EIN DEBATTENBEITRAG ZU DEN EREIGNISSEN SEIT DEM 07. OKTOBER 2023

Themen: 

1. Voranmerkung: Wozu dieses Statement?

Als kritische Kommunist:innen, die in der internationalen radikalen Linken aktiv und Teil
von Bündnissen und Kampagnen sind, sehen wir die Notwendigkeit, uns zur
gegenwärtigen antisemitischen Hochstimmung in der deutschen und globalen Linken
zu verhalten. Die innerlinke Antisemitismuskritik, die Anfang des Jahrhunderts noch
deutlich präsenter war, scheint verhallt zu sein. Dies wollen wir als Anlass nehmen,
diese aktuellen Entwicklungen innerhalb der Linken zu kritisieren und darzulegen,
warum wir eine ideologiekritische, antiautoritäre und antinationale Linke für notwendig
erachten. Wir erleben zugleich eine vermeintliche Form von Antisemitismusbekämpfung
und Israelsolidarität durch staatliche Organe und Teile der „Mehrheitsgesellschaft"“,
die voller Instrumentalisierungen bis hin zu offenem Rassismus sind. Auch dazu
möchten wir uns hiermit verhalten.

 

Es ist uns aber in diesem Statement kein Anliegen, innerhalb der aktuellen Situation
einzelne islamistische Strukturen zu untersuchen, militärtaktische Ratschläge zu geben
oder eine adäquate Lösung des Konflikts vorzuschlagen. Uns ist bewusst, dass der
Raum, in dem sich die gegenwärtige antisemitische Hochstimmung breitmacht, auch
eine Reaktion auf die Kriegsführung durch die israelische Armee in Gaza ist. Diese hat
zehntausende Menschen, darunter viele Zivilist:innen, das Leben gekostet und große
Teile der Region zerstört. Wir trauern um die Toten und sind solidarisch mit der
notleidenden Bevölkerung Gazas. Für eine emanzipatorische Linke gilt es auch jene
Strukturen zu unterstützen, die in Gaza für eine Perspektive auf ein gutes und
selbstbestimmtes Leben und gegen die Schreckensherrschaft der Hamas und
reaktionäre Gesellschaftsbilder kämpfen, etwa indem sie sich für ihre Rechte als
Arbeiter:innen, als Frauen oder als Queers einsetzen.

Ebenso sind uns die Konflikte und Auseinandersetzungen innerhalb Israels,
insbesondere mit den rechtsextremen Teilen der Regierung bewusst. Wir möchten
dennochbetonen, dass der aktuelle Krieg in Gaza durch das terroristische Massaker
der Hamas am 7. Oktober 2023 ausgelöst wurde, bei dem über 1200 Menschen aus
antisemitischen Motiven brutal vergewaltigt und ermordet wurden, und bei dem 239
Menschen als Geiseln entführt wurden, von denen viele bis heute festgehalten werden.
Mit unserer Kritik möchten wir nicht das Recht auf Trauer und Protest absprechen und
auch nicht Leid gegeneinander aufwiegen, sondern auf ein allgemeines Problem der
globalen Linken eingehen.

 

2. Die Zäsur vom 7. Oktober

Der 7. Oktober 2023 markiert eine Zäsur. Die Ausmaße und Details der Gräuel
schockieren: Systematische Folter, Verstümmelungen, Entführungen und systematisch eingesetzte sexualisierte Gewalt gegen Frauen. Diese wurden bewusst eingesetzt, um
antisemitische Gewalt zu entfalten und Angst vor Vernichtung auszulösen. Die Massaker
sollten Jüdinnen:Juden als solche treffen, die Erinnerung an eine Jahrhunderte lange
Geschichte der Pogrome und Vernichtungsandrohungen aktivieren und damit auch das
Selbstverständnis des Staates Israels, Schutzraum für Jüdinnen:Juden gegen
antisemitische Verfolgung zu sein, angreifen.

Die einschneidenden Ereignisse des 7. Oktober wurden in der globalen Linken
erstaunlich wenig reflektiert. Stattdessen entzündete sich eine massive Explosion
antisemitischer Angriffe. Große Teile der globalen Linken sind dabei tragischerweise
Plattform für diesen Antisemitismus und liefern den Treibstoff dafür. So erleben wir bei
etlichen Linken Abwehr bis zur Leugnung und klammheimlicher Freude. Andere verharren
angesichts des aufbrausenden Antisemitismus in politischer Lähmung, anstatt dass sie zu
einer solidarischen Praxis übergehen. Dies verwundert nicht, enttäuscht aber – ist
Antisemitismus doch ein zentrales Moment der gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse
und Kritik an diesem daher Grundvoraussetzung für jegliche gesellschaftliche
Emanzipationsbestrebung.

3. Eine neue globale Welle des Antisemitismus

Während linke Solidarität mit den Opfern des 7.10. fast komplett ausblieb, fanden noch
vor Beginn der militärischen Operationen der IDF meist pro-palästinensische
Massendemonstrationen statt, deren Skript eindeutig und bekannt war: Israel ist eine
koloniale Besatzungsmacht, die verschwinden sollte; Israel ziele auf die Vernichtung
aller Palästinenser:innen ab; Israel sei das Böse, das beseitigt werden soll. Auf den
Straßen wurde dabei nicht einfach Solidarität mit den Palästinenser:innen geteilt,
sondern zu oft etwas, was in seinem Wesen virulenter Israelhass ist. Es zeigte sich eine
Überidentifizierung mit der „palästinensischen Sache“, die in weiten Teilen der globalen
Linken als Identitätsbaustein, Erkennungsmerkmal, Ersatzkampf und als kollektives Ritual
dient.

Die grausamen Taten der Hamas wurden dabei als Akt der Dekolonisierung, als
„Ausbruch aus dem Gefängnis“ oder als „Akt des Widerstandes“ gefeiert und
umgedeutet. Mit den lauthalsen Rufen nach „Kontextualisierung“ des 7. Oktobers wird
eine Rechtfertigung oder zumindest Relativierung der Gräuel eingefordert. Es ist absurd,
mit welcher Vehemenz Parolen, Taten und Denkmuster vom Anklang des Antisemitismus
freigesprochen werden. Ein großer Teil der weltweiten Linken bemühte sich darum, das
Massaker als vielleicht etwas übertriebene Notwehr zu erklären und zu entschuldigen –
wenn es nicht gleich als antikolonialer Befreiungsschlag gefeiert wurde.

Auch in Deutschland hatte ein Teil der Linken, von pro-palästinensischen Gruppen und
deren „internationalistischen“ Unterstützer:innen, über stalinistische und trotzkistische
Organisationen, queerfeministische Kreise bis hin zu autonomen Hausbesetzer:innen in
Berlin und anderswo kein Problem damit, islamistischen und antisemitischen Terror in
Befreiung umzudeuten. Die sonst in linken Kreisen gepredigte Betroffenenzentriertheit
scheint es für Israelis, noch dazu für jüdische, nicht zu geben.
Kein Zweifel: Die Lebensumstände der knapp 2 Millionen Menschen im Gazastreifen sind
durch den Krieg entsetzlich. Bereits vor den jüngsten Kriegshandlungen waren
Verhältnisse in Gaza extrem prekär. Jedoch gibt es horrende Doppelstands für die
Bemessung der menschenrechtlichen Situation in den palästinensischen Gebieten und
andernorts. Auch das Leid der Palästinenser:innen scheint viele Kritiker:innen nur dann zu
interessieren, wenn als vermeintliche Täter:innen Jüdinnen:Juden ausgemacht werden
können: Sie schweigen besonnen zur Zerschlagung der Gewerkschaften, Ermordung von
LGBTIQ*, der Geiselhaft, in die die palästinensische Zivilbevölkerung seitens der Hamas
und ihrer Mitstreiter:innen aktuell genommen wird, und zu den menschenunwürdigen
Bedingungen, unter denen die arabischen Nachbarstaaten geflüchtete
Palästinenser:innen akzeptieren. Sie schweigen zur Grenzfestigung Ägyptens, das keine
palästinensischen Geflüchteten aufnehmen will, und zu den außenpolitischen Interessen
des Iran, der die Palästinenser:innen zum Spielball seiner Machtinteressen macht. Sie
schweigen auch zu den fortwährenden Raketenangriffen der Hamas und Hisbollah auf
Israel.

 
Wenn die Kriegshandlungen der israelischen Armee und das Leiden der Bevölkerung in
Gaza durch Linke mit historisch spezifisch konnotierten Begriffen bezeichnet werden,
zeigt sich darin häufig eine regelrechte Sehnsucht danach, Jüdinnen:Juden als
Täter:innen ausmachen zu können – auf eine Weise, die sie oft implizit und manchmal
explizit den NationalsozialistInnen gleichstellen. Wenn das bei Deutschen auftritt,
handelt es sich um eine bekannte Schuldabwehrstrategie. Häufig geht dieser Vorwurf
mit der Erzählung einher, Israel bzw. Jüdinnen:Juden würden sich gezielt durch den
Verweis auf die Shoah vor jeglicher Kritik immunisieren. Bei beidem muss klar benannt
werden, dass hier Muster des sekundären bzw. Schuldabwehr-Antisemitismus deutlich
werden. Für viele scheint folgendes zu gelten: Jüdinnen:Juden waren in Vergangenheit
höchstens, wenn sie von Rechten angegriffen werden, Opfer – jetzt können sie nur als
Täter:innen gedacht werden. Diese Auffassung deckt sich mit der antisemitischen
Sichtweise, nach der Jüdinnen:Juden grundsätzlich als überlegen, mächtig und täterhaft
imaginiert werden.


4. Zur ideologischen Funktion des Antisemitismus

Antisemitismus funktioniert als eine Welterklärung, die in der Gedanken- und
Affektwelt der Antisemit:innen fußt. Komplexe gesellschaftliche Phänomene, Krisen und Ambivalenzen werden in der antisemitischen Logik widerspruchsfrei aufgehoben. Verschwörungsideologien ermöglichen Antisemit:innen, simple Erklärungsmuster für
komplexe und verunsichernde individuelle und strukturelle Phänomene zu finden. In der
antisemitischen Logik gilt es, das Bild des „Juden als übermächtige Figur der
herrschenden Klasse“ aufrecht zu erhalten und je nach aktueller gesellschaftlicher
Krise Jüdinnen:Juden als „Schuldige“ für selbige auszumachen.

 
Antisemitismus ist aus kritisch-materialistischer Perspektive auch immer als die
umfassende soziale Pathologie bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaft und als Produkt
von Herrschaftsverhältnissen zu betrachten. Im Antisemitismus bricht die
Widersprüchlichkeit bürgerlicher Vergesellschaftung als offener Wahn heraus.
Antisemitismus ist dabei auch Moment der unzureichenden oder verdrehten Versuche,
die gegebenen Herrschaftsverhältnisse zu begreifen und zu überwinden. Dabei lässt
sich Antisemitismus nicht als ein Moment von Herrschaft selbst erklären, ganz nach
dem Schema einer direkten Unterdrückung. Antisemitismus hat außerdem immer einen
eliminatorischen Fluchtpunkt: Antisemit:innen wollen nicht Jüdinnen:Juden „einfach“
unterdrücken oder abschieben, sondern vernichten. Antisemitische Weltbilder haben
die Funktion, dass diejenigen, die sie reproduzieren, sich als Opfer der „übermächtigen
jüdischen Weltherrschaft“ stilisieren können. Das ermöglicht ihnen, sich nicht mit
gesellschaftlichen und eigenen Widersprüchlichkeiten auseinandersetzen zu müssen
und keine Verantwortung für das eigene (politische) Handeln und Denken zu
übernehmen.

Daraus folgt zum einen, dass sich Antisemitismus nicht einfach mit etwas mehr
Aufklärung aus der Welt schaffen ließe. Damit geht einher: Antisemitismus lässt sich
nicht durch ein bestimmtes Handeln der Jüdinnen:Juden auflösen, sondern nur durch
die Überwindung der tiefen gesellschaftlichen Grundlagen des Antisemitismus.
Jüdinnen:Juden steht nur die Möglichkeit offen – und sie sind vor die Notwendigkeit
gesetzt – die Abwehr der Konsequenzen des Antisemitismus zu organisieren oder seine
Folgen hinzunehmen.

Seit der Shoah lässt sich Antisemitismus weniger offen artikulieren. Eine Art und Weise,
antisemitisch agieren zu können, ohne offenen Hass auf Jüdinnen:Juden zu artikulieren,
besteht darin, den Hass auf Israel als jüdischen Nationalstaat – und als eine
Konsequenz aus der Shoah - zu projizieren, der nun für alles Böse verantwortlich ist.

5. Anfälligkeit für Antisemitismus innerhalb der Linken

Eine Anfälligkeit für Formen von Antisemitismus wurzelt auch in spezifischen Merkmalen
und ideologischen Momente einiger linker Strömungen, die wir im folgenden näher
analysieren wollen.

 
5.1 Der autoritäre (Neo-)Leninismus

Einige antisemitische Denkmuster stammen aus einem autoritären (Neo-)Leninismus:
1.) Lenins These des Übergangs vom Konkurrenzkapitalismus zu seinem Begriff von
Imperialismus geht einher mit einer verzerrten Auffassung kapitalistischer Herrschaft. Diese
wird nicht als eine subjektlose Herrschaft aufgefasst, die zwar durch Akteur:innen
reproduziert wird, aber aus dem Prozess fortwährender Kapitalakkumulation besteht und
einen „stummen Zwang“ der ökonomischen Verhältnisse entfaltet. Stattdessen erscheint
sie als direkte und willkürliche Herrschaft der Monopole und eines „parasitären
Finanzkapitals“. Diesem Verständnis wohnen eine Neigung zur Personifizierung von
Herrschaft, eine Anfälligkeit für Verschwörungsdenken und eine Fetischisierung des
„werktätigen Volkes“ inne, die Überschneidungen mit Antisemitismus aufweisen. Zeitweise
wurde ein solcher Antisemitismus von der Sowjetunion und ihren Sympathisant:innen aktiv
betrieben und ansonsten mindestens heruntergespielt.

2.) Statt einer Analyse der globalen kapitalistischen Verhältnisse, Hierarchisierungen, und
kolonialen Kontinuitäten sowie einer Kritik der Form des Nationalstaates, findet eine
vereinfachte Aufteilung der Welt in Unterdrückende und Unterdrückte statt. Damit wird die
„nationale Befreiung“ – als Befreiung durch den Nationalstaat und als Nationalkollektiv –
zum emanzipatorischen Ziel schlechthin gemacht. Diese Auffassung fußt wiederum im
unkritisch positiven Bezug zur Nation, den Stalin und viele realsozialistische Projekte nach
ihm mit der Vorstellung von „Sozialismus in einem Land“ propagierten. Gleichzeitig
werden „unterdrückte Völker“ – auch durch die maoistische Fortbestimmung des Modells –
zum stellvertretenden Subjekt der Revolution gemacht: Palästina wurde als das
unterdrückte Volk schlechthin aufgefasst und der Kampf „für die Befreiung Palästinas“ zum
Symbol und Ersatz aller Befreiungskämpfe. Dabei spielte historisch auch die Außenpolitik
der Sowjetunion eine Rolle, die im Kontext des Kalten Krieges den palästinensischen
Nationalismus gegen das von den USA unterstützte Israel stärkte.

 
3.) Ein weiterer Grund für den positiven Bezug auf Volk und Nation liegt im populistischen
Moment: Wessen Ziel primär die Eroberung staatlicher Macht ist, der muss nicht auf
kollektive Selbstaufklärung und Emanzipation aller Menschen setzen, sondern will vor
allem eine Masse mobilisieren. Wenn der Begriff der Klasse nicht mehr zieht, haben
Leninist:innen deshalb oft kein Problem damit, diese Masse als Volk und Nation zu
adressieren.

4.) Das Ziel der Machtergreifung führt auch zur Tendenz, falsche Mittel zu rechtfertigen.
Das kann dann auch islamistischer Terror sein. Die Konzentration auf den Kampf gegen
„Imperialisten“ führt zu Allianzen mit explizit regressiven Kräften wie beispielsweise IslamistInnen.

 
5.2 Die postmoderne Identitätspolitik

Eine zweite Quelle der Anfälligkeit stammt aus einigen Spielarten eines
identitätsfokussierten Aktivismus postmoderner Prägung. Solche Positionen sind in einigen
queerfeministischen und antirassistischen Kreisen, aber auch in Teilen der Klimabewegung
vertreten. Sie verbinden sich damit mit entscheidenden progressiven Kämpfen der
Gegenwart. Hier wirken die Ablehnung einer Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse in
ihrer Totalität mit einer exklusiven Fokussierung auf Betroffenheitserfahrung, Sprechorte
und Identitäten zusammen.

1.) Die Unmöglichkeit der Repräsentation der eigenen Leid- und Diskriminierungserfahrung
durch Andere wird zum alleinigen Ausgangspunkt der Kritik erklärt. Nur wer von einer
Unterdrückungsform betroffen ist, kann die Wahrheit darüber sprechen. Dessen
Perspektive ist unmittelbar normativ und es braucht keine weitere Kritik der Verhältnisse
und keinen Streit um Begriffe und Analysen. Dabei wird übersehen, dass jede Artikulation
einer Erfahrung bereits durch Theorien und Begriffe vermittelt ist und dass gerade in
diesen Strömungen häufig schablonenhaftes Denken reproduziert wird. Um die eigene
Leid- und Unterdrückungserfahrung zu artikulieren, muss man sich wiederum zu einer
bestimmten Identität bekennen und sich als Teil eines Kollektivs verstehen. Die reine
Fokussierung auf eigene Identitätskonstruktionen und vermeintliche Fremdzuschreibungen
und die damit einhergehende reine Argumentation auf die vermeintliche eigene
Betroffenheit(en) verhindert nicht nur eine materialistische Kritik an den Ursprüngen von
Rassismus, Antisemitismus und Antifeminismus, sondern auch auch einen Diskurs, der über
den eigenen Erfahrungs- und Emotionshorizont hinaus geht. Auffällig ist wiederum dabei,
dass die Erfahrungen von Jüdinnen:Juden mit einer gewissen Konsequenz ausgeblendet
werden. Insbesondere für sich als links verstehende Jüdinnen:Juden war die ausbleibende
Solidarität, das Schweigen zu den Massakern der Hamas bis hin zu offenen Ausschlüssen
aus queeren und antirassistischen Räumen ein Moment der Entsolidarisierung vermeintlich
Verbündeter.

 
2.) Statt einer Kritik der herrschaftsgeladenen, gesellschaftlichen Vermittlung einer in sich
widersprüchlichen Totalität, die sich über Antagonismen konstituiert und Zwangskollektive
hervorbringt, wird sich an „Strukturen“ abgearbeitet, die vermeintlich authentische
Identitäten überlagern würden. Dem entspricht oft ein machtanalytischer Ansatz, in dem
die Konsequenz zur Ursache gemacht wird: Gewiss führt die gegebene
Vergesellschaftung dazu, dass Gruppen aufgrund ihrer unterschiedlichen
gesellschaftlichen Verortung über mehr Macht und damit verbundene Privilegien verfügen.
Ausgeblendet werden aber sowohl die Verhältnisse, die Ursache dieses Machtgefälles
sind, als auch die Tatsache, dass die grundlegende Form von Herrschaft eben die der
Verhältnisse selbst ist. Dies führt auch zur falschen Annahme, dass Herrschaft bloß als
binäres und lineares Machtverhältnis zu verstehen sei, als direkte Unterdrückung einer
Gruppe durch eine andere mächtigere Gruppe und ausschließlich als binärer Kampf der
Unterdrückten gegen das genau identifizierbare Unterdrückende.

Daraus folgt ein klare Aufteilung der Welt in Unterdrückte und Unterdrücker, ähnlich wie
im (Neo-)Leninismus. Anstelle einer Analyse von (Neo-)Kolonialismus, Imperialismus und
Hierarchisierungen auf dem Weltmarkt tritt eine schlichte Einteilung in den bösen
Globalen Norden und den guten, weil unterdrückten, Globalen Süden. Widersprüche
und Konflikte innerhalb der Länder und Regionen des Globalen Südens finden wenig
Berücksichtigung. Antisemitismus wird oft komplett ausgeklammert, jüdische Menschen
gelten, solange sie helle Haut haben, schlichtweg als Weiße, und damit als
Profiteur:innen des Rassismus. Damit wird zum einen geleugnet, dass alle
Jüdinnen:Juden ebenfalls als „Andere“ rassifiziert werden. Zum anderen übersieht es die
geographisch diversen Ursprünge des Judentums und die Tatsache, dass viele
Jüdinnen:Juden zugleich zusätzlich auch von Rassismen betroffen sein können.
Antisemitismus kann gerade deshalb nicht begriffen werden, da es sich nicht als lineare
Unterdrückung auffassen lässt, sondern Folge der in sich widersprüchlich vermittelten
Herrschaftsverhältnisse und der Unfähigkeit, diese zu begreifen, ist.

Wenn nun von Rassismus Betroffene äußern, dass das Massaker der Hamas ein
antikolonialer Befreiungsschlag war, dann muss und darf das nach dieser postmodernidentitätspolitischen Logik nicht hinterfragt werden. Dass aus feministischer und
antisemitismuskritischer Sicht die Opfer des Massakers Solidarität und Emphatie
verdienen würden, wird ausgeklammert, weil sie Israelis sind und Israel in dieser binären
Logik nur als weißer, kolonialer Staat und Teil des Globalen Nordens betrachtet wird.
Mit dieser linearen Auffassung von Unterdrückung geht wiederum ein positiver Bezug
auf die Zwangskollektive einher, die diese Herrschaftverhältnisse hervorbringen, es
kommt damit auch zur Affirmation regressiver Ideologien und Gruppierungen, wenn
diese von Subalternen getragen werden.

3.) Unterdrückungsformen werden dabei als formal analog aufgefasst und bestehen
nebeneinander - eine Gruppe mit Macht unterdrückt eine Gruppe ohne Macht. Damit
bleibt das jeweilig spezifische unterbelichtet,was insbesondere im Fall von
Antisemitismus auffällig ist. Anderseits wird ihr reales und differenziertes
Zusammenwirken innerhalb der gegebenen Herrschaftsverhältnisse nicht begriffen. Der
Versuch, irgendwie Rechenschaft dafür zu tragen, vollzieht sich dann häufig als eine
Aneinanderreihung innerhalb von Solidaritätsbekundungen: Jede Kundgebung muss alle
weiteren Unterdrückungsformen erwähnen. Wenn aber alle Unterdrückungsformen
analog sind, liegt es nahe, nach einem Grundmodell und einer alles
zusammenfassenden Unterdrückungsform zu suchen: Dazu wird gerne (ohne realen
Grund) die „palästinensische Sache“ gemacht. In der „Solidarität mit Palästina“ wird
jede andere Solidarität mitvertreten: Jede Kundgebung muss also eine „free Palestine“
Kundgebung sein.

4.) Gerade weil die Kritik der realen Verhältnisse verpasst wird, vollzieht sich Aktivismus
dabei oft als Bekundung der eigenen guten Gesinnung, als Bekenntnis der
Zugehörigkeit zur Gruppe der Guten und als selbstreferentieller Gestus der
vermeintlichen Auflehnung und Radikalität. Reflexion und Kritik werden durch
Mobilisierung ersetzt, die hauptsächlich eine Identität verschaffen soll. Diese Form
vermeintlicher Solidarität mit Palästina hat kaum etwas mit einem realen Interesse an
der Lage von Palästinenser:innen zu tun. Sie wird allzu oft Identitätsfaktor,
Wiederkennungsmerkmal, Ersatzkampf, Marker der eigenen Radikalität, wird zum
kollektiven Ritual und wird auch als solches abgerufen. Diese Selbstmobilisierung kann
antisemitisch verstärkt werden.

Als sich als emanzipatorisch verstehende Kommunist:innen wissen wir, dass die
Befreiung der Gesellschaft nur mit der Befreiung des Subjekts einhergeht, das bedeutet
aber auch, dass es nicht „gut“ oder „böse“ gibt, sondern wir Widersprüche und
Ambivalenzen in der Welt um uns herum und in uns aushalten müssen. Es bedeutet auch
ernstzunehmen, dass in allen Schichten der Bevölkerung, inklusive der Linken, Ideologien
entstehen, also falsche Vorstellungen über die Welt. Ideologien entspringen den
Strukturen, die die Menschen vorfinden und festigen diese wiederum. Ideologiekritik,
inklusive einer Kritik des Nationalismus und des Antisemitismus muss deshalb Bestandteil
emanzipatorischer Praxis sein.

 

6. Leerstelle Islamismus

Wo Ideologiekritik höchstens nebensächlich ist, entsteht auch innerhalb der Linken
bisweilen die Bereitschaft, die Hamas als irgendwie „objektiv emanzipatorisch“ zu
betrachten. Das hat auch mit der Leerstelle Islamismus innerhalb linker Kritik zu tun. Als
islamistische Organisation strebt die Hamas die Vernichtung aller Jüdinnen:Juden und
die Errichtung eines Gottesstaats an. Ihr religiöser Fundamentalismus geht auch mit
einem extrem patriarchalen Geschlechterbild und der Unterdrückung von Frauen und
Queers einher. Sie schert sich nicht um das Leben, auch nicht um das von
Palästinenser:innen, von denen sie die Bereitschaft zum Selbstopfer verlangt – und
diese in deren Missbrauch als menschliche Schutzschilder bereits voraussetzt. Ihr
Programm steht damit jeglichem Streben nach menschlicher Emanzipation fundamental entgegen.

 
Der Islamismus ist, ähnlich wie Faschismus und Rechtspopulismus, eine moderne
Krisenreaktion. Anstatt die Zerwürfnisse des Kapitalismus zu analysieren und diese
Verhältnisse aufzuheben, wird Halt und Heil in imaginierten Gemeinschaften wie Volk,
Nation oder eben Umma (der Gemeinschaft der gläubigen Muslim:innen) gesucht,
einhergehend mit Abschottung bis Vernichtung gegen alles, was dort jeweils nicht
hinein gehört – oder sich nicht unterordnet. Wie auch der Faschismus versucht der
Islamismus mit mörderischer Konsequenz sein politisches Programm und seine
Vorstellung von Gesellschaft durchzusetzen. Deshalb müssen für den Islamismus auch
politische und religiöse Macht in einer Hand liegen.

Seine Attraktivität resultiert vielleicht deshalb auch genau daraus: Nicht nur zu
quatschen, sondern mit selbstmörderischem Einsatz alles daran zu setzen, den
Vorstellungen der höheren Macht zu entsprechen. Damit stellt der Islamismus in vielen
Weltregionen einen Hauptfeind linker emanzipatorischer Bestrebungen dar. Daher
sollten wir als Kommunist:innen das Problem Islamismus weder abtun, noch mit den
Nationalist:innen in ein Horn stoßen, indem sie „den Islam“ zum Feind erklären.

 

7. Keine falschen Einseitigkeiten

Um nach der vorhergegangenen Kritik an Formen des „Pro-Palästina“-Aktivismus weiter
Teile der Linken eines deutlich zu machen:Es versteht sich von selbst, dass auch mit
einigen abgedrifteten Antideutschen kein Stich zu machen ist, die die gesamte
Bevölkerung von Gaza entmenschlichen, denen die Lage und die Zukunft der der
Palästinenser:innen egal sind, die nicht die eigene Tragik und spezifische
Kritikwürdigkeit der militärischen Handlungen der israelischen Armee erkennen, sondern
in Kriegsbegeisterung ausbrechen. Die kein Problem damit haben, dass zehntausende
Zivilist:innen getötet wurden, Millionen Menschen ihre Wohnungen verloren haben und
fliehen mussten, dass ein Großteil der Gebäude und Infrastruktur in Gaza zerstört
wurden. Die keine Kritik für die rechte israelische Regierung und die eigenen
Machtinteressen Netanyahus übrig haben. Der Begriff der Antideutschen wird zwar in
innerlinken Debatten inflationär und oft falsch benutzt, um jegliche Antisemitismuskritik
abzuwehren. In der realen Strömung der Antideutschen finden sich bisweilen aber
einige kritikwürdige Positionen, die oftmals mit antimuslimischem Rassismus einhergehen
und sich weit jeder vernünftigen Ideologiekritik entfernt haben. Um der Komplexität der
aktuellen Situation gerecht zu werden, müssen auch solche Auswüchse kritisiert werden.
Das bedeutet auch, das Leid der Bevölkerung von Gaza anzuerkennen, auf das wir mit
großer Sorge schauen. Zehntausende Menschen wurden im Zuge der Operationen des
israelischen Militärs getötet. Auch wenn ein gewisser Teil davon Kombattanten der
Hamas und anderer Organisationen sind ist die Zahl an zivilen Toten enorm. Die
humanitäre Lage ist aufgrund der Versorgungsknappheit, der durch die Zerstörung von
Gebäuden und Zwangsevakuierungen erzeugte Wohnungslosigkeit und der
medizinischen Krise katastrophal. Hunderttausende Menschen mussten ihre Wohnungen
verlassen, während so gut wie kein Bereich in Gaza sicher genannt werden kann. Wer
anführt, die Hamas und ihre Ideologie ließen sich durch Beschwichtigung nicht
besiegen, steht trotzdessen vor der Frage ob die aktuelle Kriegsführung dazu geeignet
ist.

 
1 Es ist schwierig, genaue Zahlen zu benennen. Zum einen weil der Krieg täglich weiter geht
und neue Opfer fordert, weshalb eine Nennung der Zahlen schon schnell wieder nicht aktuell
wäre. Zum anderen aber auch, weil die verfügbaren Zahlen von der Hamas stammen und
schwer überprüfbar sind.

Eine emanzipatorische Kritik blickt wiederum mit großer Sorge auf die Entwicklungen in
der israelischen Politik. Die rechtsextremen Teile der Regierung verfolgen auch eine
explizit anti- arabisch-rassistische Politik, die das Sicherheitsbedürfnis der israelischen
Bevölkerung instrumentalisiert und Eskalationen hervorruft. Auch das Leben der noch in
Gaza festgehaltenen Geiseln setzt diese Politik mit ihrer Kriegsführung aufs Spiel.
Netanyahus Politik ist häufig von einem Handeln zugunsten seiner eigenen
Machterhaltungsinteressen bestimmt, wofür er mit den Rechtsextremen und den
gewalttätigen Teilen der Siedler:innen in der Westbank paktiert. All dies wird immer
wieder innerhalb der israelischen Gesellschaft thematisiert, wie etwa die Proteste der
Angehörigen der Geiseln zeigen, die eben auch Austragungsorte der Kritik an ihrer
Regierung sind.

 

8. Zur Kritik der staatlichen Antisemitismusbekämpfung

Unsere Kritik gilt auch Aspekten der Antisemitismusbekämpfung und Israelsolidarität
durch staatliche Organe und Teile der Mehrheitsgesellschaft, die mitunter voller
Instrumentalisierungen bis hin zu offenem Rassismus sind. Antisemitismuskritik wird zur
Zeit häufig nicht zur realen Bekämpfung von Antisemitismus abgerufen, sondern stellt
selbst ein kollektives Ritual der geläuterten Deutschen und als Selbstvergewisserung
bürgerlich-liberaler Ideologie dar. Dabei lassen sich mehrere problematische Aspekte
beobachten. Nicht alle Bemühungen gegen Antisemitismus fallen unter diese Kritik. Dies
zu behaupten, würde sämtliche Reflexionen von NS-Vergangenheit und ihren
Kontinuitäten, die dieser Gesellschaft maßgeblich von Jüdinnen*Juden und Linken
abverlangt wurden, vom Tisch wischen.

 

1.) Die Reaktionen von deutscher Mehrheitsgesellschaft und Staatsapparaten belaufen
sich auf öffentlichkeitswirksam inszenierte Gegnerschaft zum Antisemitismus - ihr bleibt
weiterhin das Schicksal lebendiger Jüdinnen:Juden gleichgültig. Das zeigen nicht nur die
enorm gestiegen Zahlen antisemitischer Gewalt der letzten Monate. Der selbsternannte
Aufarbeitungsweltmeister weiß, dass es tunlichst auf Distanz zur allzu offenen
Judenfeindschaft zu gehen gilt, ohne aber einen genaueren Begriff des Antisemitismus
zu haben. Das resultiert in Symbolpolitik, deren Folgenlosigkeit für die Bekämpfung von
Antisemitismus mit ihrer tatsächlichen Brisanz in anderen Bereichen korrespondiert.
Am Beispiel der Verbote vermeintlicher bzw. tatsächlicher antisemitischer Demos lässt
sich gut nachzeichnen, wie wenig es diese Mobilmachungen schwächt und welch hoher
Preis, nämlich die Außerkraftsetzung der von diesem Staat so hochgehaltenen
Grundrechte, dafür in Kauf genommen wird. Dieser Umgang weiß gegen Antisemitismus
wenig auszurichten, wohl aber dient er dazu, staatliche Handlungsfähigkeit zu
demonstrieren. Das derartige Repression niemals gegen rechte Antisemit:innen ins Feld
gebracht wird, ist ebenso eine unschöne Binsenweisheit wie der Umstand, dass es hierbei
überwiegend migrantisierte Menschen sind, die von solchen Maßnahmen betroffen sind.
Rassistische Polizeigewalt und Racial Profiling ist beispielsweise seit dem 7. Oktober
angestiegen.

 
Rassistische Ressentiments und Praktiken manifestieren sich nicht erst seit dem
Massaker der Hamas, dieses wird aber als Begründung dazu genutzt, insbesondere
muslimische oder als muslimisch gelesene Menschen in Geiselhaft für die Gräueltaten
der Hamas zu nehmen, was häufig auch Kinder und Jugendliche im Schulunterricht
trifft. In diesem Kontext geschehen zudem Asylrechtsverschärfungen, die Verstärkung
der Abschiebepraxis und die Einschränkung von Grundrechten.
Antisemitismusbekämpfung wird von staatlicher Seite dazu genutzt, rassistische
Praktiken zu manifestieren. Einem Ausspielen von Antisemitismus und Rassismus
gegeneinander stellen wir uns klar entgegen.

 

2.) Zum Teil wird diese Form von (vermeintlicher) Antisemitismusbekämpfung als
Entlastungs- und Externalisierungsstrategie durchgeführt. Die proklamierte
Gegnerschaft zum Antisemitismus wird vollends bigott angesichts des Versuchs seiner
Auslagerung als migrantisches Importprodukt. Ohne Frage: es gibt spezifische Formen
des Antisemitismus. Es ist eine falsch verstandene Form antirassistischer Vorsicht,
diese nicht zu benennen. Die Externalisierung des Antisemitismus ist jedoch ein
Ausdruck deutscher Schuldabwehr. Sie dient dann vor allem dem Zweck, nicht mehr
den Antisemitismus der eigenen (Ur-)Großeltern, sein Nachwirken in der deutschen
Nachfolgegesellschaft und das antisemitische Potential bürgerlicher Verhältnisse zu
behandeln. Der doppelt perfide Kniff ist, dass das durch die selbstattestierte
Läuterung zu moralischen Höhenflügen berufene Deutschland zusätzlich nicht selten
noch seine rassistischen Bedürfnisse auslebt und dabei vor allem muslimische
Menschen als die eigentlichen Übeltäter:innen zeichnet. Sinnbildlich für die
rassistischen Doppelstandards bzgl. Antisemitismus ist z.B. die andere Behandlung des
bayerischen „Menschenfreunds“ Hubert Aiwanger, dessen Flugblattaffäre ihn sogar als
gestärkter Politiker hervorgehen ließ. Jedoch trifft auch genau dieser
Schuldabwehrantisemitismus auf deutsche nicht-migrantische und nicht-jüdische Linke
zu, die sich als „moralisch überlegen“ und „gute Antifaschist:innen“ begreifen; sich
dabei die Involviertheiten der eigenen Familie in die NS-Verbrechen und eigene
Täter:innenpotenziale einzugestehen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, ist ein
schmerzhafter Lern- und Reflexionsprozess.

 

3.) Wenn sich die bürgerliche Mitte als Chef-Kritikerin des Antisemitismus inszeniert,
geht es um mehr als das bloße Bedürfnis, schlussendlich auf der moralisch korrekten,
guten Seite angekommen zu sein. Zum einen wird der bürgerliche Staat und die
bürgerliche Mitte von Antisemitismus freigesprochen und Antisemitismus
extremismustheoretisch zu einem Problem der „Extremen“ gemacht. So wird im
gleichen Zug die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft und ihre politische Form als
wichtige Quelle von Antisemitismus verdrängt. Stattdessen wird recht plump gegen
Linke vorgegangen und auf der eingeübten Klaviatur des antimuslimischen Rassismus
gehämmert, in der muslimische Menschen als rückständig und unaufgeklärt,
tendenziell gewalttätig und zu radikalen Ansichten neigend gezeichnet werden.

Noch perfider ist der Versuch, ein Doppelpaket zwischen Antisemitismusbekämpfung
und der gegenwärtigen rassistischen Abschiebe- und Abschottungspolitik und der sie
begleitenden rassistischen Töne im öffentlichen Diskurs zu etablieren. Ganze
Communities und Kieze werden kriminalisiert und einige reale Bedrohungssituationen
für Jüdinnen:Juden für autoritäre Law and Order Politik genutzt. Das wird
insbesondere an (vermeintlichen) Palästinenser:innen durchexerziert: Eine
vorgebliche Kritik des Antisemitismus wird hier vorgeschoben, um gegen alle
Palästinenser:innen zu pauschalisieren – welche es wiederum oftmals als Staatenlose
besonders schwer unter dem Zugriff deutscher Migrationsbehörden haben.
Antisemitismus und Rassismus sind in ihrer Funktionsweise unterschiedlich, haben aber
konkrete (gewaltförmige) Auswirkungen auf die Lebensrealitäten von Betroffenen.
Antisemitismus und Rassismus, wie aktuell häufig passiert, gegeneinander
auszuspielen oder eine Hierarchisierung des Leides der Betroffenen aufzumachen,
steht jeglicher solidarischen Praxis und materialistischen Kritik entgegen.
Zusammenfassend: Zu oft wird Antisemitismusbekämpfung für eine politische und
diskursive Agenda instrumentalisiert. Das geläuterte Deutschland hat die
nationalsozialistische Vergangenheit bewältigt, fühlt sich als
Aufarbeitungsweltmeister. Jetzt kann man sich dem Antisemitismus der anderen
widmen. Deshalb kann man jetzt getrost als Deutsche auch wieder wer sein in der
Welt. Deshalb ist man als bürgerlicher Staat die Spitze der Zivilisation. Eine
antinationale Staatskritik muss auch und gerade diesen nationalen Konsens in
Deutschland und die Normalität bürgerlicher Verhältnisse angreifen.

 

9. Abschluss

Gegen die antisemitische Entmenschlichung von Jüdinnen:Juden wie auch gegen die
rassistische Entmenschlichung von Palästinenser:innen und den falschen Widerspruch
des Kampfs gegen Antisemitismus und gegen Rassismus treten wir ein für eine Linke
mit dem Ziel universeller Befreiung. Für uns wäre das ein Zustand, in dem man ohne
Angst verschieden sein kann. Wir plädieren also für eine ideologiekritische,
antinationale und antiautoritäre Linke. Wir müssen als Linke und Kommunist:innen
ernstnehmen, dass sich in dieser Gesellschaft in allen Teilen der Bevölkerung, auch
innerhalb der Linken, autoritäre Ideologien herausbilden, die Emanzipation
entgegenstehen. Diese zu kritisieren und eine Praxis zu entwickeln, in der diese
Ideologien sich auflösen können, durch die Perspektive einer vernünftig
eingerichteten Gesellschaft, in der alle gut leben können, einem antiautoritären
Kommunismus, muss Aufgabe einer radikalen Linken sein.

Dabei gilt es auch, Antisemitismus in seiner Besonderheit anzuerkennen als Ideologie, die
auf Vernichtung von Jüdinnen:Juden zielt – gerade weil Antisemitismus oft unerkannt
bleibt und sich gerne antikapitalistisch und rebellisch gibt. Das Ziel bleibt die Aufhebung
von Kapitalverwertung und Nationalstaaten in einer kommunistischen Weltgesellschaft,
die keine menschenfeindlichen Ideologien wie Antisemitismus mehr hervorbringt und die
eine Assoziation von Menschen auf freier und bewusster Basis, sowie von
Zwangssubjektivierungen befreite Identitätsbestimmungen, ermöglicht.

 

In diesem Sinne: Wir bleiben unversöhnlich.
Für eine antinationale, ideologiekritische und antiautoritäre Linke!
Gegen jeden Antisemitismus, für den Kommunismus.

 

Verfasst von:
Basisgruppe Antifaschismus Bremen, Eklat_MS, URA-Dresden, Antifa_nt München, Kritik&Praxis FFM, Redical [M] Göttingen, CAT Marburg, In/Progress Braunschweig
Wir freuen uns auf konstruktive Fragen, Anmerkungen und Debattenbeiträge. Schreibt uns eine Mail an: info.antisemitismustext@systemli.org

 

 

 

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Creative Commons by-sa: Weitergabe unter gleichen Bedingungen

Ergänzungen

Es ist immer wieder erstaunlich, dass deutsche Linke einen Text zum Nahostkonflikt schreiben und nicht mal den Zionismus erwähnen, dies ist jedoch in seiner aktuellen Form und Herrschaft eliminatorisch, also negiert die Palästinenser:innen. Da habt ihr ein blinden Fleck und dies macht eure ganze Erklärung einseitig. 

Wer in diesem Konflikt, in dem Israel knapp 8 % der Bevölkerung in Gaza ermordet oder verletzt hat immer noch zu diesem Staat hält, kann sich vielleicht Kommunist:in nennen, aber schlägt sich auf die Seite von Kriegsverbrechen. 

 

Ums ganze für Kriegsverbrechen

Ich finde der Artikel benennt gut mehrere Schlüsselprobleme (Einteilung in guter Nationalismus der unterdrückten Völker und schlechter Nationalismus der unterdrückende Völker, was ist ein untrdrücktes Volk, was bedeutet Selbstbestimmungsrecht der Völker, ist indigener Widerstand wie zB in den USA nichts als "völkisch", wie geht ein sinnvoller antikolonialer Kampf), auf die ein Mensch notwendigerweise stößt beim Lesen von linken Analysen. Ich wünschte übrigens ich könnte mehr hilfreiches dazu finden. 

Ergänzend fallen mir 2 linke Leerstellen auf:
- Die Beschäftigung mit dem Terrorismus-Begriff.
- Die Beschäftigung mit der Situation in Palästina und Israel. Klingt jetzt komisch, immerhin reden linke doch viel zu viel darüber und viel mehr als im Vergleich zu anderen Konflikten. Geredet wird aber darüber, wie geredet werden darf. Welche Begriffe ok sind. Und sehr wenig darüber, was denn die Probleme vor Ort sind und waren. Viele Gespräche die rund um Begriffe wie Siedlerkolonialismus oder Rassismus oder die aktuelle Ein-Staaten-Lösung und wie diese seit Jahrzehnten aufrechterhalten wird (sogenannte "Apartheid" Warnungen oder Analysen) zeichnen sich dadurch aus, dass debatiert wird, wie darüber geredet werden darf oder sogar ob. Ist es dämonisierend? Deligimisierend? Und so weiter. Grundlegende Informationen wie zB das Besiedlungsprogramm Westjordanland oder die Kontrolle über Gaza oder das Militärrecht oder das Gefängnissystem oder die Wasserverteilung oder was die Hamas überhaupt ist und wie sie an die Macht kam fehlen da oft. Dabei gibt es sogar aus Israel heraus noch kleine linke Inseln, die dazu arbeiten, Btselem oder Breaking the Silence um die bekanntesten zu nennen. Linke jüdische Israelis die auswandern und aus Deutschland heraus versuchen zu arbeiten werden oft Repressionen unterzogen. Da wird dann nicht mal "Rassismus gegen Antisemitismus" gegeneinander ausgespielt sondern schlicht Antisemitismus angewendet um gegen Staatsfeinde auch von befreundeten Staaten anzugehen vermeintlich im Namen von Antisemitismus.