umgang mit traumatisierung (in genua)

infogruppe berlin 08.05.2002 12:24 Themen: Globalisierung Repression Soziale Kämpfe
gipfelinfo 8.5.2002
öffentlicher rundbrief der infogruppe [berlin]
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ÜBER DEN PERSÖNLICHEN UND KOLLEKTIVEN UMGANG MIT TRAUMATISIERUNG
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öffentlicher rundbrief der infogruppe [berlin]
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ÜBER DEN PERSÖNLICHEN UND KOLLEKTIVEN UMGANG MIT TRAUMATISIERUNG

Misshandlung und Folter in Genua

Der folgende Text basiert auf einem Referat, das kurz nach den Protesten in Genua von einer Psychologin auf einer Veranstaltung in Zürich gehalten wurde. Das Skript ist von nicht psychotherapeutisch ausgebildeten Laien ausformuliert worden. Dennoch wollen wir es veröffentlichen, da es ansonsten kein verfügbares Material für von Traumatisierung Betroffene gibt (nicht nur in Genua!).

Die Gewalt, mit der wir zum Beispiel in Genua konfrontiert wurden, darf nicht einfach aus unseren Zusammenhängen ausgegliedert und den einzelnen und ihrem Umfeld als individuelles Problem überlassen werden. Anstatt einfach entsetzt und hilflos zu reagieren, möchten wir versuchen, die ganze Problematik auch in einem politischen Rahmen zu thematisieren - als Unterstützung für die Betroffenen und als Suche nach einem gemeinsamen Umgang. Denn die Repression gilt uns allen.

Zunächst geht es darum zu verstehen, um was es hier genau geht - politisch und psychologisch.

Was ist eine Traumatisierung durch menschliche Gewalt?
Wenn Menschen über kürzere oder längere Zeit menschlicher physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt sind, mehr oder weniger unerwartet, mit wenig bis sehr wenig Möglichkeiten, etwas dagegen zu tun, löst dies extreme Ohnmachtgefühle, Todesängste und Verzweiflung aus, aber auch Desorientierung bezüglich der eigenen Wahrnehmung - z.B. dass man sich und andere richtig einschätzen kann, Vertrauen in die Menschlichkeit. Diese Basics, auf die man sich existentiell verlassen können sollte, werden zerstört, von den Folterern missbraucht. Ein Beispiel: Wird der/die Betroffene vom Folterer geprügelt, anschließend getröstet und dann weiter geschlagen, dann kann dies eine Traumatisierung zur Folge haben, das bedeutet, die Betroffenen haben Mühe, nachträglich mit dem Erlebten Zugang zu kommen. Es treten u.U. Folgeerscheinungen auf, die bestenfalls einige Tagen oder Wochen andauern, schlimmstenfalls aber auch das ganze weitere Leben prägen können.

Was sind die Auswirkungen?
Die Auswirkungen können sehr verschieden sein, abhängig von der Situation und der Art der erlebten Gewalt, von der Dauer des Ausgeliefertseins und teilweise auch von der Befindlichkeit der betroffenen Person:
'Normal' ist, dass das Ganze immer wieder wie ein Film abläuft, man vielleicht sogar das Gefühl hat, durchzudrehen. Dass man Schlafschwierigkeiten hat. Dass man zusammenzuckt, Ängste hat oder Panik bekommt, wenn irgend etwas einem an eine Situation erinnert: eine laute Stimme, ein Polizist an einer Demo; Die Reaktionen können sehr individuell sein. Sie sind erklärbar als Versuch des 'menschlichen Systems' das Erlebte wenigstens nachträglich unter Kontrolle zu bekommen, resp. nie die Kontrolle zu verlieren, um niemals wieder in eine ähnliche Situation zu kommen (Schlafstörungen!).

'Normal' ist ebenfalls, dass man sich beschuldigt, sich falsch verhalten zu haben; auch Gefühle der Verzweiflung und der Sinnlosigkeit können vielfach auftreten - alles macht keinen Sinn mehr.
Mit 'normal' ist gemeint, dass man/ frau nicht spinnt, nicht am durchdrehen ist, wenn diese Gefühle auftreten; es bedeutet nicht, dass diese einfach zu verkraften sind!
Alle diese Symptome gehen mit der Zeit zurück, werden schwächer. Es kann einem aber auch einige Zeit gut gehen und dann fährt plötzlich wieder alles ein. Sie können auch ein paar Jahre später plötzlich wieder ausgelöst werden - das ist auch 'normal'. Obwohl alle diese Reaktionen 'normal', also typisch sind für eine Traumatisierung, heißt das nicht, dass der/die Betroffene allein damit fertig werden kann. Wendet Euch unbedingt an professionelle Unterstützung (PsychotherapeutIn), wenn ihr den Eindruck habt, das sei alles zuviel, beeinträchtige Eure Lebensqualität.

Zusammenfassung des Gewaltgeschehens in Genua

In der Stadt
* zwei Tage bürgerkriegsähnliche Riots
* Massenmobilisierung auf den Straßen
* eingekesselt sein
* CS-Gas-Überdosen
* Schüsse oder die Androhung davon/auf Personen gerichtete Schusswaffen.
* Razzia in der Diaz-Schule (unerwartet mitten in der Nacht von der einfahrenden Polizei massivstens zusammengeschlagen werden, oder dies miterleben, die Verletzten sehen)
* Razzia im IMC
* auf der Straße willkürliche Festnahmen und Schikanen
* ständige Angst vor Zivilpolizei

auf Polizeiposten/ in den Spitälern
* offen faschistischer Terror (Hitlergruss, Sprüche, Bilder, Tätowierungen)
* sexistischer Terror (Vergewaltigungsdrohungen, Untersuchung sämtlicher Körperöffnungen im Beisein der Polizei oder zusätzlich durch einen Mann), auch gegenüber Männern
* systematische Folter: mit erhobenen Händen stundenlang stehen, wieder hoch geprügelt werden, zu Faschogruss etc. gezwungen werden, Haare abschneiden, prügeln-trösten-prügeln, damit spielen, dass Leute nichts verstehen

Wir sprechen von systematischer Folter
* Die Gewalt wurde begangen von Leuten, die offensichtlich dazu ausgebildet wurden und sie profi-mässig handhabten. Es waren nicht einfach Aggressionsausbrüche von Polizisten. Es ging darum: Wie macht man den Gegner/in systematisch fertig, demütigt sie, zerbricht ihre Identität. Indem man ihn/sie dazu bringt, Sachen zu machen oder zu sagen, die er/ sie sonst nie tun würde, gegen die eigene Überzeugung zu handeln. Indem sie durchblicken lassen, dass du nicht mehr zählst, nur noch ausgeliefert bist, dass sie über dich bestimmen, über Leben und Tod und Schmerz. Indem sie die Leute mit Händen nach oben stehen lassen und sie wieder hoch prügeln. Indem sie mit deinen Gefühlen spielen, deinem Bedürfnis nach Trost, nach aufgehoben sein: all das sind typische altbekannte Foltermethoden.
* Die italienische Polizei hat eine entsprechende Geschichte. Bereits in der Bewegung der 80er Jahre wurde systematisch gefoltert - nicht nur der "militante Kern", sondern auch ein breites Umfeld.
* Kurz vor dem Gipfel in Genua wurde die Zeit, die jemand in Polizeigewahrsam behalten werden kann, auf 4 Tage verlängert. Erst dann muss der/ die Festgenommene dem Untersuchungsrichter vorgeführt werden. In dieser Zeit wird der Polizei die Möglichkeit gegeben, zu misshandeln oder zu foltern. ABER: diese Zeit ist begrenzt. Es geht also immer auch darum, diese Zeit zu überstehen. Im Moment des gefoltert werden ist es sehr wichtig zu wissen, dass sie nicht unendlich weitermachen können.

Einige Ziele der Folter
* Infogewinnung (in Genua eher nicht der Fall)
* Einschüchtern, Todesangst auslösen, Demütigen, Identität als Widerständige zerbrechen: Sachen machen, die man sonst nie machen würde, z.B. Faschogruss, Haare abschneiden, Blankounterschriften.
* Keinem Verhalten kann mehr getraut werden, das Verhalten der Folterer ist nicht berechenbar (z.B. Trösten), aber auch sprachliches Nichtverstehen. Dies führt zum Verlust sämtlicher inneren und äußeren Koordinaten einer Person, das Verhalten der anderen ist nicht mehr berechenbar/verstehbar und damit zum Gefühl totalem Ausgeliefertseins.
* Geschlechtspezifisch: Erniedrigen der Person in ihrer Geschlechtsidentität als Frau/Mann, der sexuierte Körper ist den Blicken und der Verfügungsgewalt der Folterer ausgesetzt.
* Abschrecken des Umfeldes: Was geschehen ist, markiert letztlich alle, diejenigen, die ebenfalls in Genua waren und letztlich die ganze Bewegung. Es löst Entsetzen, Angst und Wut aus

Folter/ Gewalt ist nicht sinnlos, sondern zielgerichtet und wirkt
* auf persönlicher Ebene, indem es die Betroffenen traumatisiert,
* evtl. auch geschlechtsspezifisch: Frauen eher eingeschüchtert, Männer machen möglichst schnell weiter ohne auf Befindlichkeit zu achten
* evtl. Gefühle der Sinnlosigkeit
auf kollektiver und politischer Ebene, indem es uns entsetzt, absorbiert, abschreckt - einfährt indem es uns stark beschäftigt, besetzt und damit auch lähmt. Die Staatliche Gewalt soll unser Handeln in eine von der Gegenseite gewollten/bestimmten Richtung lenken.

Womit sie genau erreicht haben, was sie wollten. Deshalb müssen wir das Geschehene aufgreifen. Wir können nicht verhindern, dass es auf uns einwirkt, aber um so wichtiger ist es, einen Umgang damit zu finden; politisch, kollektiv, aber auch als individuelle Person. Auch im Hinblick auf Davos 2002 und auf weitere Anlässe. Ein kollektives sich Wehren gegen diese Gewalt verstanden als gemeinsamer Prozess gegen die Vereinzelung.

Die verschiedenen Möglichkeiten
* Aktionen, Demos, Diskussionen wie es politisch weitergeht.
* Im Zusammenhang mit der Gewalt und der Folter wissen, was eine Traumatisierung ist, wie sie sich auswirkt, wie Betroffene, aber ebenso wichtig, diejenigen, die mit ihnen zusammen sind, das Geschehene bewältigen können.
Dazu gehört auch ein Angebot von Beratung durch Fachleute, die aber auch politisch klar sind.
* Gedächtnisprotokolle haben verschiedenen Funktionen: Verarbeitung, ZeugInnenfunktion. Wissen um Polizeieinsatz, Methodik, Wissen um systematische Folter. Darum ist es wichtig, Gedächtnisprotokolle zu erstellen. Dies betrifft nicht nur diejenigen, die dran gekommen sind, sondern alle: was haben sie gesehen? Dies ist auch Teil eines kollektiven sich Wehrens, geht es doch auch darum, sich für die Prozesse zu rüsten; nicht nur diejenigen der Schweizer, sondern von allen, gegen die sie Anklage erheben werden.

Was ist jetzt, kurz nach dem Geschehen, für die Gewaltbetroffenen wichtig?
Nicht krampfhaft versuchen, alles wegzustecken. Zulassen, wenn das Geschehene hochkommt. Sich Hilfe holen. Immer wieder darüber sprechen, wenn es einem hilft. Nicht mehr darüber sprechen, wenn man nicht mehr mag.
Es geht darum Abstand zu gewinnen, und das braucht Zeit. Mit der Zeit nehmen die Symptome ab. Wichtig ist, auf das eigene Gefühl zu hören, was jetzt für einen stimmt/ das richtige ist und was einem jetzt überfordern würde.
Wenn andere so massiv über einen bestimmt haben, ist es nun ganz zentral, wieder selbst zu bestimmen, was man machen will, also keinem inneren oder äußeren Druck nachgeben, was man jetzt machen müsste! Bei Demos, Aktion etc. genau überlegen, wie viel man sich zutraut, wo im Moment die Grenze ist. Irgendwann sind auch Ruhe und Erholung angesagt. Gut ist das Zusammensein miteinander, darüber sprechen können, wenn frau/ man will.
Aber, sehr wichtig: auch versuchen, in den Alltag zurückkehren. Also nicht zulassen, dass es den Gewaltausübenden gelingt, unsere Identitäten auf 'Gefolterte' zu reduzieren. In den Alltag zurückkehren heißt auch, zu merken, dass da noch andere Identitätsanteile sind, andere Lebensinhalte/ politische Inhalte. Diese sollten nicht alle, als im Verhältnis zum Geschehenen unwichtig, auf die Seite geschoben und abgewertet werden. Sie sind diejenigen Bereiche, wo ihr Euch als lebendig, als fähig erleben könnt, die euch auch etwas ablenken. Das gibt Stärke!
Holt euch Hilfe von ausgebildeten Fachpersonen. Das könnt ihr einzeln, aber auch zu Zweit oder in Kleingrüppchen machen.

Für FreundInnen: Den Gewaltbetroffenen Zuhören und ihre Befindlichkeit akzeptieren und nicht wegreden und bagatellisieren. Nicht bedrängen mit Vorschlägen ('du musst/ solltest' etc.), aber auch nicht Händchen halten. Keine abhängigkeits-wiederholenden Infantilisierungen. Die Betroffenen sollen/können/müssen selbst entscheiden, was sie für sich richtig halten in dieser Situation. Sich ebenfalls fachliche Hilfe holen, wenn's einem über den Kopf wächst.

Zürich, Juli 2001

INFOGRUPPE BERLIN
Die Berliner Gipfelsoli-Infogruppe ist hervorgegangen aus der Infogruppe der Genuagefangenen. Wir sind unter  gipfelsoli@gmx.de zu erreichen. Wir haben einen Email-Verteiler angelegt, über den aktuelle Nachrichten zu Göteborg und Genua (und andere Aktivitäten wie z.B. die Mobilisierung nach Brüssel, München oder Barcelona) verschickt werden.
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Ergänzungen

Material zu Traumatisierung

ephraimstochter 08.05.2002 - 14:03
Natürlich gibt es Material zum Umgang mit Traumatisierung. Gerade in der Flüchtlings- und Asylarbeit ist das zur Zeit ein sehr wichtiges Thema. Wendet euch mal an refugio oder lass euch von asylpolitischen Arbeitsgruppen weitervermitteln.

schade daß es den Text erst jetzt gibt

wenigstens ist das Wetter schön 08.05.2002 - 15:18
Bei indy ist ein Text von Starhawk zum Thema Trauma veröffentlicht worden.