sagt er zu den Medien, welche er dazu aufruft, die Demokratie zu bewahren. „Wir müssen in der Demokratie vereinigen", unterstreicht er, die Bedeutung einer Präsidentschaftsnachfolge innerhalb des konstitutionellen Rahmens heraushebend, damit „dem internationalen Vertrauen", den ausländischen Investitionen, der Zusammenarbeit mit dem Ausland und den Auslandskrediten an Bolivien nicht geschadet wird. Dieselbe Sprache, dasselbe Regierungsprogramm von Sanchez de Lozada, nur diesesmal ohne ihn.

Draußen auf den Straßen El Altos warnt Roberto de La Cruz die Anwohner und ruft sie dazu auf sich zu vergewissern, daß Sanchez de Lozada und sein Verteidigungsminister, Carlos Sanchez Berzain, „nicht flüchten". „Ebenso werden wir Jaime Paz Zamora und Manfred Reyes Villa (leader der, bis heute, mitregierenden NFR) nicht vergeben. Sie müssen ins Gefängnis", sagt er.

TV- und Radiostationen, inklusive der populären Medien, rufen die Bevölkerung zur Ruhe auf, um dem Kongreß zu erlauben, die konstitutionelle Nachfolge zu beschließen. Sie sagen, daß „Sanchez de Lozada gerade zurücktritt".

Auf dem San-Francisco-Platz, vier Häuserblocks vom Kongreß, werden tausende Bergarbeiter, Dynamit in den Händen, von der Menge umjubelt. Es ist 16:30 Uhr nachmittags und der Vorschlag, Carlos Mesa als neuen Präsidenten von Bolivien zu vereidigen (anzugeloben), setzt sich unter den leadern der COB durch. Man erhofft sich von ihm, daß er die Forderungen nach Suspendierung des Erdgasexports in die Vereinigten Staaten und die Renationalisierung der Erdgas- und Ölindustrie, zusammen mit anderen Forderungen nach Einschränkung des Neoliberalismus und des freien Marktes in die Wege leitet.

„Wir werden mit dem neuen Präsidenten verhandeln und falls er unsere Forderungen nicht beschließt, werden wir zu einer Volksversammlung mit Repräsentanten jeder sozialen, Arbeiter- und populären Organisation des Landes aufrufen, um das Erdgas nach unserer Art und Weise wiederzuerlangen und die anderen Forderungen zu befriedigen", sagt einer der höchsten leader des COB zu Econoticiasbolivia, kurz vor Einleitung einer breiten Zusammenkunft, um die endgültigen Positionen der Arbeiter zu bestimmen.
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Ergänzungen

persoenliche eindruecke

gringita 18.10.2003 - 21:57
die abdankung des praesidenten wurde heute nacht auf den strassen von cochabamba, und in vielen anderen staedten sicher auch, gefeiert, natuerlich mit der nationalfahne und -hymne.
der heute tag unterscheidet sich ausserlich kaum von den vor der krise. auf den strassen qualmen nur die letzten feuerchen und die blockaden sind noch zu sehen, doch passierbar. die diskussionsgruppen auf der plaza sind recht klein geworden und die meisten leute wenden sich wieder ihrer alltaeglichen arbeit zu. der praesident ist weg, jetzt wird alles gut? die meisten leute scheinen einfach nur beruhigt, das nun das leben wieder seinen gewohnten gang geht, politik interesiert die meisten eh nicht bzw. ist nicht verstaendlich. es war mehr nur das feindbild der boesen chilenen, die den zugang zum meer geklaut haben, als die internationalen machenschaften der multis, die die massen auf die strasse getrieben haben.
ich habe angst, dass nun alles wieder seinen gewohnten gang geht, auch wenn der neue praesident was anderes verspricht. ein kurzes gewaltiges aufbegehren der bevoelkerung, doch so schnell es kam verlischt es auch wieder. es waren ja nicht die ersten unruhen, die menschenleben gekostet haben, hier und ich denke es waren auch nicht die letzten. macht macht jeden menschen korrupt.
auf das alles besser wird

update

weist 18.10.2003 - 22:19
bei seinem ersten auftritt in el alto sagte mesa heute, die verantwortlichen der unruhen würden zur rechenschaft gezogen. ob er damit die führer der sozialen bewegungen meint oder die polizei- und militärkommandanten, ging aus der ansprache nicht hervor. also abwarten. außer solidarität ist für die meisten hier eh nix zu machen.

historische analyse zu bolivien in der FR

ergänza 19.10.2003 - 14:08
Wichtig ist, ein Dach über dem Kopf
Bolivien auf dem Weg in die Liga der Krisenstaaten: Die ethnische Ebene der sozialen Konflikte ist eng verbunden mit der Wirtschaftsentwicklung des Landes. Soziale Unruhe prägt Bolivien nach Jahren relativer Stabilität
 http://www.fr-aktuell.de/ressorts/nachrichten_und_politik/dokumentation/?cnt=323658

Interview mit Felipe Quispe in dt. Übersetz.

eduardo 20.10.2003 - 18:34
Ein Interview mit Felipe Quispe vom 17.10., dessen Originaltext sich unter

 http://bolivia.indymedia.org/es/2003/10/3770.shtml

befindet, gint es auch in deutscher Übersetzung auf Indymedia Österreich:

 http://austria.indymedia.org/front.php3?article_id=32641

originalext ... (jetzt richtig)

no 20.10.2003 - 19:10
war

 http://argentina.indymedia.org/news/2003/10/142575.php
(spanisch)

bzw.

 http://argentina.indymedia.org/news/2003/10/142624.php
(englisch)

(@ mods.
Der Link in meinem Posting weiter oben verweist versehentlich auf die Übersetzung selbst zurück, deshalb kann es gelöscht werden.)

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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gringita — rosita