Unruhen in Haiti

IMC Argentina; Übersetzung: Kh. 18.02.2004 16:17 Themen: Repression Soziale Kämpfe Weltweit
Am 1. Januar diesen Jahres feierte Haiti den 200. Jahrestag seiner Unabhängigkeit. Haiti war nach einem landesweiten Sklavenaufstand der erste Staat der westlichen Hemisphäre, der die Sklaverei abschaffte. Während dieses Jubiläum fast unbemerkt von den Medien vorüberging, ist wenig später Haiti wegen bürgerkriegsähnlichen Unruhen in den Nachrichten.
[Herkunft des Bildes:  http://paris.indymedia.org/article.php3?id_article=14832, dort weitere Fotos]

Haïti: Am Beginn eines Bürgerkriegs
 http://argentina.indymedia.org/features/internacionales/#933
Feature von IMC Argentina: Haiti: Prematura Guerra Civil; 17. Feb. 2004

Am 1. Januar diesen Jahres feierte Haiti den 200. Jahrestag seiner Unabhängigkeit und Gründung der ersten Republik von Schwarzen in der Welt, dem ersten Staat der westlichen Hemisphäre, der die Sklaverei abschaffte. Dieses Jubiläum, das eigentlich in ganz Amerika hätte gefeiert werden müssen, verging fast unbemerkt von den Medien. Heute ist nun der Karibikstaat wegen eines beginnenden Bürgerkrieges in den Nachrichten, bei dem gegen den Präsidenten Jean Bertrand Aristide und regierungstreue Kräfte feindlich gesinnte Milizen die Hauptrolle spielen.

Gestern (Sonntag) sammelten sich Mitglieder eines breiten Oppositionsbündnisses, das als Demokratische Plattform [Papda] bekannt ist, mit Losungen wie "Nieder mit Aristide!" in den Straßen der Hauptstadt Port-au-Prince, um den Rücktritt des Präsidenten zu fordern. Die Demonstration wurde von der Polizei mit Tränengas auseinandergetrieben; während die haitianische Regierung von den Vereinigten Staaten eine Untersuchung gegen den Oppositionellen Andy Apaid fordert, den sie beschuldigt, gegen das US-Neutralitätsgesetz zu verstoßen.

Etwa tausend Aktivisten der Opposition marschierten durch die Straßen von Port-au-Prince -nachdem sie die Drohungen der Parteigänger Aristides ignoriert hatten - und veranstalteten eine friedliche Demonstration. Während des Marsches kam es nach einer Meldung von AFP jedoch zu Zwischenfällen, die Polizei zerstreute ca. 200 Demonstranten, die Barrikaden bauen wollten. Es waren auch Schüsse zu hören, aber die Behörden gaben nichts über über etwaige Opfer bekannt.

Die Anführer der Protestaktion, Andy Apaid und Evans Paul, meldeten die Einschleusung von Personen, die nicht zu ihrer Organisation gehören.

Apaid versuchte auch, sich mit seiner zivilen Bewegung von dem bewaffneten Aufstand in Gonaïves, sowie von einem früheren Polizeiangehörigen und einem früheren Führer der Paramilitärs, die sich der Rebellion gegen die Regierung angeschlossen hatten, zu distanzieren. "Wir wollen vermeiden, daß wir mit Guy Philippe und Louis-Jodel Chamblain, die eine Vision der Vergangenheit repräsentieren, mit der das haitianische Volk nichts mehr zu tun haben will, in Zusammenhang gebracht werden", fügte Apaid hinzu.

Der frühere, nach dem Staatsstreichversuch von 2000 gegen Aristide entlassene Kommissar Guy Philippe, und der wegen Menschenrechtsverletzungen unter dem Putschistenregime des Militärs Raoul Cedras von 1991 bis 1994 angeklagte Paramilitär-Führer Louis-Jodel Chamberlain sind letzten Sonnabend in Gonaïves eingetroffen, um sich der bewaffneten Rebellion anzuschließen. Zu einer ähnlichen Demonstration in der Hauptstadt wurde am letzten Donnerstag aufgerufen, aber Sympathisanten Aristides verhinderten deren Durchführung: sie schleuderten Steine auf die Demonstranten und blockierten die vorgesehene Marschroute.

Die Demokratische Plattform verlangt seit Monaten den Rücktritt Aristides, den sie der Korruption, des Machtmißbrauchs und des Umsturzes der demokratischen Ordnung bezichtigt. Aristide war 1990 für eine erste Amtsperiode gewählt, aber einige Monate später nach einem von Cedras angeführten Staatsstreich gestürzt worden. Die Vereinigten Staaten entsandten 1994 etwa 20 000 Soldaten, um ihn wieder an die Macht zu bringen und ermöglichten so, daß der frühere katholische Priester seine Amtszeit 1996 vollenden konnte. Aristide kam nach den Wahlen von 2000, die von der Opposition boykottiert und als illegal bezeichnet wurden, nochmals an die Macht. Inzwischen ersuchte die Regierung Haïtis das Justizministerium der Vereinigten Staaten, eine Untersuchung über die Aktivitäten Apaids einzuleiten, eines Staatsbürgers der USA, den sie beschuldigt, gegen das Gesetz zu verstoßen. Apaid hat "nie auf seine Staatsbürgerschaft verzichtet" und als solcher "darf er nicht versuchen, eine ausländische, demokratisch gewählte Regierung zu stürzen", erklärte Ira Kurzban, der Rechtsvertreter der Regierung Haïti in den Vereinigten Staaten am Sonnabend in Port-au-Prince. "Derartige Handlungen laufen dem US-Gesetz zuwider", betonte er, sie tangierten das Gesetz der "Neutralität". Über diese Forderung der Behörden befragt, erklärte Apaid, es handle sich um "ein Ablenkungsmanöver". "Ich bin gebürtiger Haitianer, meine Eltern wurden hier geboren", erklärte er.

Letzten Sonntag griff eine Gruppe vermummter Haitianer die Freizone des dominikanischen Konsortiums Grupo M in der haitianischen Stadt Juan Méndez an der Grenze zur Dominikanischen Republik an, wie militärische Kreise der Region mitteilten. Der Vorfall ereignete sich am Tag, nach dem zwei dominikanische Militärs an der Grenze beschossen und ihren Schußverletzungen erlegen waren. Ein Kommandant namens García, der an der Grenze zwischen den Orten Dejabón (Dominikanische Republik) und Juana Méndez (Haïti) mit der dominikanischen Zollaufsicht beauftragt war, meinte, der Angriff, bei dem es keine Opfer gab, habe darauf abgezielt, den dominikanischen Sicherheitsbeamten ihre Waffen zu rauben. Daher setzte die dominikanische Armee in den letzten Stunden eine größere Anzahl von Männern an der Grenze zu Haiti ein und der dominikanische Präsident Hipólito Mejía gab Anweisung, jeden Haitianer festzunehmen, der die Grenze überschreiten sollte. Schließlich nahm die Polizei von Jamaika 10 Haïtianer, darunter 8 Polizisten, fest, die am Sonnabend in einem Boot gelandet waren. Die Immigranten landeten an der Ostküste des Landes und baten um politisches Asyl. Die Polizei beschlagnahmte bei ihnen acht Pistolen und etwas Munition; die Behörden prüfen ihre Asylgesuche. Dies teilte CNN in ihrer Internet-Ausgabe mit.

Haïti in Zahlen - und ein wenig Geschichte
Seit Beginn der Unabhängigkeit 1804 haben mehrere Faktoren den Fortschritt Haïtis gehemmt. Zunächst einmal hegten die übrigen Länder ? heute ?die internationale Gemeinschaft? - immer Mißtrauen gegen das Land und versuchten, es wegen seines revolutionären Beispiels zu isolieren.

Frankreich, das Land der ?Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit?, erkannte die neue Republik erst an, als diese sich verpflichtete, einen übertriebenen ?Ausgleich? für den Verlust seiner blühendsten Kolonie in der Karibik, die im 18. Jahrhundert 75 % der Welt-Zuckerproduktion bestritten hatte, zu zahlen. Die Länder des Westens behandelten Haïti wie einen Paria, weil es die Kühnheit gehabt hatte sich zu befreien, und das verziehen sie dem Land niemals.

Von der gleichen Haltung ließen sich die Vereinigten Staaten gegenüber Haïti leiten, nachdem sie im 20. Jahrhundert Frankreich als Vormacht in der Region abgelöst hatten. Ab 1915 besetzte die US-Marineinfanterie für fast 20 Jahre Haïti, um die ?Schuld? zurückzuerhalten, die das Land, wie sie behaupteten, gegenüber Washington hätte. Bevor sie sich zurückzogen, halfen sie die finstere Diktatur François Duvaliers (?Papa Doc?) zu installieren [*], der sich selbst zum Präsidenten auf Lebenszeit proklamierte und sein Amt bei seinem Tod seinem Sohn Jean-Claude Duvalier vermachte, der 1985 ins Exil floh. Die Vereinigten Staaten unterstützten die Dynastie der Duvaliers voll und ganz, Vater und Sohn, die sich zusammen mit einer Elite der Plünderung der Reichtümer des Landes und der Unterdrückung ihrer Landsleute durch die Geheimpolizei traurigen Ruhms, der ?Tonton-Macoutes? hingaben.[**]

Haïti hat eine Arbeitslosenrate von mehr als 70 % seiner arbeitsfähigen Bevölkerung, ein Durchschnittseinkommen von weniger als 1 Dollar pro Tag und eine Lebenserwartung von ca. 50 Jahren. Das Bild, das sich aus Daten des Integrierten Programms zur Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse anfälliger Gemeinschaften und Bevölkerungen (PIR) der Vereinten Nationen vom März diesen Jahres ergibt, ist keineswegs ermutigend. In Haïti leben 52% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, 50 % sind unterbeschäftigt und die Lebenserwartung beträgt kaum 53 Jahre. Das Programm zeigt auch, daß 3,8 Millionen Haïtianer nicht über genügend Einkünfte verfügen, um zu überleben. Von diesen leben 2,4 Millionen in einer Situation der chronischen Nahrungsunsicherheit. Nach einem Gutachten der Nahrungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) der Vereinten Nationen leiden 3,8 Millionen Haïtianer an Hunger, in einem Land von über 8 Millionen Einwohnern. Der haitianische Volkswirtschaftler und Exekutivsekretär der Plattform zugunsten einer Alternativen Entwicklung (Papda) Camille Chalmers meint, die Tatsache, daß 46 % der Bevölkerung Haïtis Hunger leidet, sei das direkte Ergebnis der gegenüber dem Land angewandten neoliberalen Politik, die eine Destabilisierung der Landwirtschaft und der nationalen Produktionskapazität erzeugt hat. ?Derzeit importieren wir aus den Vereinigten Staaten Reis im Wert von 250 Millionen Dollar. Haïti steht bei Verbrauch von importiertem Reis aus den Vereinigten Staaten pro Person an erster Stelle. Wir können selbst Reis produzieren, und wir machen das auch sehr gut, aber alle wissen, wie die Politik der Marktöffnung wirkt, die zu einer Reisschwemme aus den USA, einer Änderung der Verbrauchergewohnheiten und zu einer verstärkten Abhängigkeit von Produkten aus den USA geführt hat?, erläuterte der Volkswirtschaftler.

Die Auslandsschuld Haïtis scheint nach absoluten Zahlen gering: 1 251 Millionen Dollar. Hinsichtlich ihrer Belastung der Wirtschaft, die sie ausübt, ist sie dagegen sehr hoch, erklärt der Wirtschaftler Camille Chalmers. ?Die Schuldzinsen betragen das Doppelte der staatlichen Ausgaben für Gesundheit. Dies zeigt, daß sie in Wirklichkeit eine enorme Belastung darstellen. Beim letzten Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) hat die Auslandsschuld in der Volkswirtschaft quasi Priorität.?

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[* dh. die Truppen zogen sich 1934 zurück und das Land blieb noch bis 1947 unter amerikanischer Finanzkontrolle. 1957 kam Duvalier durch Wahlen an die Regierung, er machte sich aber danach zum Diktator mit grausamer Willkürherrschaft, wobei er von den USA unterstützt wurde; A. d. Ü.]

[** Das scheint sich heute mit den ?Chimères?, der bewaffneten Truppe des jetzigen Präsidenten Aristide zu wiederholen, die ebenfalls Greueltaten begehen: A. d. Ü.]
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Ergänzungen

Links

Kh. 19.02.2004 - 10:32
Hier noch einige Links zur aktuellen Situation in Haiti (die Berichte sind oft widersprüchlich):
deutsch:
 http://www.npla.de/poonal/p610.html#ha
 http://www.npla.de/poonal/p609.html#ha
 http://www.npla.de/poonal/p606.html#ha

engl:
 http://www.zmag.org/
 http://www.flashpoints.net/
 http://www.nynewsday.com/news/printedition/newyork/nyc-wohait163672601feb16,0,2324959.story?coll=nyc-nynews-print
 http://www.haitireborn.org/

frz. mit langen engl. Textzitaten u. weiteren, oft engl-sprachigen Links:
Tous ensemble contre la démocratie haitienne!  http://paris.indymedia.org/article.php3?id_article=16242
SOS Haiti vs. Impérialisme -  http://paris.indymedia.org/article.php3?id_article=16219
La France impliquée? -  http://paris.indymedia.org/article.php3?id_article=15980