[CZ] Pogromstimmung in Varnsdorf

Taskforce DD 18.09.2011 13:50 Themen: Antifa Antirassismus Weltweit
Seit einigen Wochen gibt es im Schluckenauer Zipfel in Tschechien, unweit von Dresden, progromartige Stimmung gegen Roma. Schon an den vergangenen Samstagen gab es Demonstrationen, die in aggressiven Märschen auf die Romahäuser endeten. Bisher hat die tschechische Polizei die aufgebrachte Menge rechtzeitig stoppen können. Brennpunkt war vor allem Varnsdorf, Gegenproteste gab es bisher so gut wie gar nicht. Grund genug für uns Varnsdorf mal einen Besuch abzustatten und zu schauen wo, wie und ob die betroffenen Roma unterstützt werden können.

Also fuhren wir mit einer kleinen Gruppe am Samstagmorgen nach Tschechien. Ohne wirklich zu wissen wie wir die Sache angehen sollen und mit einer guten Portion Angst. Varnsdorf ist ein verschlafener kleiner Ort, nichts deutet darauf hin, dass hier in ein paar Stunden wieder einige hundert Nazis versuchen werden Romahäuser anzugreifen. Kurz bevor die Demonstration starten soll sind vereinzelte Kleingruppen zu sehen, einige auch gut als Nazis zu erkennen. Zu Auseinandersetzungen zwischen Roma- und Nazigruppen kommt es dennoch nicht.

Erste Kontaktversuche mit Menschen vor Ort gestalten sich schwierig, das Thema Rassismus gegen Roma scheint Tabu zu sein, selbst bei ansonsten reflektiert erscheinenden Menschen war kaum Gesprächsbereitschaft vorhanden. Das Gefühl bleibt, dass nicht ein aufgebrachter Bürgermob als Problem wahrgenommen wird, sondern die „nicht anpassungsfähigen“ Roma, selbst bei angeblich „Alternativen“, oder „Linken“.

Der erste Versuch sich mit den Bewohner*innen eines der zwei im Fokus stehenden Romahäuser auszutauschen gestaltete sich auf Grund der Sprachbarriere als besonders kompliziert. Trotzdem wurden wir sehr freundlich empfangen. Nach einigen Verständigungsschwierigkeiten kam jedoch Hilfe in Form von Mitarbeiter*innen der Initiative „Hass ist keine Lösung“. Diese hat sich vor zwei Wochen auf Grund der aktuellen Stimmung gegründet. Sie konnten uns viele interessante Infos geben und uns bei der Kommunikation unterstützen.

An dem Haus selbst schien die Stimmung vor und nach der Demonstration eigentlich relativ gelassen. Während der Mob unterwegs war wurde sich im Haus gesammelt und es gab ein Programm zur Ablenkung für die Kinder, für sie ist die Situation besonders schwer zu verstehen. Die ganze Zeit waren Polizeikräfte rund um das Haus sehr stark vertreten, so dass wir uns doch einigermaßen sicher fühlen konnten. Auch schien die Kommunikation zwischen Roma und Polizei/Antikonfliktteam recht unbeschwert zu laufen. Zwar gibt die Regierung kein antirassistisches Statement zur Lage, aber Angriffe auf die Häuser der Roma sollen auf jeden Fall verhindert werden.

Von der Demonstration selbst konnten wir aus dem Haus nicht viel mitbekommen, jedoch schien sie wesentlich kleiner und es schien auch weniger Ausschreitungen als letzte Woche zu geben, zumindest nicht in unmittelbarer Nähe des Hauses. Der Spuk dauerte nicht lange an, wir hatten erst befürchtet das Haus bis zur Nacht nicht verlassen zu können. Gegenproteste gab es auch diese Woche nicht, ein paar kritische Presseteams und die wenigen Leute die versuchten den Betroffenen direkt am Haus beizustehen waren alle erkennbaren oppositionellen Kräfte. In Varnsdorf selbst scheint es niemand zu geben, der sich auf die Seite der Roma stellen möchte. Dennoch berichtete die Initiative „Hass ist keine Lösung“ von der obskuren Dorfgemeinschaft, die jeden Samstag im Mob durch die Straßen marschiert und den Rest der Woche freundlich die grüßt, deren Häuser sie stürmen will. Ebenfalls scheint sich der Hass bis Dato rein auf die Roma zu konzentrieren und in keine allgemein-faschistische Stimmung umgeschlagen zu sein. So berichteten äußerlich als subkulturelle Linke zu Erkennende, dass sie im Ort noch nie Anfeindungen ausgesetzt waren.

Trotz dieser Eindrücke sollte sich vergegenwärtigt werden in welche Zwangslage Menschen gebracht werden, wenn sie sich allwöchentlich dieser Anspannung aussetzen müssen. Hinzu kommen die täglichen Schutzschichten und die Angst vorm Versagen der Polizei. Der Hass gegen die „nicht anpassungsfähigen“ Roma geht klar von einem großen Teil der Bürger aus, wird aber angestachelt von der rechtsradikalen Partei DSSS. Von ihr werden auch organisierte Nazis aus ganz Tschechien und Teilen Deutschlands zu den Brennpunkten mobilisiert. Der Hass gegen Roma ist nichts Neues, immer wieder kommt es zu Anfeindungen und Angriffen, erinnert sei hier nur an Litvinov im Herbst 2008. In der aktuellen Lage werden die Roma zwar gut von der Polizei beschützt, wie lange diese aber Unterstützung leisten kann und will ist fraglich, vor allem wenn sich die aggressiven Proteste auch weiterhin auf andere Ortschaften ausbreitet.

Aktuell schätzen Beobachter*innen vor Ort die Lage so ein, dass eine offensive politische Arbeit in Varnsdorf eher die Stimmung anheizen, als verbessern würde. Wichtig scheint ein längerfristiges Netzwerk aus wirklich antirassistischen Akteuren in der Region. Unmittelbar, so teilten die Bewohner*innen des Wohnheims „Hotel Sport“ mit, würden allgemeine Güter gebraucht. In den prekären Lebenssituationen mangelt es vor allem an Kleidung für die vielen Kinder, Schulsachen, Nahrung. Deshalb möchten wir zu einer Sachspendensammlung im AZ Conni in Dresden aufrufen.

Weitere Infos und ein Interview gibt es am Montag (19.09) zwischen 21 und 22 Uhr im Coloradio. Außerdem wird es im Rahmen der Libertären Tage am Freitag (23.09) um 20 Uhr im AZ Conni eine Infoveranstaltung zur Lage in Varnsdorf und Umgebung von Tschechischen Antifas geben.Englische Infos gibt es auf romea.cz, einen Artikel auf deutsch bei addn.me
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Ergänzungen

Text zu Antiziganismus

Rosa E. 18.09.2011 - 15:24
In der aktuellen "Straßen aus Zucker" gibt es einen kurzen Text, der sich mit Antiziganismus beschäftigt:

"Lustig ist‘s Verfolgtenleben?
Über die Diskriminierung und Verfolgung von Roma und Sinti, einen bisher fast vergessenen Teil des nationalsozialistischen Vernichtungswahns, und die Kontinuitäten in der heutigen Gesellschaft.

„Wir versprechen eine Endlösung der Zigeunerfrage“, lässt die ultrarechte tschechische „Nationale Partei“ in einem Werbespot verlauten. In Frankreich werden mehrere tausend Roma
in den Kosovo abgeschoben. In Ungarn patrouillieren ultranationalistische Garden durch Roma-Siedlungen, um „die Bevölkerung vor den Zigeunern zu schützen“. In Italien warnt Berlusconi: „Milan darf nicht zu einer Zigeunerstadt werden.“ In Berlin sprechen Zeitungen von „Bettel-Roma“ und in Leverkusen werden Brandsätze auf ein Roma-Haus geworfen. Der Antiziganismus, also die konkrete Feindschaft gegen als „Zigeuner“ stigmatisierte, ist seit etwa zwanzig Jahren wieder am Erstarken und hat eine lange Vorgeschichte.

Existierten die „Zigeuner“ nicht...
Schon im Mittelalter wurden Roma und Sinti aus deutschen Städten und Gemeinden vertrieben und verjagt, während parallel die ersten Zuschreibungen und Stereotype entstanden: Zum Beispiel, dass sie andauernd umherziehen, betteln, stehlen, Kinder entführen und nicht arbeiten würden. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Sinti und Roma dann für angebliche „Kriminalprävention“ systematisch erfasst und es gab diverse „Umerziehungsversuche“. Oft wurden ihre Kinder in Heime gebracht.
Im Nazideutschland wurden ab 1935 die Nürnberger Rassengesetze, welche sich anfangs nur auf Juden und Jüdinnen bezogen, auch auf „Zigeuner“ angewandt. 1938 ordnete Himmler die „endgültige Lösung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse heraus“ an. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden insgesamt 500.000 Sinti und Roma in den Vernichtungslagern systematisch ermordet.
Doch auch nach 1945 setzte sich die Diskriminierung und Ausgrenzung fort. So entschied 1956 der Bundesgerichtshof bezüglich der Wiedergutmachungsansprüche von Roma und Sinti,
dass diese bis 1943 nicht aufgrund von „rassenideologischen Gesichtspunkten“, sondern aufgrund der „asozialen Eigenschaften der Zigeuner“ verfolgt worden seien und ihnen insofern für die Verfolgung vor 1943 keinerlei Entschädigungszahlungen zuständen.
Dieses Urteil wurde erst 1963 teilweise revidiert. Doch auch die lang erkämpften „Entschädigungen“ beliefen sich auf Zahlungen von höchstens 5000 DM pro Person. Erst 1982 wurde die gezielte Ermordung und Vernichtung, für welche heute der Begriff „Porrajomos“ („das Verschlingen“) verwendet wird, durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt als Völkermord anerkannt. Weitere Zahlungen gab es dennoch nicht. Und Sinti und Roma werden noch immer von staatlichen Behörden gesondert erfasst.

..der_die Antiziganist_in würde sie erfinden
Bis heute finden sich ausgeprägte antiziganistische Stereotype und Klischees in der Gesellschaft. Bei einer Umfrage des American Jewish Committee in Deutschland antworteten im Jahr 2002 mehr als die Hälfte der Befragten verneinend auf die Frage, ob sie sich Sinti und Roma als Nachbarn vorstellen könnten.
Die Stereotypisierung sowie die daraus resultierende Verfolgung von Roma und Sint sind in der Gesellschaft, in der wir leben, kein Zufall: In einer Gesellschaft, in der Menschen nach ihrer Produktivität beurteilt werden, ist der Wunsch nach Faulheit illegitim und wird abgespalten und auf andere projiziert. Für das vermeintliche Ausleben der unterdrückten Begierde werden andere gehasst. Die „Zigeuner“ stehen im Weltbild des_der Antiziganist_in oft sowohl für Freiheit und Ungebundenheit als auch für Schmarotzertum und Arbeitsverweigerung. Der Hass auf vermeintlich Faule bringt auch die immerwährende eigene
Angst vor dem Abgleiten in die „Asozialität“ als unproduktives Element in der nationalen Leistungsgesellschaft zum Vorschein. Doch auch wenn der Antiziganismus erst im kapitalistischen Kontext richtig verstanden werden kann, darf das nicht verdecken, dass eine wesentliche Verbesserung der Lebenssituation von Roma und Sinti jetzt schon möglich ist! Genau so verhält es sich mit der Verhinderung von Übergriffen und Abschiebungen.

Zum weiterlesen:
„Antiziganistische Zustände – Zur Kritik eines allgegenwärtigen
Ressentiments“, erschienen 2009 im Unrast-Verlag.

BEGRIFF "Zigeuner":
„Zigeuner“ ist eine in ihren Ursprüngen bis ins Mittelalter zurückreichende fremdbezeichnung durch die Mehrheitsbevölkerung und wird von den meisten Vertreter_innen als diskriminierend abgelehnt. Mit dem Wort „Zigeuner“ wurden in Deutschland jahrhundertelang negative Zuschreibungen verbunden. Anfang der 1980er Jahre hat sich in der deutschen Öffentlichkeit „Sinti und Roma“ als vermeintlich politische korrekte Bezeichnung eingebürgert. Dies ist allerdings nicht ausreichend, weil sich dadurch zahlreiche andere Gruppen unberücksichtigt fühlen, wie z.B. die Kale."

weitere Informationen

Herr Krtek 19.09.2011 - 14:38

Fotografische Dokumentation

Theodor, eintauchen 04.02.2012 - 21:56
Gerade weil die Demonstrationen nun wieder zunehmen, sollten die Augen nicht verschlossen werden. Ich habe im Sommer versucht die Situation der Roma-Familien in Varnsdorf zu dokumentieren - leider haben die Bilder ihre Aktualität nicht verloren.