"Das gewalttätigste Vorgehen in zehn Jahren"

Ermittlungsausschuss Wendland 11.11.2010 20:42 Themen: Atom Repression
Gewalttätiger Atomstaat Castor
Fazit des Polizeieinsatzes vom Ermittlungsausschuss Wendland

„In der Summe einer der brutalsten Polizeieinsätze anlässlich eines
Castor-Transportes ins Wendland, auf jeden Fall das gewalttätigste
Vorgehen der uniformierten Staatsmacht im Wendland in den letzten zehn
Jahren“, fasst der Ermittlungsausschuss Wendland seine Eindrücke vom
Protestgeschehen im Wendland vom 6. bis zum 9. November zusammen.
Die Größe und Vielfalt der Proteste gegen den Castortransport in den
letzten Tagen haben die Ablehnung der herrschenden Atompolitik in
eindrucksvoller Weise verdeutlicht. Die polizeilichen
Einsatzstrategie ging mit Einschränkungen des Versammlungsrechtes
durch Ingewahrsamnahmen, Platzverweise und umfangreichen
Personalienkontrollen einher, die durch systematische polizeiliche
Gewaltexzesse am Sonntag in der Göhrde ergänzt wurden. Die
polizeiliche Durchsetzung des Transportes kann die mangelnde
politische Legitimität der Atompolitik des Castortransportes nicht
ersetzen.

In der Zeit vom 6. bis zum 9. November wurden mindestens 49 Personen
von der Polizei in stationären Gewahrsam genommen. Nach den
vorläufigen Erkenntnissen des EA Wendland wurden 25 Personen in die
Gefangenensammelstelle (Gesa) Lüchow verbracht, 24 Personen in der
Gesa Lüneburg festgehalten und ca. 1300 AktivistInnen in einem von der
Polizei als mobile Gesa bezeichneten Kessel unter freiem Himmel
festgehalten.

Über die Zahl und den Umfang sonstiger repressiver Maßnahmen wie
Durchsuchungen, Beschlagnahmungen von Material und Grundstücken,
Betretungs- und Durchgangsverboten, gewalttätige Übergriffe gegen
Einzelne, Personalienfeststellungen auf dem Weg zu Mahnwachen,
Platzverweisen für einzelne Orte oder weite Teile des Landkreises
Lüchow-Dannenberg liegen nur fragmentarische Daten vor.

Am 8.11. wurden ohne Rechtsgrundlage Hofdurchsuchungen in Grippel,
Zadrau und Langendorf durchgeführt, obwohl sie offensichtlich länger
geplant waren. Die Bewegungsfreiheit von RechtsanwältInnen in der
Nacht vom 8. auf den 9.11. entlang der Straßentransportstrecke war
phasenweise durch polizeiliche Maßnahmen stark behindert. In der Nacht
vom 8. auf den 9. November hinderte die Polizei AnwohnerInnen in
Laase, Grippel und Quickborn daran, ihre Häuser zu verlassen.

Scharfe Kritik übt der EA Wendland an den Zuständen im Kessel unter
freiem Himmel in der Nacht vom 7. auf den 8. November am Ortsausgang
von Harlingen. Bei der Errichtung dieses ‚Gefangenenlagers‘ wurden
Gegenstände der benachbarten Mahnwache zerstört. Unklar ist die
Rechtmäßigkeit einer solchen Maßnahme, die an jedem richterlichen
Beschluss vorbei von der Polizei geplant und umgesetzt wurde. Die
richterliche Bereitschaft des zuständigen Amtsgerichtes, die für die
Überprüfung der Fortdauer von Ingewahrsamnahmen zuständig ist, wurde
erst vom anwaltlichen Notdienst über die Existenz dieses
freiheitsentziehenden Kessels in Kenntnis gesetzt. Die Polizei
verhinderte stundenlang die Möglichkeit der richterlichen Überprüfung
der von ihr durchgeführten Maßnahmen gegenüber etwa 1300
DemonstantInnen in Harlingen.

So waren viele Hundert Personen gezwungen, bei Temperaturen unter dem
Gefrierpunkt mehrere Stunden in der Kälte in Gefangenschaft zu
verbringen. Zusätzlich wurden sie dabei unangekündigt und fortdauernd
durch die Polizei fotografiert. Erst nach Intervention von Seelsorgern
und RechtsanwältInnen konnte eine minimale Versorgung mit warmen
Nahrungsmitteln durch die Volxküchen des Castor-Widerstandes
ermöglicht werden. Durch die Polizei war eine Versorgung mit
Lebensmitteln auch bei Freiheitsentziehungen von mehr als vier Stunden
unter diesen Bedingungen weder vorgesehen noch ermöglicht. ‚Dies
erinnert fatal an die rechtswidrigen Zustände im Laaser Kessel
anlässlich des Castor-Transportes 2003‘, erinnerte eine Sprecherin
des Ermittlungsauschusses an die gerichtlich festgestellte
Rechtswidrigkeit des damaligen polizeilichen Vorgehens in Laase.

Der erschreckendste Angriff auf die Grundrechte der DemonstrantInnen
ist jedoch die brutale Gewaltförmigkeit des polizeilichen Vorgehens
gegen DemonstrantInnen, JournalistInnen und
DemonstrationsbeobachterInnen in der Göhrde am Sonntag. Dabei hatten
Hunderte PolizistInnen mit Schlagstöcken auf DemonstrantInnen
eingeprügelt und großflächig und massenhaft Reizgas und Pfefferspray
eingesetzt. Dabei wurden über 1000 Personen verletzt. Das Ziel dieses
regional bislang beispiellosen Polizeieinsatzes ist nicht die
Auflösung einer Versammlung oder die Verhinderung einer Gleisbesetzung
gewesen, sondern ganz offensichtlich die massenhafte Verletzung und
Einschüchterung von Aktivistinnen und Aktivisten. Augenzeugen
berichten übereinstimmend, dass die Polizei ohne Vorwarnung und ohne
vorigen Anlass vorgegangen sei. Sie trägt damit die alleinige
Verantwortung für die späteren kleineren Auseinandersetzungen mit
DemonstrationsteilnehmerInnen, bei denen auch vereinzelt Einsatzkräfte
leicht verletzt wurden.

Abseits der Scheinwerfer und der Presse übten PolizistInnen gehäuft
schmerzhafte Griffe und Schläge gegen SitzblockiererInnen in Harlingen
aus. Besonders der Abtransport von den Gleisen zum Kessel erfolgte
nicht selten unter der Androhung der Zufügung von Schmerzen, wenn
BlockiererInnen nicht mitgehen, sondern auf dem Wegtragen bestehen
wollten.

Auch Polizei aus Frankreich und Kroatien war vor Ort. In mindestens
einem Fall haben französische CRS-Kräfte ihre Beobachtungsrolle
verlassen. Den EA erreichten am 8.11. Schilderungen von Übergriffen
durch Polizisten in CRS-Uniform nahe Leitstade. Ebenfalls kam während
des Castoreinsatzes eine vermutlich polizeiliche Überwachungsdrohne
probeweise zum Einsatz.

Trotz der ruhigen Räumung in der letzten Nacht vor dem Zwischenlager
stellt der EA Wendland in der Gesamtschau fest, dass der
Castortransport mit einer massiven Verletzung grundlegender
rechtsstaatlicher Gebote einhergeht. Diese systematische Aushebelung
der Grundrechte für die Durchsetzung der Interessen der Atomwirtschaft
bezeichnen wir als Atomstaat.

Der Ermittlungsausschuss Wendland wird alle Betroffenen der
polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Repression unterstützen,
wenn diese das wünschen. Wie immer hat sich die Staatsmacht Einzelne
herausgegriffen, um sie einzuschüchtern und stellvertretend für eine
ganze Bewegung zu bestrafen. ‚Gemeint sind alle, und gemeinsam kann
dieser Einschüchterung wirksam begegnet werden‘, stellt der EA
Wendland fest.
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Ergänzungen

Demokratie außer Kraft

Heinz Eckel 12.11.2010 - 20:58
Neben Reiterstaffeln wurden von der Polizei auch diesmal wieder abgerichtete Hunde eingesetzt (siehe:  http://www.youtube.com/watch?v=RsOodH_kYOM , außerdem  http://www.youtube.com/watch?v=Sj8Q7XzDJfM). Im Video tragen sie teilweise noch Maulkörbe, aber in der Vergangenheit hat es im Wendland auch schon üble Bissverletzungen von DemonstrantInnen durch solche Hunde gegeben.

Die in Harlingen eingerichtete mobile "Gefangenensammelstelle" stellte in Wirklichkeit ein zeitweiliges Konzentrationslager dar. Rückzugsräume gab es nicht, auch keinen ausreichenden Schutz gegen die nächtliche Kälte. Den von außen hinzustoßenden Widerstandsgruppen war es zu verdanken, es durch das Verteilen von Isolierfolien nicht zu schlimmeren Unterkühlungsfolgen kam. Die gesamte Wiese wurde mit Flutlichtmasten permanent ausgeleuchtet - Überwachung total. Die vorgeschriebene richterliche Vorführung wurde von der Polizei verweigert. Anfangs gab es noch nicht einmal Getränke. Die Eingepferchten waren so der Willkür der Polizei völlig ausgeliefert. Mir selbst kam beim Betreten dieser Wiese sofort eine spontane Assoziation: "Das ist ja wie in Chile", dachte ich und erinnerte mich an die Bilder von den inhaftierten politischen Gefangenen im Nationalstadion von Santiago nach dem US-initiierten Militärputsch von 1973. Ohne den Unterschied zwischen den Verbrechen der chilenischen Militärdiktatur und einer unterkühlten Nacht im Harlinger Polizeigewahrsam verwischen zu wollen: die Konzentration, Isolation, Überwachung und Entrechtung politischer Gegner folgt den gleichen Grundmechanismen.

Auch die Bundeswehr lwar an den Polizeiaktionen - zumindest mittelbar -beteiligt, ebenso die schon erwähnten ausländischen Polizisten. Weitere Rechtsverletzungen folgten: in Groß Gusborn drang die Polizei Montagnacht auch in das Privatgelände von Anwohnern ein, bei Splietau war die Bundesstraße schon am Vortag des Castor-Straßentransports selbst für Fußgänger und Radfahrer unpassierbar.

Der polizeilich-militärische Ausnahmezustand zeigt vor allem, dass der Atomstaat nicht mit der Demokratie vereinbar ist, und dass das Wendland auch diesmal wieder als Übungsgebiet für die - auf dem Weg der Internationalisierung befindliche - Aufstandsbekämpfung diente.

mach mich...

...mal einer schlau 14.11.2010 - 11:51
Seit wann brauche ich bei einer Ingewahrsamnahme von einigen Stunden eine richterliche Vorführung? Wo soll das stehen? Im niedersächsischen Polizeigesetz?
Ich kann mich erinnern, daß in Niedersachsen im Zusammenhang mit den Chaostagen um 1995 oder 96 die Möglichkeit geschaffen wurde, bei besonderen Anlässen Gebiete zu definieren, aus denen die Polizei beliebig Personen verweisen kann, ist das eigentlich noch aktuell?

Kleiner Beitrag zur Wahrheit

H.E. 14.11.2010 - 19:27
- beim CRS-Polizisten handelte es sich wohl kaum um eine Notwehrsituation, siehe:  http://www.tiny.cc/flics (Fotostrecke)
sowie die diesbezüglichen Taz-Artikel, die auch von weiteren Übergriffen der Polizei handeln:
 http://www.taz.de/1/archiv/print-archiv/printressorts/digi-artikel/?ressort=wu&dig=2010%2F11%2F13%2Fa0182&cHash=facba97c65
und:  http://www.taz.de/1/archiv/print-archiv/printressorts/digi-artikel/?ressort=me&dig=2010%2F11%2F13%2Fa0195&cHash=987ab33f25

- es waren gleich mehrere ausländische Polizisten (verschiedener Nationalität) an der Bahnstrecke im Einsatz, was auf eine geplante konzertierte Aktion bzw. Übung (im Sinne einer Internationalisierung der "Aufstandsbekämpfung") hindeutet, siehe dazu auch:  http://www.jungewelt.de/2010/11-10/056.php

Und: das Nationalstadion von Chile ist nicht ein einfaches "Fussballstadion", sondern diente nach dem Militärputsch monatelang als KZ. Das Wegsperren und Entrechten Oppositioneller ist - bei allen Unterschieden - im Übrigen kein Kavaliersdelikt und auch nicht harmlos, sondern hat System.
(Und für psychologisch Interessierte: Assoziationen kann man nicht willkürlich erzeugen, sie entstehen - wie schon gesagt - spontan und nicht ohne Grund und Bedeutung.)

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