Silvester zum Knast?! Fragen zum Umgang der anarchistischen Szene mit Tätern und fehlenden Alternativen zum Knastsystem

[Triggerwarnung: Der Text beschäftigt sich mit dem Umgang mit Tätern und sexualisierter und sexistischer Gewalt innerhalb der anarchistischen Szene]

 

Die Aufrufe zur jährlichen Knastdemo sind ein Anlass, die Frage danach zu stellen, auf die eine gegenwärtige anarchistische Bewegung bis heute scheinbar keine befriedigenden Antworten hat.

 

Wie sehen echte Alternativen zu Knast aus?

 

Was machen wir tatsächlich besser als das System, welches wir kritisieren, und was ist es uns wert? Wie weit geht unser radikales Denken, auch wenn es unbequem wird und wir selber Richter*in spielen (müssen?)?

 

Dieser Text entsteht aus einer ohnmächtigen und ungläubigen Perspektive auf den gegenwärtigen Umgang der anarchistischen Szene mit Konsequenzen, die aus Übergriffen „in den eigenen Reihen“ gezogen werden. Gemeint sind sexualisierte oder sexistische Übergriffe, die meistens von cis-Männern an FLINT*-Personen begangen wurden.

 

In den vergangenen Jahren wurden viele Übergriffe innerhalb der linken Szene bekannt und benannt, in einigen Fällen wurden anschließend Outings veröffentlicht. Welche emanzipatorische Macht das für von Gewalt betroffenen Personen entfalten kann und warum diese Praxis in vielen Fällen notwendig und empowernd ist, wurde viel beschrieben und wird hier nicht hinterfragt. Der Fokus dieses Textes liegt auf dem, was üblicherweise nach dem Bekanntwerden eines Übergriffs passiert. Denn die beinahe einzige Antwort in der Praxis, die eine linke Szene gegenwärtig kennt, ist: Ausschluss. Und zwar nicht nur aus dem möglichen Umfeld der betroffenen Person (was wichtig und nachvollziehbar ist, falls es dem Wunsch der betroffenen Person entspricht), sondern deutschlandweit, in einigen Fällen sogar europaweit, aus allen Räumen der linken Szene. In den Aufrufen wird in den meisten Fällen mit einer derartigen Vehemenz zum Ausschluss aufgefordert, dass es scheint, als sollte der Täter im besten Fall aus ALLEN gesellschaftlichen Sphären verbannt werden, was uns zu dem Ursprung dieses Textes zurückführt: Knastlogik. Und die Frage nach echten Alternativen dazu. Der stumpfe Ausschluss von Tätern bringt gleich mehrere theoretische und praktische Fragen mit sich, wenn mensch wirklich was darauf hält, was es so in Aufrufen zu Knastdemos und Gefangenen-Solidaritätsbekundungen propagiert.

 

Was unterscheidet gesellschaftlichen Ausschluss (zumeist auf Lebenszeit) von (meist zeitlich begrenzten) Freiheitsstrafen?

 

Wo sollen Täter*innen leben, wenn nicht in einem irgendwie gearteten sozialen Umfeld? Sollen Täter*inne leben? Wo und wie?

 

Wo ist der Unterschied von dem Ausschluss von Tätern aus der linken Szene zu dem gesamtgesellschaftlichen Bedürfnis, sich von Tätern abzugrenzen und möglichst nichts mit ihnen zu tun zu haben, sich nicht zu beschmutzen? (Knastlogik. Einige linke Gruppen fordern wörtlich, die „Szene SAUBER zu halten“)

 

Sind wir wirklich solidarisch mit ALLEN Gefangenen?

 

Wie können wir behaupten, solidarisch mit ALLEN Gefangenen zu sein, wenn wir Tätern in den eigenen Reihen keinen Platz zugestehen und keinen Umgang mit ihnen haben? Was unterscheidet durch staatliche Instanzen verurteilte Sexualstraftäter von Tätern in der linken Szene? Ist die Konsequenz, sich nur solidarisch mit Gefangenen zu erklären, die nach den eigenen moralischen Vorstellungen handeln?

 

Sind wir nur solidarisch mit Betroffenen, die tatsächlich Gewalt erfahren haben, oder auch mit denen, die potentiell Gewalt erfahren könnten? Wie kann ein kompletter Ausschluss aus allen politischen Zusammenhängen realistisch verhindern, dass Täter in anderen Kreisen, die nicht unserem Einfluss unterliegen, wieder Übergriffe begehen? Welche Antworten hat ein anarchistischer Gesellschaftsentwurf auf Täter*innen, die sich nicht auf Täter*innen-Arbeit einlassen?

 

Wieso verwenden wir sehr viel Energie darauf, Täter möglichst effektiv für immer und überall auszuschließen, anstatt nach nachhaltigen Alternativen zum Knastsystem zu suchen?

 

Wieso behaupten wir, gegen das Knastsystem zu sein, während wir es im selben Moment reproduzieren? Gibt es eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Knastlogik?

 

Vielleicht lässt sich mensch ja morgen, bei einer der Anti-Knast-Demos mal die ein oder andere Frage durch den Kopf gehen, was Solidarität mit ALLEN Gefangenen bedeuten würde. Und nein, es sitzen nicht nur „Dienstleistungserschleicher*innen“ in Knästen. Und nein, es ist kein Täterschutz sich über die oben gestellten Fragen Gedanken zu machen.

 

Allen von Gewalt Betroffenen und den sie unterstützenden Personen viel Kraft und volle Wertschätzung! Allen die sich für eine emanzipatorische, freie Gesellschaft einsetzen eine gute Demo, passt auf euch auf!

 

 

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Ergänzungen

Ich finde die Fragen sind komisch gestellt und etwas wirr. Warum kommt soein verunsichernder Post einen Tag vor Silvester? anstatt am 1. Januar?

Ist die angedeutete Aussage des Textes sich von Gefangenen aktiv zu distanzieren? Nichtmehr "Freiheit für alle Gefangenen" zu rufen?

Er ist sehr irritierend auch, wenn das Ausschlussthema echt diskutabel ist.