HB: Gefälschtes Schreiben des Senats kündigt Parkverbot und kostenlosen ÖPNV an

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Die Vorderseite des offiziell wirkenden Schreibens.

Die Kommunikationsguerilla schlägt zu. Ein gefälschtes Schreiben des Bremer Senats verkündet Verbot des Gehwegparkens und kostenlosen ÖPNV in der Bremer Innenstadt.

Am Abend des 2. Juli hat die Kommunikationsguerilla KAKA-PIBI "Keine Autos statt Kein Aufgesetztes Parken In der Bremer Innenstadt" ein gefälschtes Schreiben verteilt. Das Schreiben erweckt den Anschein von einer Bremer Behörde zu stammen, dem Senat für Stadtentwicklung, Mobilität und Wohnen, da es den offiziellen Briefkopf inkl. Bremer Schlüssel verwendet. In dem Schreiben, das im Bremer Stadtteil Neustadt an Hunderten aufgesetzt parkenden PKW hinter die Scheibenwischer geklemmt wurde, heißt es: "Der Bremer Senat hat daher mit Beschluss vom 28.06.2024 das Pilotprojekt "Bremen Autofrei" auf den Weg gebracht. Im Rahmen dieses Projekts wird das Parken in den kleinen Nebenstraßen in einigen innenstädtischen Stadtteilen untersagt." Ab dem 8. Juli würden widerrechtlich abgestellte Fahrzeuge umgehend und kostenpflichtig abgeschleppt. Und weiter: "Für die Dauer des Pilotprojekts (Juli bis August 2024) fahren Sie mit den Bussen und Straßenbahnen der BSAG in gesamten Stadtgebiet kostenlos."

Gerichtsurteil zum Gehwegparken

Am 6. Juni entschied das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, dass die Stadt Bremen gegen regelwidrig auf dem Bürgersteig parkende Autos vorgehen muss. Allerdings räumte das Gericht den Behörden einen Ermessensspielraum ein. Geklagt hatten fünf Anwohner:innen aus Straßen mit besonders engen Gehwegen, die forderten, dass die Stadt gegen das verbotene Parken auf Gehwegen auch aktiv vorgeht. Mit dem Urteil, dessen schriftliche Begründung noch aussteht, wurde ein jahrelanger Rechtsstreit beendet. Die reale Bremer Mobilitätssenatorin Özlem Ünsal machte sogleich klar, dass sie das Urteil als Aufforderung zum Weiter-So interpretiert: "Dadurch sind wir in unserem ganzheitlichen, konzeptionellen Vorgehen bestätigt worden."

Für die Kommunikationsguerilla KAKA-PIBI reicht die derzeit in Bremen - und nicht nur dort - geführte Debatte zur Verkehrswende nicht aus. Kim Fuß, eine Sprecher:in der Gruppe, kommentiert: "Weit über die Hälfte der öffentlichen Flächen in der Stadt sind für Autos reserviert, aber automobiler Individualverkehr macht nicht nur die Stadt kaputt, sondern auch den Planeten. Wir wollen eine grundlegend andere Lebens- und Produktionsweise. Ein paar Verbrenner durch E-Autos ersetzen, ein paar mehr Car-Sharing-Stationen hier und da - das reicht nicht aus." Mit Verweis auf die verheerende Folgen des Lithiumabbaus für Menschen und Umwelt in Südamerika meint Fuß: "Die E-Mobilität dient vor allem dazu den globalen Kapitalismus zu retten. Wir müssen weg vom Individualverkehr und marktbasierten technologischen Lösungen für soziale und ökologische Probleme."

Die Strategie der Kommunikationsguerilla

Nach dem Urteil am 6. Juni hat sich die Gruppe überlegt, wie sie der Debatte eine fortschrittlichere Wende geben kann: "Wir wissen, dass Deutsche am liebsten Anweisungen von oben hören. Wenn sie also ein Schreiben von der Behörde erhalten, dann nehmen sie das ernst." Die Gruppe möchte die Fahrzeughalter:innen, an die das Schreiben adressiert ist, aber nicht bloß hereinlegen, sondern zum Nachdenken anregen. Dazu wurde ein sprachlicher und optischer Stil gewählt, der durchaus einem offiziellen Schreiben angemessen ist. Der Inhalt dürfte viele Leser:innen jedoch stutzig machen. "Was wir dort als offiziell beschlossene Maßnahmen des Senats ankündigen - Parkverbot, kostenloser ÖPNV und besonders die progressiven Begründungen - so etwas Sinnvolles würde eine echte Behörde natürlich niemals freiwillig beschließen. Und das wissen auch die Menschen." Die Frage nach der Echtheit des Schreibens ist durchaus erwünscht. Zwischen den Zeilen wirft das Schreiben die Frage auf, wieso warten wir eigentlich darauf, dass diese Maßnahmen von oben angekündigt werden, anstatt es selbst in die Hand zu nehmen? Oder wie die falsche Behörde es formuliert: "Wir laden alle BürgerInnen und Bürger dazu ein, sich selbstständig einzubringen und neue Nutzungskonzepte für die freigewordenen Parkflächen zu entwickeln."

Soziale Ungleichheit und ökologische Kosten

In dem Schreiben kündigt die Behörde nicht nur rot-grün-rote (Park-) Verbotspolitik an, sondern auch die stadtweite, kostenlose Freigabe des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) für alle. Fuß begründet: "In einer Stadt wie Bremen ist ein Auto für die allermeisten Menschen überflüssig. Damit alle mobil sein können, muss der ÖPNV aber kostenlos sein. Kaum zu glauben, dass wir das in dieser Wohlstandsgesellschaft immer noch faken müssen und es nicht längst selbstverständlich ist. Wer zum Jobcenter geht, leistet sich nicht mal eben ein 49€-Ticket."

Ungewöhnlich ist auch die behördliche Begründung der Maßnahmen. Neben dem neoliberalen Geblubber von Bürgerbeteiligung heißt es in dem Schreiben: "Die mit dem Autoverkehr verbundenen gesundheitlichen, ökologischen und sozialen Kosten werden auf zukünftige Generationen und auf die Orte der Rohstoffförderung im globalen Süden abgewälzt." Eine Aussage, die wohl kaum geeignet ist, um einer unpopulären Verwaltungsmaßnahme, die nötige Akzeptanz zu beschaffen. Kim Fuß erklärt: "Die gesellschaftliche Ungleichheit und die ökologische Zerstörung der Erde und des Klimas hängen eng zusammen. Klar, die Reichen verbrauchen die meisten Ressourcen, aber viel wichtiger ist, dass der Kapitalismus notwendigerweise Ungleichheit hervorbringt." Kein Unternehmen würde im Kapitalismus investieren, wenn es nicht davon ausgehen könnte, hinterher mehr als vorher zu haben, d.h. Profit zu machen. Das Wachstum von sozialer Ungleichheit und das Wachstum des Ressourcenverbrauchs sind laut Fuß zwei Seiten derselben Medaille: "Der vollgeparkte öffentliche Raum ist nur die Spitze des Eisbergs - aber er ist eine willkommene Gelegenheit, um über die ungleiche Verteilung gesellschaftlichen Wohlstands zu sprechen. Die derzeitigen Verhältnisse sind nicht länger hinzunehmen."

Erste Reaktionen

Der Angriff der Kommunikationsguerilla hat seine Wirkung offenbar nicht verfehlt. Am Morgen, nach dem die Schreiben verteilt wurden, sah sich der Bremer Senat gezwungen ein Dementi zu veröffentlichen. Darin werden die progressiven Beschlüsse zwar verschwiegen. Es lautet lediglich: "Inhaltlich befassen sich diese Schreiben mit den Themen des aufgesetzten Parkens sowie der Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV)." Allerdings schafft eine behördliche Pressemitteilung öffentliche Aufmerksamkeit. Einige Bremer Medien haben in ihrer folgenden Berichterstattung die Inhalte sehr umfangreich wiedergegeben.  "Welchen Aufwand hätten wir wohl mit weniger kreativen Methoden wie Demos und Kundgebungen betreiben müssen, um diese Inhalte medial zu platzieren," fragt Fuß.

Einer der betroffenen Anwohner:innen, Andre Atinger, wird auf buten un binnen im Video interviewt, nachdem er das Schreiben an seinem Auto entdeckt hat. Im ersten Moment sei er erschrocken gewesen: "Jetzt setzen sie es früher um als geplant." Zu dem Schreiben selbst meint er: "Es sieht alles super identisch aus, aber ich finde es eigentlich eine Frechheit." Später gibt Atinger dann allerdings auf Nachfrage zu: "Wenn es dann so ist, dann würde ich irgendwann sagen, es lohnt sich nicht mehr ein Auto zu behalten hier und ich würde es dann abschaffen."

Die Sprecher:in der Kommunikationsguerilla, Kim Fuß, kommentiert Atingers Aussagen: "Wir setzen darauf, dass sich die Leute erschrecken. Es ist gut, wenn sie sich aufregen und das Schreiben als Frechheit empfinden. Denn dann sind sie emotional dabei und nehmen das ernst. Dann sprechen sie darüber mit ihren Freund:innen, Nachbar:innen und Kolleg:innen." Auch wenn viele Anwohner:innen schnell merken sollten, dass es sich um ein Fake handele, Atingers Reaktion zeige, dass das Schreiben durchaus dazu führe, dass sich Menschen damit auseinandersetzen, wie ihr Leben ohne Auto funktionieren könnte. Bis die nun angestoßene Debatte allerdings reale Früchte trägt - da ist sich Fuß sicher - bedarf es noch vieler weiterer Fakes und anderer gelungener Aktionen.

 

--- Vorläufiger Pressespiegel ---

 

 

--- Hier der volle Text des Schreibens ---

 

Bremen Autofrei: Keine Toleranz für aufgesetztes Parken und kostenlose Freigabe des ÖPNV

Liebe Fahrzeughalterinnen und Fahrzeughalter,

wie Sie sicher der Presse und den Medien entnehmen konnten, hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig am 6. Juni ein Urteil in Bezug auf das aufgesetzte Parken gefällt. Die Stadt Bremen ist nun angewiesen, gegen regelwidrig auf dem Bürgersteig parkende Fahrzeuge vorzugehen. Das Gehwegparken ist und bleibt auch in letzter Instanz verboten.

Als Bremer Senat haben wir langfristige Stadtnutzungskonzepte entwickelt, die u.a. die Schaffung weiträumiger autofreier Flächen beinhalten. Wir denken, dass die Schaffung solcher Räume ein unerlässlicher Beitrag unserer Stadt im Kampf gegen den menschengemachten Klimawandel darstellt. 

Zudem ist uns eine sichere, saubere und lärmarme Umgebung für Sie und Ihre Kinder wichtig. Langfristig soll der Raum auf unseren Straßen daher nicht als Platzhalter für Kraftfahrzeuge dienen, sondern als Ort des Austauschs, als mögliche Grün- und Anbaufläche, als sichere Spielstätte für Kinder, als ein Ort der Erholung und Begegnung und somit die Lebensqualität für alle BürgerInnen unserer Stadt erhöhen.

Als Bremer Senat sind wir uns bewusst, dass viele Autofahrerinnen und Autofahrer es als Selbstverständlichkeit betrachten, den Platz auf den Straßen als Parkraum zu nutzen. Die mit dem Autoverkehr verbundenen gesundheitlichen, ökologischen und sozialen Kosten werden auf zukünftige Generationen und auf die Orte der Rohstoffförderung im globalen Süden abgewälzt. Dennoch wollen wir den Zweifeln der BürgerInnen und Bürger Raum geben und uns allen erste gemeinsame Erfahrungen mit der autofreien Stadt der Zukunft ermöglichen.

Der Bremer Senat hat daher mit Beschluss vom 28.06.2024 das Pilotprojekt "Bremen Autofrei" auf den Weg gebracht. Im Rahmen dieses Projekts wird das Parken in den kleinen Nebenstraßen in einigen innenstädtischen Stadtteilen untersagt. Das Projekt ist zunächst auf die Stadtteile Steintorviertel, Neustadt und Findorff sowie auf die Monate Juli und August begrenzt. Die Durchfahrt durch die betroffenen Straßen bleibt gestattet, sollte jedoch nur in begründeten Fällen erfolgen und ist auf eine Maximalgeschwindigkeit von 30 km/h begrenzt.

Für die Dauer des Pilotprojekts (Juli bis August 2024) fahren Sie mit den Bussen und Straßenbahnen der BSAG in gesamten Stadtgebiet kostenlos.

Beim Mobilitätssenat der Stadt Bremen ist es uns eine Herzensangelegenheit, allen Menschen in unserer Stadt einen kostenlosen Zugang zu ökologischer Mobilität zur Verfügung zu stellen. Wir hoffen, dass unser Pilotprojekt nicht nur bzgl. einer klimagerechten Stadtentwicklung Vorbildcharakter haben wird, sondern auch zur Bekämpfung der unverhältnismäßigen sozialen Ungleichheit in unserer Stadt beiträgt. Indem wir den ineffizienten automobilen Individualverkehr in der Innenstadt einschränken, ermöglichen wir deutlich mehr Menschen als bisher eine gleiche Teilhabe an unserer Gesellschaft. Für bereits abgeschlossene Jahresabos der BSAG kann eine Rückerstattung für den Zeitraum Juli-August im Kundencenter der BSAG beantragt werden.

Wir laden alle BürgerInnen und Bürger dazu ein, sich selbstständig einzubringen und neue Nutzungskonzepte für die freigewordenen Parkflächen zu entwickeln. Nach einer Phase der Auswertung der gesammelten Erfahrungen sieht der Plan des Bremer Senats dann ab 2025 eine dauerhafte Umsetzung des Projekts "Bremen Autofrei" vor - zunächst beschränkt auf die Stadtteile, in denen die Lebensqualität am stärksten durch Autos beeinträchtigt wird. Auch Ihre Meinung ist uns hierbei wichtig. Sollte Bremen mit der Zeit gehen und Alternativen zum Individualverkehr mutig umsetzen oder wollen wir die Zukunft unserer Kinder aus automobiler Bequemlichkeit aufs Spiel setzen? Teilen Sie uns ihre Gedanken mit unter dem Hashtag: #BremenAutofrei.

Weitere Informationen über den Beschluss des Bremer Senats werden Ihnen in den nächsten Tagen postalisch zugestellt. Dieser Sendung entnehmen Sie bitte auch den nächstgelegenen zulässigen Ort zum Abstellen ihrer Kraftfahrzeuge. Ab dem 8. Juli ist das Ordnungsamt angewiesen widerrechtlich abgestellte Fahrzeuge umgehend und kostenpflichtig abschleppen zu lassen. Ausnahmegenehmigungen aufgrund von Behinderung und zulässiger Härtefälle erhalten Sie im Senat für Bau, Mobilität und Stadtentwicklung.

Zuletzt bedanke ich mich im Namen des Bremer Senats für ihre Kooperation und Ihre Offenheit gegenüber neuen nachhaltigen Stadtnutzungskonzepten. Lassen Sie uns gemeinsam neue Wege beschreiten und unser Bremen zu einer noch lebenswerteren Stadt für alle machen.

Mit herzlichen Grüßen,  

Staatsrat Dr. Ralph Baumheiler
Senat für Stadtentwicklung, Mobilität und Wohnen

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