Zum schlechten Zustand der Welt (Teil 1)

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# Einleitung

Krieg. Klimawandel. Faschisierung. Flucht. Hunger. Inflation. Armut. Wir erleben eine Phase, in der die Sicherheit der globalisierten Welt vollends zu erodieren scheint. Vor zehn Jahren dachten nur wenige daran, dass die Welt auf einen Abgrund zutaumelt. Jene, die schon damals darauf hinwiesen, wurden als Alarmist:innen abgetan, die in ihrem Denken die Entwicklungen auf eine übertriebene Weise zuspitzen. Und heute? Das Wissen und das Bewusstsein für die Lage der Welt ist keine Spezialität jener Kritiker:innen mehr. Alle können sehen, dass die Menschheit sich in einer desolaten Lage befindet.
An Versuchen den Problemen zu begegnen, sind diejenigen, die sie verursachen, nicht arm, nur gelingen will es nicht. Die Probleme verschlimmern sich sogar kontinuierlich, allen Anstrengungen der „Weltgemeinschaft“ zum Trotz. Es fällt schwer, die Vielzahl destruktiver Entwicklungen in der Welt zusammenzufassen oder sie irgendwie erfassbar darzustellen. In Anbetracht dieser Schwierigkeit werden nur noch einzelne konkrete Probleme oder ganz allgemein das abstrakte Schlechte – die „Gesamtscheiße“ – kritisiert. Als radikale Linke müssen wir uns mit der „Gesamtscheiße“ beschäftigen, aber nicht als dem abstrakt Schlechten sondern als konkretem Zusammenhang der vielfältigen Probleme. Bloß wie? Es scheint, als wären die Menschen dieser Lage hilflos ausgeliefert. Als wären sie die Objekte der geschichtlichen Bewegung, die bloß noch das Material einer Maschine sind, die den Tod produziert. Eine Veränderung der Welt kann aber von den Objekten der Geschichte nicht kommen. Wenn aber eine Verbesserung der Lage der Menschen gegenwärtig nicht möglich ist, dann muss sich etwas ändern. Die Menschen müssen in die Lage kommen, Einfluss auf das zu nehmen, was passiert. Sie müssen zu Subjekten der Geschichte werden. Das haben doch alle, die die Revolution im Herzen tragen, wohl schon einmal vernommen: Die Subjekte der Geschichte bringen die Veränderung zum Guten ins Rollen. Wo aber beginnt diese Bewegung und wer sind die Subjekte?

 

# Das Subjekt der Geschichte I

In der radikalen Linken haben sich im Wesentlichen drei unterschiedliche Gewohnheiten herausgebildet das Subjekt der Geschichte zu bestimmen. Für die einen ist es ganz klassisch das Proletariat. Dass es das Proletariat noch gibt, wurde häufig bestritten. Aber es existiert natürlich noch immer. Es ist die Klasse derer, die nur durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft ihr Leben bestreiten können. Und die es nur auf diese Weise können, weil sie nicht über die Produktionsmittel verfügen. Das Proletariat besteht also nach wie vor, aber Anzeichen dafür, dass das Proletariat immer noch das Subjekt der Geschichte wäre, gibt es keine und zwar nirgendwo. In Ermangelung besserer Alternativen taugt es aber immer noch als Projektionsfläche für die Hoffnung auf eine Revolution.  Damit es als Projektionsfläche taugt, wird dem Proletariat diejenige Gestalt gegeben, die es zu den Zeiten hatte, als es tatsächlich noch in der Lage gewesen sein mag, eine gesellschaftliche Veränderung voranzubringen, ohne dies jedoch letztlich – in einer dauerhaften und grundlegenden Weise –  verwirklichen zu können. Damit es passt, wird auch der wirkmächtigste Versuch, die Sowjetunion, in einen reinen Erfolg umgedeutet. Das reale Elend der Sowjetunion wird einfach zur antikommunistischen Propaganda erklärt und fertig ist die Soße, aus der sich heute  Kraft schöpfen lässt. In der Hoffnung, dass wenn man nur die alten Wunderformeln in ein ganz marginal neues Gewand kleidet, die alte Arbeitermacht zurückkehren wird.

Andere geben sich weniger mit objektiven oder inhaltlichen Bestimmungen ab. Sie schauen einfach, wo es große Menschenmassen gibt, die Steine auf Polizei, Militär und Einrichtungen des Staates schmeißen. Je heftiger die Ausschreitungen, desto leichter fällt es, den aktiven Massen eine progressive Haltung unterzuschieben. Es reicht, wenn ein paar linke Sprayer:innen im Kontext welchen Riots auch immer ein Anarchie-A an die Wand sprühen, um von der Politisierung der Massen im Augenblick des Aufstandes zu fantasieren. Reale Motive sind gleichgültig, so lange es gegen die Macht und die Herrschenden geht. Das falsche Weltsystem wird fallen, wenn dessen Profiteur:innen, Verteidiger:innen und Unterstützer:innen fallen, und damit sie fallen, muss man sie zu Fall bringen. Wer ihnen dazu letztlich ein Bein stellt, ist egal. Alles muss in Trümmer gehen; aus den Trümmern der alten Gesellschaft entsteht dann wie durch ein Wunder eine neue, besser verfasste Gesellschaft. Basis für dieses Wunder soll dann sein, dass durch die Gleichheit aller im Kampf gegen die Polizei und die Herrschenden, durch die Notwendigkeit, sich zur Masse zusammenzuschließen, um die Herrschaft zu überwinden, eine Erfahrung gemacht wird, die alles überstrahlt, was die Menschen bisher geprägt haben mag. Sind die Fesseln der Knechtschaft erst einmal abgeworfen, werden die Menschen wie von selbst ein Leben führen, wie sie es führen wollen und das wird dann zugleich das Leben werden, was sie führen sollen. Führen sollen sie es und führen wollen sie es einfach aus dem Grund: weil es gut ist.

Den Erfolg der Geknechteten bei der Verbesserung der Welt gibt es auch noch in einer weiteren Variante, die weniger vom Krawall geprägt ist. Hier geht es mehr um Kooperation der Menschen der „westlichen“ Machtzentren, die die Qualität entfaltet haben ein offenes Ohr für die Geknechteten jedweder Couleur zu haben – mit den Menschen des „globalen Südens“. Durch Zuhören, durch das Aufmachen von Sprechräumen, durch den Wandel im Gerede und in der allgemeinen bedeutungsschwangeren Rücksichtnahme werden die herrschenden Eliten entmachtet. Nicht durch Krawall, sondern in dem ihnen ihre Macht im Wortsinne „abgesprochen“ wird. Sobald einfach genug Menschen sagen, dass diese:r oder jene:r keine Macht mehr hat, verschwindet sie. Sie geht dann erst einmal auf die in irgendeiner Weise zuvor Geknechteten über. Weil sie zuvor aus dem Diskurs ausgeschlossen waren, dürfen sie ihn nun bestimmen und die Knechter hören zu. Und auch hier erfolgt irgendein Wunder, denn am Ende ist die Macht dann verschwunden. Sie verflüchtigt sich: Dadurch, dass die Stellung der Macht im Diskurs erkannt, angesprochen und negiert wird, dadurch, dass sie zu den zuvor Machtlosen herüberwandern darf, dadurch verliert sie einfach ihre Bedeutung.

Es ist insgesamt die Hoffnung der radikalen Linken geworden, dass die revolutionäre Umwandlung durch irgendwelche geknechteten Leute gemacht wird. Diese werden durch ihr Elend stimuliert, eine gerechte Welt zu erschaffen. Und dies tun sie dann durch Revolution, Krawall oder Diskursverschiebung. Und wenn keines davon für sich alleine taugt, wird es der Mix richten, weil an allem irgendetwas dran ist.
Klassenlage, Wut und/oder Sensibilität sollen Voraussetzung für die Veränderung der Welt sein. Was in dieser Vorstellung jedenfalls nicht Voraussetzung ist, ist dass irgendjemand einen neuen Einblick in die Verhältnisse der Welt erlangt, dass es noch etwas Neues zu verstehen gäbe. Es geht nur noch darum, die eigene Einsicht massenhaft zu verbreiten und dann wird die Sache laufen. Und weil nicht alle die gleiche Auffassung vertreten, müssen die politischen Strömungen sich auf der einen Seite die ganze Zeit behaken und auf der anderen Seite, weil sie im Grunde völlig marginal sind, dauernd irgendwelche Bündnisse schließen. Das führt jedenfalls zu einer Menge an Aktivität und das kann einen dann darüber hinwegtäuschen, dass man weder etwas Wesentliches macht, noch nennenswerten Einfluss auf die Verhältnisse und ihren Lauf hat. Zumindest keinen, der tatsächlich ein Fortschritt ist, der nicht um den Preis eines Rückschritts erkauft ist. Wer so handelt, ist jedenfalls nicht das ersehnte Subjekt der Geschichte. Und diejenigen, die da als Hoffnungsträger:innen herbeigerufen und gewünscht werden, sind es auch nicht.

# Das Subjekt der Geschichte II

Wenn es allerdings schon Probleme bereitet, überhaupt zu bestimmen, wer das Subjekt der Geschichte ist, so lässt sich doch vielleicht eher bestimmen, welche Voraussetzungen das Subjekt der Geschichte besitzen muss. Und eine erste Voraussetzung dafür ist, dass man sich mit der Welt, so wie sie ist, auseinandersetzen kann. Dies mag leicht klingen, ist aber schwer einzulösen, denn die Welt ist ja gar nicht leichterdings zu erfassen. Und das selbst ist merkwürdig, weil ja auf der anderen Seite das Wissen über die Welt immer größer wird.

Jedoch wird nur ein Teil des Wissens immer größer, da es um einen Wissensbereich geht, in dem der Gegenstand des Wissens eine leicht zugängliche Form hat, wie etwa in den Naturwissenschaften. Seit es Menschen gibt, hat ein Prozess der Naturbeherrschung eingesetzt, welcher den Menschen dazu befähigte, die Natur in Teilen unter seine Kontrolle zu bringen. Zu Anfang mit ganz ungeeigneten Ansätzen, wie etwa einem Tanz für den Wettergott, bis hin zu sehr tauglichen Methoden der Technik, wie wir sie heute kennen. Auf der anderen Seite ist aber in diesem Prozess eine andere Struktur angewachsen, ohne den Umstand, dass das relevante Wissen über diese Struktur sich ausreichend vermehrt hätte, und zwar die Gesellschaft. Es gibt zwar etliche Gesellschaftstheorien, aber sie sind nur sehr bedingt tauglich, die bestehende Gesellschaft tatsächlich zu erklären. Ein wesentlicher Aspekt, der dieses Problem verursacht, ist der Umstand, dass sich die Gesellschaft verändert und dass sie sich auch schon durch ihre Betrachtung alleine verändert; Theorien, die verfasst werden, sind - selbst oder gerade wenn sie zutreffen - schon dabei, ihre Aktualität zu verlieren, weil sie die Entwicklung der Gesellschaft nicht mehr erfassen können, oder sie im besonderen Fall sogar bereits verändert haben. Das bedeutet, dass der Begriff der Gesellschaft, anders als etwa die Theorien der Naturwissenschaften, primär dynamisch sein muss. D.h. er muss in der Lage sein, den Wandel mitzugehen. Ein solcher Begriff von der Gesellschaft ist sehr selten. In der Regel wirkt es aber vielmehr so, dass die Menschen in der aktuellen Zeit geradezu danach verlangen, eine Theorie zu besitzen, die unveränderlich ist und mit der man dann immer im Recht ist. Das ist das Problem auch der aktuell populären linken Theorien, dass sie allzu häufig versuchen, irgendwelche „Ewigkeitswerte“ zu behaupten, die immer richtig sind, die man nur einmal aufsammeln und dann behalten muss. Dies gerade verhindert, dass sich die Gesellschaft so angeschaut werden kann, wie sie aktuell ist. Ein Subjekt in der Geschichte muss aber besonders hinsichtlich dieser Fähigkeit eine herausragende Rolle einnehmen.

Demgegenüber sind aber fast alle Menschen davon überzeugt, bereits umfassend Bescheid zu wissen, wie es um die Gesellschaft bestellt ist oder wieso dieses oder jenes gerade passiert. Das eigene Denken scheint gerade dasjenige zu sein, welches die oben genannte Eigenschaft bereits erfüllt. Vielleicht lässt sich sagen, dass gerade da, wo Überzeugungen bestehen, dass das Notwendige für die Veränderung bereits gewusst wird, eine besonders große Entfernung zu diesem Umstand besteht. Dort, wo verstanden wird, dass es gar nicht so einfach und in vielerlei Hinsicht gar nicht mehr möglich ist, Sachverhalte in ihrem Umfang zu verstehen, wirkt es aber vielmehr so, als würde dem Sachverhalt angemessener und deswegen fortschrittlicher begegnet werden. Dabei muss allerdings zugleich daran festgehalten werden, zu versuchen, dieses Wissen trotz der erkannten Unmöglichkeit, zu erwerben. Dies ist eine Voraussetzung für ein Subjekt in der Geschichte.

                                  
# Der Blick hinter den Schleier

Tatsächlich weist die Gesellschaft aber eine Struktur auf und produziert diese selbst, die eben jenes Erkennen verhindert. Außerdem: Umstände, die vermeintlich leicht zu überschauen sind, sind bei genauerer Betrachtung komplex und widersprüchlich – die Gesellschaft hüllt sich selbst in einen Schleier. Das bedeutet auch, dass es ohne besondere Anstrengung gar nicht möglich ist, zwischen dem gesellschaftlichen Schleier und der Gesellschaft zu unterscheiden. Zwar gibt es in unserer Gesellschaft so viel Anhäufung von Wissen wie noch nie zu vor, doch verhält es sich bei der Wissensproduktion doch ganz ähnlich wie auch in anderen Produktionsbereichen.

So geht es zum Beispiel in der einzelnen Schokoladenfabrik ganz rational und organisiert vonstatten, aber auf dem Weltmarkt ist nicht bekannt wie viel Schokolade die Menschheit eigentlich benötigt oder produziert. Es bleibt also im Großen und Ganzen irrational und es wird sich auf etwas Unverstandenes, wie den durch Geisterhand lenkenden „Markt“ bezogen, welcher angeblich nicht zu verstehen sei. Das Ziel der Schokoladenherstellung ist das Erwirtschaften von Profit und nicht das Geschmackserlebnis der Konsument:innen – dies ist nur das Nebenprodukt – und ob sich diese Ziel verwirklicht, entscheiden am Ende erst die Verkaufszahlen der einzelnen Schokoladenfabriken.

Auch beim Wissen ist nicht bekannt, warum es eigentlich produziert wird. Die einzelnen Wissenschaftsbereiche beziehen sich zwar aufeinander, aber der Gesamtzusammenhang – etwa die Erforschung der notwendigen Bedingungen für das Verwirklichen einer vernünftig eingerichteten Welt – werden in der Wissensproduktion nicht ergründet. Die eigene Voraussetzung von Wissen wird nicht reflektiert, sondern als ahistorisch vorausgesetzt. Sie bleibt somit im Dunklen und abstrakt; eben verstellt hinter dem Schleier. Bei einem oberflächlichen Daraufschauen, wird man also immer nur die verhüllte Gestalt der Gesellschaft erblicken. Ein Subjekt der Geschichte muss sich dieses Umstandes bewusst werden und in ein kritisches Verhältnis dazu treten. Wie das geht, dafür gibt es keine Lehrformel. Auch produziert ein kritisches Verhältnis gerade  kein festes und "ewiges" Wissen, welches - einmal erworben - dann einfach weitervermittelt werden kann. Wenn es jedoch nicht gelingt, hinter den Schleier zu blicken, bleibt man ohnmächtiges Objekt der Geschichte. Man ist dann einfach nur ein Stellrad im gesellschaftlichen Prozess, das seine eigene Rolle weder kennt, noch versteht, sondern diese völlig unbewusst ausführt. Eine gesellschaftliche Veränderung, die Wiedergewinnung vermeintlicher Handlungsfähigkeit, ist dann nur im Sinne der gesellschaftlichen Struktur möglich, nicht im Sinne der Menschen, die in dieser Struktur leben und auch leben müssen.

Es gibt nicht nur die zuvor genannten strukturellen Gründe, wieso es kaum gelingen mag, die gesellschaftliche Struktur in einen Blick zu bekommen, der ihre Veränderung ermöglicht. Nicht nur verschleiert die Gesellschaft sich selbst, sondern auch die in ihr lebenden Menschen verschleiern sie, weil der Blick auf die tatsächlichen Verhältnisse der Welt im Grunde ein Leben in dieser Welt nicht erlaubt, zumindest aber in erheblichem Maße erschwert. Denn wer sich die Verhältnisse anschaut und dabei nicht von abstrakten Vorstellungen über die Welt behindert wird, der schreckt in der Regel vor ihnen zurück. Der Mensch, der die tatsächlichen Verhältnisse nur anstarrt, aber nicht verändern kann, der wird von diesen Verhältnissen aufgefressen. Der Schleier erfüllt also ganz einfach auch die Funktion, dass alles so laufen kann, wie es läuft, aber eben auch, dass der Mensch trotz einer im Grunde katastrophalen Lage – mit einem nervösen Wimpernzucken – weiterleben kann.

Das hat zur Folge, dass die Welt aufgespalten wirkt. Sie wird aufgeteilt in einen Teil, in dem es keine Probleme gibt, in dem das Leben schön ist (im Grunde ist es dort bloß erträglich) und einen Teil, in dem der Schrecken liegt. Und es wird versucht, zu verhindern, dass der Schrecken in das schöne Leben eindringen kann. Dafür gibt es je nach persönlicher Lage unterschiedliche Mittel. Zu diesen Mitteln gehört die Ausgrenzung des Schreckens genauso wie die Kompensation des Schreckens, damit dieser verschwindet. So etwa, wenn auf der einen Seite versucht wird, Menschen, die aus dem Elend fliehen, an den europäischen Außengrenzen abzuwehren, wie auf der anderen Seite, dem aus der Not entflohenen und dann hier ankommenden kleinen Kind einen Teddybären zu schenken, in dem Glauben, dass wenn alle ganz doll mitmachen, die Sache schon gut ausgehen wird. Natürlich sind die Menschen kein Schrecken, den man abwehren kann, und natürlich ist es gut, einem Kind einen Teddy zu schenken, aber es ist in der Summe kein adäquates Handeln, weil es sich der tatsächlichen Lage nicht stellt. Es ist auf der einen Seite der Versuch, das Elend im Konkreten draußen zu halten, auf der anderen Seite, es so schnell wie möglich aus dem Denken zu vertreiben. Denn wer dem Kind einen Teddy geschenkt hat, kann danach auch selber wieder ein Eis essen gehen, sich einen neuen Teddy kaufen, und so weiter. Beides zielt darauf ab, die gesellschaftliche Struktur am Leben zu erhalten, weil es den einzelnen Menschen ermöglicht, in der Gesellschaft, wie sie ist, weiterzuleben. Und das bedeutet auch: Als das gesellschaftliche kleine Rädchen, was man ist, sich weiterzudrehen. Das ist für die Menschen in dieser Gesellschaft essentiell, weil ihr Leben mit der Gesellschaft verwoben ist. Das Individuum ist von der gesellschaftlichen Struktur durchdrungen, der Fortbestand der Gesellschaft und der eigene Fortbestand erscheinen als ein notwendiger Zusammenhang.

Das Problem dabei ist, dass die Gesellschaft aber nicht zwangsläufig einfach immer nur gut ist für den Menschen. Die Gesellschaft hat eine eigene innere Struktur und eine Tendenz, sich als Gesellschaft am Leben zu erhalten. Dabei können Situationen eintreten, in denen die Gesellschaft ihre Struktur im Sinne der eigenen Entfaltung und Erhaltung verändern muss. Den Menschen erscheint diese Zeit als eine Art gesellschaftliche Krise. Diese Transformationen sind Phasen hoher gesellschaftlicher Dynamik, in denen der Mensch regelrecht verkonsumiert und verschlissen wird. Und das bedeutet, dass sehr viele Menschen umkommen und sterben. Es ist in diesen Phasen sichtbar, dass gesellschaftliches Interesse und das Interesse der Menschen nicht immer ineinander aufgehen. In diesen Phasen wird insbesondere sichtbar, dass der Mensch nur ein Objekt in der Geschichte ist, denn in der Regel können die Menschen bisher diese Phasen der gesellschaftlichen Transformation nicht stoppen oder kontrollieren. Die Versuche sind in der Regel hilflos und ähneln den aussichtslosen Versuchen der frühen Menschen, wenn sie versuchten, einen Gott durch Tanzen zur Veränderung des Wetters zu bewegen.

# Die Bedrohung durch den Faschismus

Weil die Menschen in der Gesellschaft in der Regel nicht in der Lage sind, den gesellschaftlichen Prozess als etwas über sie Hinweglaufendes und sie Verschlingendes und Konsumierendes zu verstehen, finden sie in der Regel andere Erklärungen für das, was passiert. Wo die Welt zu komplex ist, wird sie einfach in Form von Ideologie auf schlichte Formen heruntergebrochen. Diese sind handhabbar, aber sie treffen die Sachen nicht richtig, sondern nur deren vereinfachte Gestalt – und damit im Grunde gar nichts. In der Phase der gesellschaftlichen Transformation ist somit nicht nur der gesellschaftliche Prozess eine Gefahr für den Menschen, sondern der Mensch wird auch noch zu einer Gefahr für sich selbst.

Eine Gefahr wird er deswegen, weil er nicht erkennt, dass die Gefahr der gesellschaftlichen Transformation durch die Gesellschaft verursacht wird, sondern weil gedacht wird, die Gefahr gehe von anderen Menschen aus. Das ist im Grunde nie ganz falsch, weil es ja auch Menschen sind, die handeln, allerdings ist es deswegen falsch, weil die Menschen nicht als Subjekte der Geschichte handeln, sondern als deren Objekte. Sie werden aber als Subjekte betrachtet und dann als solche mit Eigenschaften ausgestattet, die sie nicht haben, oder die tatsächlich gesellschaftlicher Natur sind. Bisweilen finden sich sogar eins zu eins Übernahmen solcher verkehrter Annahmen aus der Zeit, wo der Mensch noch davon ausging, die Welt sei von Dämonen bedroht und von dunklen Mächten durchflossen. Diese Vorstellungen kehren in modernen Gewändern zurück, wenn nicht erkannt wird, dass gesellschaftliche Dynamiken sich ereignen, sich also die Gesellschaft transformiert. Der Mensch verspürt zwar, dass es Veränderungen gibt, die auch für ihn bedrohlich sind, aber er versteht sie nicht; aus diesem Grund versucht er sie in anderen Menschen zu bekämpfen, indem andere Menschen bekämpft werden. Weil das Problem allerdings nicht real in den Menschen zu bekämpfen ist, müssen diese zuvor maskiert werden, sodass sie dann so aussehen, als wäre es doch so. Nicht der Mensch wird noch gesehen, sondern die Maske, die man dem Menschen selbst aufgesetzt hat. In der Folge werden dann in der eigenen Wahrnehmung nicht mehr Menschen bekämpft und getötet, sondern maskierte Gestalten, die die Eigenschaften repräsentieren, durch die man sich durch den eigentlich gesellschaftlichen Prozess bedroht fühlt.

Davor, in Zeiten der Not andere Menschen als Menschen nicht mehr zu erkennen, ist niemand gefeit und es lässt sich dagegen kaum schützen. Wer jedoch im Geiste des Faschismus in anderen nur Fratzen sieht, die er bekämpfen muss, der wird zu dem, was er fürchtet und loswerden will, zu einem tatsächlichen Schrecken und einer tatsächlichen Gefahr. So wie er die Welt sieht, macht er sie, denn ein Mensch, der andere als vermeintlich konkret gewordenes, abstraktes Gesellschaftsverhältnis bekämpft, wird zu dem Konkreten, was bekämpft werden muss.

# Die Gesellschaft verändern

Wir sehen aber, dass der Kampf gegen den Wahn und den Faschismus nicht aussichtsreich sein kann, wenn er nicht damit gekoppelt wird, sich ein Bild von der tatsächlichen Lage in der Welt zu machen. Die Menschen müssen zu den Subjekten ihrer Geschichte werden. Sie müssen den gesellschaftlichen Prozess begreifen lernen und versuchen ihn zu erkennen und zu verstehen. Nur dadurch kann der Mensch in die Lage kommen, in einer Gesellschaft zu leben, die er beherrscht, in der er also gesellschaftliche Verhältnisse so einrichten kann, wie sie gut für ihn sind. Das bedeutet aber, dass er sich den Problemen stellen muss, dass er aufhören muss, sich vor dem Schrecken der Welt zurückzuziehen in eine Welt, in der es bunt und schön und lustig ist. Wenn der Mensch weiterhin alles dafür tut, um in diese bunte Welt hineinzukommen und zum anderen, wenn er einmal drin ist, alles zu tun, um diese Position zu verteidigen, kann sich nichts grundsätzlich verändern und wenn sich nichts grundsätzlich verändert, steuert die Menschheit unaufhaltsam als bloßes Objekt nur auf ihre eigene Vernichtung zu.

Dabei ist zu beachten, dass dieses „sich die Welt anschauen, wie sie ist“ ein Prozess ist. Weder ist die Welt immer die gleiche Welt, noch kann man sie sich einfach anschauen, weil man jetzt einfach gerade spontan Lust dazu hat, sondern dieses Schauen muss man sich erarbeiten. Man muss verstehen lernen, dass das, was wir sehen, erst erkennbar zu dem wird, was es ist, wenn wir es sich entfalten lassen. Der Blick in die Welt ist ein Blick Schritt für Schritt, und das nicht nur deshalb, weil sie unverhüllt eine schreckliche Gestalt hat. Wir können den Dingen zusätzlich nämlich auch nicht einfach eine starre Interpretation überwerfen und diese dauerhaft festzurren.

Eines können wir schon mal festhalten: Wir wissen im Grunde noch fast gar nichts.


alea • antifaschistisch & autonom (April 2024, Leipzig)

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