Das »Unsichtbare Komitee« äußert sich

Comité Invisible 19.12.2010 19:00 Themen: Blogwire Medien
Das »Unsichtbare Komitee« äußert sich zum Diskurs um seine Schrift »Der kommende Aufstand«. Nachfolgend wird sein Text "Verwaltet weiter, verschweigt! Eine Intervention" dokumentiert.
Verwaltet weiter, verschweigt!
Eine Intervention

Wodurch ist eine ausweglose Situation charakterisiert? Durch Markierungen, die zwar alternative Wege aufblitzen lassen, aber durch ein vielfältiges Instrumentarium die Möglichkeit ihrer Begehung blockieren – politisch, moralisch oder durch Gewalt. Die Markierungen verlaufen dabei nicht nur zwischen den offensichtlichsten Institutionen der Normalisierung: der Schulpflicht, dem Strafgesetzbuch, den Wahlkomitees oder der Vergeldlichung unserer Umwelten. Wir erlauben uns, eine Vulgarität auszusprechen: Es ist der Gedanke, nicht das Bataillon, der Territorien einnimmt, absichert und ihre Begrenzungen festlegt. Der psychologische Sündenfall jeder Ordnung, deren Fundamente am Beben sind, ist die Lobeshymne, mit der ihre letzten Verwalter sich an sie schmiegen, auf dass die »beste aller Welten« nicht zugrunde gehe – jetzt, da ihnen das kaum fassbare Glück zuteil wurde, unter Milliarden von Menschen und Jahrtausenden menschlicher Zivilisation auserwählt zu sein und in ihr leben zu dürfen.

Was nützt es, daran zu erinnern, dass sich nahezu jede Ordnung mit diesem Label schmückt? Die Ideosynkrasie (Überempfindlichkeit; d. Red.) jeder Ordnung erreicht ihr Maximum kurz vor ihrem eigenen Tod; dort ist sie auch am destruktivsten. Die Zerfallserscheinungen unserer modernen Konstruktionen, trotz aller Beharrlichkeit und Liebe, mit der ihr Funktionieren sichergestellt wird, sind heute keine extraordinären Phänomene mehr. Noch weigert sich die Gesellschaft, auf eine Interpretation einzugehen, die ihr gefährlich werden könnte. Wenn sie es tut, wird ihr eigentliches Fundament zum Vorschein kommen, die Fratze der nackten Gewalt, die sie unter dem Schleier der »Zivilisiertheit« kaschiert, um dadurch unbegrenzt und unverdächtig über sie verfügen zu können. Dann ist es im Übrigen egal, ob gestern noch von der Gewaltlosigkeit als dem großen Asset (Plus; d. Red.) gesprochen wurde, das die liberalen Demokratien in ihrem Kern auszeichne. Wenn das Fundament auf dem Spiel steht, werden keine Gefangenen gemacht.

Organisation der Stimmen

Warum sehen wir uns genötigt, in die deutsche Debatte zu intervenieren? In Frankreich greift der Staat zu physischer und juristischer Gewalt, um die Irritationen zu unterdrücken, die auf den Straßen liegen, Irritationen, deren Motive er nicht versteht, und denen wir ein Medium gegeben haben. Anders verhält es sich im deutschen Kontext. Dort haben die Mechanismen der Tabuisierung, Reglementierung und Aussperrung des Nicht-Sagbaren zwar keine andere Rationalität, doch eine andere Anatomie: subtiler, intellektueller, durchdringender, effektiver. Nirgendwo kann eine Gesellschaft wirksamer ihre Diskurse organisieren als an den Orten, wo »Debatte« geführt wird, jene Plattformen der öffentlichen Sphäre, auf denen die demokratische Gesellschaft, so weiß man, zu sich kommt: Als Garanten für Freiheit und Selbstbestimmung fungieren diese Orte als ihr Symptom, Mittel und Fundament zugleich. Ihre Teilnehmer: Metaphern von individualisierten Subjekten, die ihre inneren und äußeren Umwelten kontrollieren, Subjekte und Objekte sauber voneinander trennen, und die ihre Liebe einer Rationalität widmen, die ihre eigene Historizität und Kontingenz (fehlende Zwangsläufigkeit; d. Red.) nicht wahrhaben möchte; Subjekte, die alles Mögliche identifizieren können, nur nicht sich selbst; die ihre eigene Verortung nicht kennen, oder sie kennen sie, aber akzeptieren die Folgen nicht. Die Wortführer dieser »Debatten« sind die ewig Gleichen: Neben den üblichen Verdächtigen aus den herrschenden Zirkeln sind es diejenigen, die deswegen eine Stimme zugeteilt bekommen, weil sie entweder die Diskursregeln virtuos beherrschen oder weil sie ihre Stimme als profitable Ware haben platzieren können – und nicht etwa, weil sie Wahrheiten aussprechen oder Möglichkeiten benennen.

Die äußerste Form der Repression des Gedankens ist nicht die Vernichtung des menschlichen Körpers, der ihn äußert, sondern der Anschlag auf den Gedanken selbst. Die effektivste Form des Anschlags: seine De-Legitimierung. Man müsste eine Geschichte schreiben über die vielen Spielarten und Techniken dieser De-Legitimierung, die erst das »aufgeklärte Zeitalter« hervorgebracht hat. Leere Signifikanten wie »reaktionär« und »anti-modern« zählen in der aktuellen diskursiven Verfasstheit der westeuropäischen Länder zu den wirksamsten Werkzeugen, mit denen sich die »Debatte« abweichende Ansätze vom Hals hält. Eine Herrschaft, die solche Feinde hat, ist heute unverdächtig und total. Eine geschützte Herrschaft. »Wir sind anti-modern – man braucht sich nicht mehr um uns zu kümmern. Legt den Fall zu den Akten«, liest man zwischen unseren Zeilen. Wir erwidern nichts. Kein Argument. Beschreibt uns, wie Ihr wollt. Verwaltet weiter, igelt Euch ein, verschweigt die Irritationen. Wir erlauben uns eine weitere Vulgarität: Wir scheißen darauf. Die Distanz zur Straße wird Euch irgendwann einholen.

In hundert Jahren, nach dem Übergang dieser Ordnung in ihre zukünftigen Formen – seien sie kapitalistischer, kommunistischer oder sonstiger Natur –, wird die Historiographie ihre eigene Sprache für unsere Epoche entwickelt haben. Ihr wird nicht entgehen, wie breit und vielfältig das Klammern an der Ordnung wurde, von links wie von rechts, von oben wie von unten. Ihr werden die Verteidigungsstrategien nicht entgehen, die sie als endgültige Ordnung inszenierten, zur letzten, zu der die vernunftbasierten Menschen fähig seien. Ihr wird die Arroganz nicht entgehen, mit der das Ende aller Welten, Orte, Gerüche, Leidenschaften, Spiritualitäten, Überzeugungsysteme und Rationalitäten behauptet wurde, und wie sie wie alle Ordnungen zuvor agierte, die sich als die fortschrittlichsten verstanden haben, während sie alle anderen als defizitär oder kontingent klassifizierte. Sie wird sich fragen, warum wir uns nicht fragten, ob wir überhaupt so rational sein können, wie unser Selbstbild und unsere Systeme es von uns verlangen.

Chaos regiert

»Ich sehe sie, die vielen Unzulänglichkeiten, und ich bedaure sie, ja bekämpfe sie. Doch müssen wir froh sein, von allem Schlechten auf der Welt das am wenigsten Schlechte gefunden zu haben. Wir müssen hier aufhören, still halten, die Waffen niederlegen. Denn nach dem Gewaltmonopol bricht sich Bahn: das Chaos.« Man muss den Satz fünf, zwölf, hundert Mal wiederholen, bis der Schleier der Abstraktion fällt und seine Absurdität zum Vorschein kommt. Die Parteigänger des Gewaltmonopols sind sich sicher: Rational ist, eine Gesellschaft am Leben zu halten, in der Gewaltmittel aufs Unendliche angehäuft und, im Falle der Aktualisierung, in den Zugriffsraum einiger Weniger gestellt werden. Als naiv und utopisch gelten hingegen soziale Formationen, die sich dieser Irrationalität verweigern: all jene Räume, die sich in den metropolitanen Territorien bereits der Kontrolle der Maschine entzogen haben, und die neue, kommunale Wege des Zusammenlebens erzeugt haben; all jene Arbeit, die tagtäglich und in astronomischen Ausmaßen verrichtet wird, ohne dass Geld oder Zwang die Motivation zum Arbeiten herstellen; all jene Netzwerke und Nischen innerhalb des totalen Raumes, dort, wo die Argusaugen des Staates erblinden, in den Keimzellen der Selbstorganisation, an die die Gesellschaft nicht glauben will – weil sie eine ihrer letzten Wahrheiten aufs Spiel setzen: dass der Mensch ohne Staat zum Berserker wird.

In der Regel reicht allein der Hinweis auf den afrikanischen Kontinent, dessen imaginierte Finsternis uns erst die zivilisatorische Strahlkraft verleiht. »Sieh' genau hin! Wohin man blickt: Chaos regiert.« Neben Auschwitz, oder wahlweise dem Gulag, wird häufig genug auch Somalia als Kronzeuge für die Unmöglichkeit einer radikalen Alternative gehandelt. Zugleich ist das Land der mythische Ort, von dem man uns berichtet, dass der Mensch dort zu sich komme oder schon bei sich sei. Losgelöst vom staatlichen Sanktions- und Regulationsapparat, würde er endlich er selbst. Ein Monster: für sich wie für andere. Verschwiegen wird in dieser Konstruktion, dass dieser Mensch nicht ist, sondern bereits geworden ist. Wir kennen keine Gesellschaft, wo der Mensch zu sich kommt. Gesellschaft heißt gerade, dass er nicht bei sich ist. Er ist geworden in einer Umwelt, in der konkurrierende und hochgerüstete Gewaltmonopole über Jahrhunderte hinweg gewütet haben und in der sie nur fragiles, traumatisiertes und ausgebeutetes Menschenmaterial zurückließen, das sich in einem Wettlauf um das schnellere Sterben befindet. Selbst die Gewaltmittel lieferten sie mit und lehrten die so Subjektivierten die Mechanik der industriellen Vernichtung, bevor sie schließlich abzogen und schon bald begannen, über die Brutalität der »natürlichen« Zustände zu lästern, die sich ohne liberal-demokratische Gewaltapparate einstellten.
Denjenigen, die noch bei Verstand sind, fällt auf, dass der Staat nicht die Instanz der materiellen Gewalt ist, sondern eine Fiktion, ein Bild, das die menschlichen Verkehrsströme reguliert, Grenzen von Geschmack und Urteilskraft definiert, Entscheidungen nahelegt und individuelle Präferenzen bestimmt. Wäre der Staat wirklich nur dieses hässliche Monster, das allein durch die Kraft seiner Bedrohlichkeit seinen Status absichert, so befänden wir uns wahrlich in einem chaotischen Zustand, in dem konkurrierende Akteure permanent auf die Gelegenheiten der Übernahme warten würden – außerhalb oder innerhalb eines als legal definierten Raumes. Wir fordern diese Fiktion heraus, weil sie die Katastrophe zu verschulden hat, die sich nun überall Bahn bricht, die sich nicht nur gegen Einzelne richtet, sondern, strukturell und potentiell, gegen alle: Unkontrollierbar und selektiv, produziert sie täglich neue Opfer. Wir stellen entgegen eine neue Fiktion, die strukturiert, ohne zu zerstören.

Reaktionäre Gewalt – Gewalt als Reaktion

Dieses komische Konglomerat aus Milieus, Gewaltapparaten, kontrollierten Räumen und individuellen Stilen, das wir Gesellschaft nennen, hat ein pathologisches Verhältnis zur Gewalt. Ihre Pathologie besteht darin, die legitimen Gewaltformen zu definieren, aber sie öffentlich zu verschweigen und zu leugnen – notfalls mit Gewalt und ohne den Widerspruch zu akzeptieren. Wie ein Kranker, der andere Krankheiten, die ihm bisher erspart blieben, aussperrt, geißelt, tabuisiert. Wir fordern eine Öffnung des Diskurses über die Gewalt – erweitert um deren zu beobachtende Ubiquität (Allgegenwart; d. Red.). Früher oder später wird sie als das anerkannt werden müssen, was sie ist, nämlich als die allgegenwärtige Spur, tief verankert in der Grammatik unserer Zeit und anzutreffen an den verschiedensten Orten unseres Alltags: in der Separierung der gesellschaftlichen Subjekte, in der Totalität der Verwertungsmaschine, im Tod eines x-beliebigen betrunkenen Obdachlosen auf der metro-politanen Straße, in der Lust am Ressentiment und in der Gewissheit, es sich leisten zu können. Das Ende der Geschichte ist ein Ende mit Schrecken, zumindest für diejenigen, deren Stimme die »Debatte« aussortiert oder kastriert, bevor sie sie integriert.

Wir werden die Gewalt nicht weiter ertragen können. Während die zivilisierte, heißt: ausschließende »Debatte« weiterläuft, sehen wir uns gezwungen aufzurüsten: so lange, bis wir uns den Pazifismus leisten können. Leise, maulwurfsartig, un-strategisch und spontan müssen unsere Gesten sein. Der Impuls, seine Impulsion, seine Impulsivität – eine mächtige Triade. Es sei übrigens bemerkt, dass wir auf die Konsequenzen vorbereitet sind.

Comité Invisible, 12/2010

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Der Text "Der kommende Aufstand" ist in deutscher Sprache dokumentiert bei Indymedia:  http://linksunten.indymedia.org/node/22964 Diese Version ist besser als die bei Edition Nautilus erschienene.
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Ergänzungen

zeittotschläger

;-) 19.12.2010 - 19:34
In Frankreich führte das anonym veröffentlichte Pamphlet "Der kommende Aufstand" zur staatlichen Verfolgung seiner mutmaßlichen Autoren. Ausgehend von den Theorien des Nazijuristen Carl Schmitt, wird darin zur politischen Gewalt aufgerufen, gegen Demokratie und Rechtsstaat gewettert.

Nachdem das Buch in Frankreich und den USA für viel Wirbel sorgte, ist es im Zuge seiner deutschen Übersetzung nun auch in der heimischen Diskussion angelangt. FAS und SZ haben es überraschend wohlwollend rezensiert. In den Fokus der bürgerlichen Presse rückte der radikale Text erst, weil er eine wichtige Rolle in einem Justizskandal spielt. Er ist der Hauptgrund der Überwachung einer Kommune in dem französischen Dorf Tarnac, die Anfang 2008 begann. Man verdächtigte die Gruppe, Hakenkrallenanschläge auf TGV-Linien verübt zu haben. Daraufhin waren einige ihrer Mitglieder mehrere Monate in Haft, darunter der Privatgelehrte Julien Coupat, Kopf des Kollektivs. Die Anschuldigungen erwiesen sich als haltlos. Dennoch lehnte ein französisches Berufungsgericht am 22. Oktober 2010 den Antrag auf Aussetzung des Verfahrens ab. Begründung: Die mutmaßlichen Verfasser des "Kommenden Aufstands" seien weiterhin verdächtig, in Zukunft terroristische Anschläge zu verüben.

Schon ein kurzer Blick in das Buch zeigt, dass das Vorgehen der französischen Behörden zwar verfahrensmäßig skandalös, aber inhaltlich nicht ganz unberechtigt ist. In dem Pamphlet wird explizit zu politischen Gewalttaten aufgerufen - zur "Offensive zur Befreiung des Territoriums von seiner polizeilichen Besetzung". Der Demokratie sind die Autoren spinnefeind. Die Nachkriegszeit bezeichnen sie knapp als "sechzig Jahre Befriedung, sechzig Jahre demokratische Anästhesie". Wer auf dem "demokratischen Charakter des Entscheidungsprozesses" beharre, sei "Fanatiker der Prozedur". In den "bürgerlichen Parlamenten" gebe es bloß zielloses "Palaver" - schnell denkt man da an die Weimarer Zeit, in der rechte und linke Extremisten den Reichstag als "Schwatzbude" bezeichneten.

Die Autoren stützen sich dabei auch auf Carl Schmitt, den Kronjuristen des Reiches, dessen Thesen zum "Ausnahmezustand", zum "Partisanen" und zum Begriff des Politischen sie wiedergegeben. Ein anderer Haupteinfluss ist der Philosoph des nationalsozialistischen Denkdienstes, Martin Heidegger. Insbesondere seine Ressentiments gegen Technik und Moderne haben das Buch inspiriert. Zum Ausdruck kommt das in der Idee der "Vernutzung" sowie in der Klage über den angeblichen Mangel an menschlicher Nähe in der technifizierten Gegenwart.

Bei solchen Quellen werden selbst "Frauenzeitschriften", "Fitnessstudios" und "Smarts" zur Zielscheibe. Noch in der harmlosesten Äußerung der Jetztzeit sehen die Autoren Zeichen eines vorherrschenden "Imperialismus des Relativen". Diesen machen sie in rechtskonservativer Manier für die "Zerstörung sämtlicher Verwurzelungen" verantwortlich. Neu an diesem zusammengeflickten Unsinn ist vor allem, dass sich das Feuilleton dafür begeistert. FAZ und SZ rezensierten die Schrift derart positiv, dass sich ein Berliner Buchladen genötigt sah, ironisch per Rundmail zu kommentieren, große deutsche Tageszeitungen riefen nun zum Terrorismus auf.

In seinem Artikel in der FAZ feiert Nils Minkmar das antidemokratische Manifest als "glänzend geschriebene Zeitdiagnostik" und mutmaßt, es werde bald das "wichtigste linke Theoriebuch unserer Zeit" werden. Dabei ist natürlich vor allem fraglich, ob es sich überhaupt um ein linkes Buch handelt. Besonders angetan ist der FAZ-Autor von den antimodernen Ressentiments darin. Gegen Ende räumt er immerhin ein, dass die "schwarzen Geländewagen", die auf die Zerstörung des Staates folgten, wohl noch schlechter wären als die Gegenwart.

Noch weiter versteigt sich Alex Rühle in der SZ. Weitgehend kritiklos bestaunt der Internetverweigerer den "düsterrevolutionären Zorn" des Buches, seine "Aura der Hellsichtigkeit" und seine "heroische Melancholie". Gerade die darin vertretene "Partizipationsverweigerung" sagt ihm zu. Sein Urteil lautet kurz, es handele sich um "ein Weißbuch des Überlebens in stürmischen Zeiten". Und auch zu weiteren Entgleisungen lässt er sich verleiten: "Das System", schreibt er, "ist überall, fast wie Gas ist es noch in die letzten Ritzen des Privatlebens gedrungen."

Das Merkwürdige an der Gasmetapher ist nun: Sie ist nicht als Zitat gekennzeichnet und stammt auch nicht aus dem Text, weder aus der französischen noch aus der deutschen Ausgabe. Es ist der Rezensent, der hier schreibt - ein deutscher Journalist, der damit den globalen, demokratischen, marktwirtschaftlichen Zusammenhang bezeichnet, gegen den das Buch wettert. Die Gasmetapher ginge sogar für den paranoischen Duktus des Textes selbst zu weit.

Wer sich derart unbedacht mitreißen lässt, übersieht vor allem, dass Thesen im Stil des Buchs "Der kommende Aufstand" in Frankreich etwas anderes bedeuten als in Deutschland. Diesseits des Rheins ist das Ressentiment gegen Internationalismus, Demokratie und Technik fester Bestandteil des Revisionismus der Nachkriegszeit. Der Text ist eine Art Re-Import. Er schuldet vieles nicht - wie Rühle und Minkmar blind einen Frankreichkorrespondenten der NZZ kopieren - Michel Houellebecq, sondern eben den nationalsozialistisch gefärbten Theoretikern Heidegger und Schmitt.

Diese Einflüsse sind auch über ihren eifrigsten Epigonen Giorgio Agamben anwesend, auf dessen Buch "Die kommende Gemeinschaft" explizit Bezug genommen wird. Agamben und die beiden Deutschen werden im Umfeld des kommenden Aufstands kritiklos wie Vaterfiguren verehrt.

In diesem intellektuellen Milieu ist auch die Deutung des - vor allem technischen - Alltags westlicher Demokratien als Totalitarismus üblich, die das Hauptstilmittel des Texts ist und auf die der SZ-Artikel unwissentlich anspielt. Heidegger giftete 1949: "Die motorisierte Ernährungsindustrie ist im Wesen dasselbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern." Noch 1995 schrieb der Heidegger-Schüler Agamben in seinem Hauptwerk, "Homo sacer": "In den modernen Demokratien ist es möglich, öffentlich zu sagen, was die nazistischen Biopolitiker nicht zu sagen wagten." Mithilfe der Schmittschen Theorie des Ausnahmezustands und der von Foucault geborgten Figur der Biopolitik setzte er Menschenrechte und Rassengesetze, Intensivstationen und Konzentrationslager gleich.

Dass "Der kommende Aufstand" zu dieser Denkschule gehört, ist nicht nur wegen Agambens Freundschaft zu dem wahrscheinlichen Verfasser Coupat offensichtlich. Das Buch ist als eine praktische - erschreckend naive - Umsetzung der Thesen Agambens zu erkennen. Gegen eine angebliche "Normalisierung des Lebens" in den modernen Gesellschaften sucht man das vitalistische Heil im "Ausnahmezustand" jenseits von Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft - diese Idee einer besseren Zeit minus aller Koordinaten der Gegenwart hat man Schmitt und Heidegger zu verdanken, ebenso die Suche nach einem versteckten Totalitarismus der Demokratie. Letztere war für die beiden NS-Theoretiker strategisch notwendig, um ihre Kollaboration nachträglich zu relativieren. Dass das "linke" Gedanken sind, kann niemand ernsthaft behaupten. Von sozialer Gerechtigkeit, der Demokratisierung der Technik oder den Menschenrechten ist in dem Buch nie die Rede. Vielmehr folgt man vermeintlich auratischen Philosophenführern in ihrem Hass auf eine Gegenwart, in der sich niemand mehr durch altgriechische Zitate und Denkerposen beeindrucken lässt.

Man muss den Übersetzern des Buchs danken. Wie ein Lackmustest offenbart gerade seine missglückte Rezeption unbequeme Wahrheiten, die man in Zeiten der wieder aufblühenden Sozialgenetik und Deutschtümelei schon ahnte. Spätweimarer Dekadenz ist gesellschaftsfähig. In der deutschen Elite finden Ressentiments gegen Demokratie und Moderne Zuspruch, auch wenn sie mit politischer Gewalt verbunden sind. Gibt es in ihren Reihen zu wenige gefestigte Demokraten mit historischer Bildung?

Doch das Buch ist auch ein Paradebesipiel für die zu unkritische Frankophilie der sogenannten postmodernen Linken. In Bezug auf Re-Importe wie Schmitt und Heidegger ist sie besonders verfehlt - was der Toskana-Fraktion ihr Brunello ist der Deleuze-Fraktion die hohle, revolutionäre Geste, gern auch mit tiefbraunen Zitaten gewürzt.

Diese Art von elitärer Revoluzzerattitüde ist das beste Mittel, um die weitergehenden Kämpfe um die Emanzipation der Bürger von den Eliten zu schwächen. Wer ihnen aber Erfolg wünscht, sollte von antidemokratischen Ressentiments Abstand nehmen und sich zu den stets neu zu verwirklichenden Zielen von 1776 und 1789 bekennen. Die Politische Theologie sollte man besser ihrer angestammten Klientel überlassen, bei der sie offenbar immer noch gut ankommt.
"taz 22.11.2011"

Der gepostete Text unter dem Titel

xyz 19.12.2010 - 23:30
Zeitttotschläger ist aus der taz:

 http://taz.de/1/debatte/theorie/artikel/1/fast-wie-gas/

und nicht von ;)

weitere debattenbeiträge

Jungle World-Leserin 20.12.2010 - 14:03
der Schreiberling, der das Manifest in der Taz zerreisst, hat einen ähnlichen polemischen Artikel auch in der Jungle World veröffentlicht:

"Links ist das nicht"
 http://jungle-world.com/artikel/2010/47/42175.html

und wird dafür zwei Ausgaben später scharf kritisiert:

"Ein Feuer auf die Erde bringen"
 http://jungle-world.com/artikel/2010/49/42262.html

zu den verlinkten Debatten-"Beiträgen"

fragender 20.12.2010 - 14:10
muss man sich hier auf Indy tatsächlich auch mit der Debatte in (neu)rechten und deutschnationalen Zeitungen/Blogs beschäftigen?! Ich finde nein!
...und wenn das hier schon verlinkt wird, dann bitte kennzeichnen, dass z.B. Sezession und Jungesdeutschland aus dem völkisch-nationalen Burschi-Spektrum kommen

Ohne Hoffnung

Frederik 20.12.2010 - 16:40
Das Buch ist schrecklich, allerdings mit "schöner Zunge" geschrieben. Sich ein revolutionäres Subjekt herbei zu phanatasieren ist ein beliebtes "linkes" Mittel gegen die eingene Hoffnulosigkeit. Waren es früher mal die "Völker" im Trikont, die Multidude jetzt sind es mal wieder die ausgegrentzen Jugendlichen...als ob die bewustlosen Unterdrückten von selbt die Freiheit erschaffen... die analysefreie, redundante Lächerlichkeit hinter der schönen Sprache lässt sich nicht verbergen. Das dieses Buch in vielen etablierten Medien so eine Aufmerksamkeit bekommen hat, ist keine Wunder... es ist ein ungefährliches Werk, aber perfekt als Projektionsfläche für bürgerliche Befreiungsträume, die keinerlei Aktion nach sich ziehen.

@fragender 20.12.2010 - 14:10

Linksradikal 20.12.2010 - 16:44
Natürlich muss man sich mit den herrschenden Diskursen auseinandersetzen, das ist doch genau das, was linksradikale Politik bedeutet und die einzige Art und Weise, dass die Linke hierzulande endlich mal weiterkommt. Wir müssen gerade auch in konservativen Medien wie der FAZ etc, radikale Diskussionen entfachen - über die Zukunft der kapitalistischen Gesellschaft und über Alternativen. Dass das möglich ist, ist die überwiegend faire Diskussion des "Aufstands" in bürgerlichen Medien! Das ist der einzige "Way out of catastrophe"!


Szeneisolation verlassen, revolutionäre Gesellschaftskritik diskursfähig machen!

taz-schmodder

dan 21.12.2010 - 19:56
Die Autoren stützen sich dabei auch auf Carl Schmitt, den Kronjuristen des Reiches, dessen Thesen zum "Ausnahmezustand", zum "Partisanen" und zum Begriff des Politischen sie wiedergegeben. Ein anderer Haupteinfluss ist der Philosoph des nationalsozialistischen Denkdienstes, Martin Heidegger. Insbesondere seine Ressentiments gegen Technik und Moderne haben das Buch inspiriert. Zum Ausdruck kommt das in der Idee der "Vernutzung" sowie in der Klage über den angeblichen Mangel an menschlicher Nähe in der technifizierten Gegenwart.

Schön dass der Autor in der taz nicht mal die These des Ausnahmezustand wiedergibt und die Art und Weise, wie sich darauf bezogen wird. Die These zum Ausnahmezustand ist eine staatstheoretische. Schmitt behauptet, dass Souverän sei, wer den Ausnahmezustand definiere. Daran anknüpfend kann man sich dann aber eben entgegen Schmitt die Frage stellen, wie diese Souveränität dem Herrschenden Apparat entrissen werden kann. Und der Begriff des politischen, wie er sich in "Der kommende Aufstand" findet, findet sich nicht nur bei Schmitt so. Alles in allem ist der Artikel in der taz, wie auch in der Jungle World, eine einzige Hetzschrift, dem keine zu Ende gedachte Argumentation zu Grunde liegt. Wie sich die Jungle zu sowas hat hinreißen lassen, ist mir ein Rätsel.

Endlich mal etwas gutes in linken Printmedien

ak-Leser_innen 26.01.2011 - 15:31
In der aktuellen "analyse und kritik" gibt es ein Gespräch zum Buch "Der kommende Aufstand". Lesenswert:  http://www.info.libertad.de/story/2011/01/die-kommende-auferstehung

Jan Ole Arps und Bernd Müller sprachen für ak mit H.P. Kartenberg, aktiv bei Libertad! und in der IL, und Stephan Geene vom Berliner Buchladen und Verlag b_books über Entfremdungskritik, Rebellion und die Frage, wo eigentlich die Zukunft beginnt.

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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gute analyse — tagmata

Sehr schlechtes Buch — Roland Ionas Bialke

gute diskussiosgrundlage — für die mensa

Lügen-TAZ — Anarcho