Die Bewegung vom 32. März

 Neue Arbeitsrechts-„Reform“ & Widerstände
Bernard Schmid berichtet aus Frankreich am 4. April 2016

 

 Das zarte Pflänzchen der Utopie beginnt auf der Pariser place de la République zu sprießen, Abend für Abend. Noch ist die soziale Bewegung dort eher unstrukturiert, doch sie nimmt allmählich Formen an. Die öffentlichen Vollversammlungen unter freiem Himmel schaffen einen Bezugspunkt, der die periodischen Mobilisierungen zu Straßenprotesten gegen die Regierungspläne für eine regressive Arbeitsrechts-„Reform“ ergänzt und die Termine zwischen ihnen überbrückt. Nicht Alles geht ohne Probleme ab, doch ein Anfang ist gesetzt......

Beinahe jede/r, die oder der bereits einmal in Paris an einer Demonstration teilgenommen hat, kennt ihn irgendwie. Den ungefähr 1,90 Meter hohen Mann mit den eintausend verschiedenen Demoschildern, der vielleicht den Teilnahmerekord an Protestzügen und –versammlungen in den letzten zwanzig Jahren hält (und auch den Verfasser dieser Zeilen in dieser Kategorie schlägt). Bei nahezu jedem sozialen progressiven oder ökologischen Aufzug ist er dabei und hält dabei mit seinen überlangen Armen ein mindestens ebenso überdimensioniertes Pappschild in die Höhe, meist in auffälligen Farbtönen von Rot, Blau, Grün und Schwarz.

Nahezu jedes seiner Schilder ist speziell anlassbezogen gefertigt. Mittlerweile ist der 59jährige durch die französische und internationale Presse mehrfach portraitiert worden.

Am vergangenen Samstag Abend stand der Mann, also Jean-Baptiste Reddé alias „Voltuan“, im Nieselregen auf der Pariser place de la République. Und hielt einen seiner von weithin sichtbaren Kartons in die Höhe, mit einer Aufschrift, die mehrere Hashtags enthielt: „32. und 33. März – Rêve generale – Nuit debout“. Das Wortpaar Rêve générale, das grammatikalisch auf den ersten Blick fehlerhaft erscheint, beruht auf einem Sprachspiel und einer Kombination zwischen Le rêve (männlich, „der Traum“) und La grève générale (weiblich, „der Generalstreik“). Nuit debout ist die selbstgewählte Bezeichnung für die Platzbesetzung im nördlichen Pariser Stadtzentrum, und bedeutet so viel wie „Aufrechte/wache Nacht“. Aber was zum Teufel hat es mit der Datumsangabe auf sich sitzen?

Doch doch, der Mann ist der Kalenderrechnung absolut mächtig. Seine spielerische Angabe deutet jedoch einerseits darauf hin, dass die Kraft der sozialen Bewegung manche sozialen Normen und Konventionen zeitweilig außer Kraft zu setzen und/oder zu verändern vermag. Zum Anderen widerspiegelt und versinnbildlicht sie die Tatsache, dass die Platzbesetzung in einem Kontinuum seit dem 31. März dieses Jahres anhält und bis heute andauert. (Wenn auch an den Abenden des 31. März, 1. und 2. April jeweils durch polizeiliche Räumungen gegen fünf Uhr unterbrochen - bis die Teilnehmer/innen am je folgenden Tag zurückkehrten.)

Ursprünglich hatte die Aneignung des öffentliches Raums, in dem Falle der place de la République, am Abend des 31. März 16 begonnen. Voraus gingen die relativ gut besuchten Demonstrationen vom Tage. Bei ihnen war es aber auch zu einer Reihe von Zwischenfällen mit der Polizei und Repressions-Vorkommnissen gekommen. Einige Einzelheiten dazu kommen erst jetzt ans Tageslicht....

Übrigens ist die Besetzungsbewegung inzwischen längst nicht mehr auf Paris beschränkt, sondern hat 22 französische Städte erfasst, unter ihnen Lyon und Toulouse.....

Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag, …

Inzwischen verfügt die Platzbesetzer/innen/bewegung auch über ihr eigenes Erkennungszeichen im Internet und bei den sozialen Medien, eben Nuit debout (vgl. oben). Dieses Erkennungsmerkmal gesellt sich dort dem bereits in den Wochen zuvor bedienten Slogan und Hashtag der Protestbewegung hinzu, Nous valons mieux que ça („Wir sind mehr wert als das“ – als das, was die Regierenden planen).....

Am Freitag Abend war der Mobilisierungswille der Teilnehmer/innen zunächst ungebrochen, nachdem am Donnerstag (31. März) auf dem Höhepunkt rund 3.000 Menschen gleichzeitig auf dem Platz gewesen, die verbleibenden vielleicht dreihundert jedoch gegen fünf Uhr früh polizeilich geräumt worden waren. Am Freitag Abend wiederholte sich das Szenario in ähnlicher Form. Dieses Mal nehmen wesentlich mehr von den anwesenden Menschen an einer Vollversammlung (Assemblée générale) teil, dabei stellten sich erste Ausschüsse vor: ein Ausschuss für Kommunikation, ein anderer zu „Aktion“, welcher zu Aktionsformen diskutiert (Gewalt gegen Sachen hm-ja-warum-nicht-mitunter, Gewalt gegen Personen nein, fast genau wie 1967/68 darüber in Westdeutschland diskutiert wurde...). Im späteren Verlauf des Abends folgte ein Konzert, gegen fünf Uhr früh dann erneut die Räumung.

Letztere ist „theoretisch“ sogar illegal, denn jedenfalls bis zum heutigen Montag (04. April 2016 oder 35. März) hat die kämpferische Wohnraum- und Wohnungsloseninitiative DAL – Droit au logement – ein permanentes Zeltlager auf der place de la République angemeldet und auch polizeilich genehmigt bekommen. Am heutigen Montag wird das zeitweilige Dauercamp jedoch abmontiert werden...........

 

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