Interview mit rumänischem Anarchosyndikalist

Syndikalismus.tk 29.05.2010 18:27 Themen: Soziale Kämpfe Weltweit
Ein Interview mit einem rumänischen Anarchosyndikalisten zu den Gewerkschafts- und Sozialprotesten gegen die Spar- und Kürzungsmaßnahmen zum 1. Juni 2010.
„Die Leute haben nichts zu verlieren“ – Interview mit einem rumänischen Anarchosyndikalisten zu den Protesten gegen die Sparmaßnahmen der Regierung

Am 19.Mai gingen in der rumänischen Hauptstadt Bukarest an die 50.000 Menschen auf die Strasse, um gegen die Kürzungs- und Sparpläne der Regierung zu protestieren. Nach Willen der Regierung und des Internationalen Währungsfonds (IWF) sollen die Löhne im Öffentlichen Dienst ab dem 1. Juni um 25% gekürzt werden und die Renten und Erwerbslosenunterstützung um 15%. (Syndikalismus.tk berichtete).
Zur landesweiten Demonstration in Bukarest hatten die Gewerkschaften aufgerufen. Diese haben abermals mit einem Generalstreik - diesmal am 31. Mai - gedroht, wenn die Regierung die Kürzungen nicht zurücknimmt. In der Vergangenheit erwiesen sich diese Drohungen als leeres Aufgeblase der reformistischen und zum größten Teil korrupten Gewerkschaften. Verschlechterungen wurden besonders bei den im öffentlichen Dienst Beschäftigten nicht verhindert.

Das folgende Interview über die Kürzungsankündigungen der Regierung führten wir mit dem Genossen Diogenes (30) aus Bukarest. Er ist Anarcho-Syndikalist und als Sozialarbeiter bei der Stadt Bukarest angestellt und somit von den angekündigten Lohnkürzungen und Entlassungen direkt betroffen.

Syndikalismus.tk: Am 19. Mai gingen in Bukarest über 50.000 ArbeiterInnen, LehrerInnen und RenterInnen auf die Strasse. In den gerufenen Parolen wurde auch ein Rücktritt der Regierung gefordert. Denkst du, die Demonstration war ein Erfolg und veranlasst die Regierung ihre angekündigten Kürzungsmaßnahmen zurückzunehmen? Wie bewertest du den 19. Mai?

Der Protest vom 19. Mai wurde von den Gewerkschaften initiiert, die in Rumänien aktiv sind. Diese Gewerkschaften haben meiner Auffassung nach nichts mit der Verteidigung von ArbeiterInnen-Rechten zu tun und sind sehr nahe an dem, was man gewöhnlich „gelbe Gewerkschaften“ nennt. Viele dieser Gewerkschaftsführer sind Millionäre. Und viele dieser Gewerkschaften häufen große Summen von Geld an (Der Mitgliedsbeitrag liegt bei 1% vom Brutto-Verdienst eines/einer ArbeiterIn). Es ist gesetzlich vorgeschrieben, das ein Arbeiter einen Arbeitsvertrag unterschreiben muss (welcher im Vorhinein mit den Gewerkschaften und den Kapitalisten/Unternehmen ausgehandelt wurde und die Abgaben an Gewerkschaften und Staat festschreibt). Außerdem: Auch wenn man sich weigert, einer solchen Gewerkschaft beizutreten, wird der rumänische Staat dennoch 0,6% vom Bruttoeinkommen einziehen, unter dem Vorwand, das dieses Geld in einen speziellen Fond geht, der für die sog. „Kollektivverhandlungen“ zwischen Unternehmern und Gewerkschaften eingerichtet wurde. Das ist eine riesige Summe an Geld – Millionen Euro jeden Monat. Das ist reine Mathematik und hat nichts mit Spekulationen zu tun. Wenn sie solch eine Riesensumme an Geld verwalten – weshalb müssen sie dann noch diejenigen Ausrauben, die sich weigern einer solchen Gewerkschaft beizutreten?

Bei diesen Gewerkschaften gibt es auch überhaupt keine Transparenz. Die Gewerkschaftsführer haben ihre Positionen auf Lebenszeit inne. Ich habe noch nie von Versammlungen einer Gewerkschaft oder von Wahlen innerhalb einer Gewerkschaft gehört. Die Schlussfolgerung daraus führt unweigerlich zu dem Ergebnis, das diese Gewerkschaften ein dubioses Geschäft betreiben und nichts mit der Verteidigung von ArbeiterInnen-Rechten zu tun haben.

Was denke ich nun über den Protest vom 19ten Mai? Sorry, das ich dies so sage: Aber ich denke, das da einfach ein Mob von 50.000 Leuten dorthin gebracht wurde, ohne jegliches Ergebnis. Und ich denke, das die (parlamentarische) Opposition die aktuelle Situation als Möglichkeit begreift, den Platz der aktuellen schlechten Regierung für eine andere, ebenso schlechte Regierung freizumachen, - die ihre nämlich. Ich bin von der Tatsache überzeugt, das jegliche Kritik, die gegen die Regierung von den Gewerkschaften vorgebracht wird, nichts weiteres als eine Unterstützung für die Opposition darstellt. Warum sollte ein Gewerkschaftsführer seine Position komprimieren? Sie werden aus eigenem Interesse auf der Seite der Opposition bleiben, denn die Regierung ist kompromittiert. Bis ein wirklich authentischer Geist der Rebellion an der Oberfläche erscheint, wird sich nichts ändern.

Ich weiss nicht, ob die Regierung die Entscheidung zur Lohnkürzung zurücknehmen wird. Aber ich weiß das diese Krise in jedem Fall auf den Schultern der Armen ausgetragen wird. Wie auch immer – so wie jetzt von der Regierung mit Lohnkürzungen oder mit irgendeinem anderen „alternativen“ Projekt der Regierung oder der Opposition im Parlament. Das ist die klare staatliche Richtschnur. Das ist seine Moral.

Syndikalismus.tk: Im Ausland, auch in Deutschland, wurde die Demonstration deutlich zur Kenntnis genommen. Besonders in den linksradikalen und dem offiziellen FAU-Bericht findet sich die Erwartung wider, das in Rumänien nun das Eintritt, was schon in Griechenland der Fall ist: Generalstreiks und massenhafter Protest. Ist diese Erwartungshaltung realistisch?

Solch eine große Erwartung wird zu großer Enttäuschung führen, wenn die Dinge einen anderen Verlauf nehmen. Wie sollte so was denn möglich sein, wenn man Bescheid weiß, wie die Gewerkschaften in Rumänien sind? Generalstreik und Massenproteste müssen ihren Ausgangspunkt bei der Initiative der ArbeiterInnen nehmen, ohne jeglichen Einfluss dieser so genannten Gewerkschaften, die -, ich habe daran keinerlei Zweifel – alles unternehmen werden, eine Arbeiterrevolte scheitern zu lassen und in irgendetwas unproduktives, nicht erfolgreiches laufen zu lassen. Im Interesse der Regierung oder anderer Kräfte.

Wie auch immer: Die Zeitpunkt dafür, das massiver Protest stattfinden kann, ist genau jetzt. Ausgelöst durch die rasant wachsende Armut innerhalb der Arbeiterklasse: wachsende Erwerbslosigkeit, die Unmöglichkeit die Raten für aufgenommene Kredite für ihren hässlichen, kleinen und sehr teuren Häuser zurückzahlen zu können usw. Die wichtigsten Bedingungen dafür, das dieser Protest stattfinden kann, sind: 1. Sie müssen spontan stattfinden und 2. Sie müssen außerhalb der parasitären Organisationen organisiert werden, die sich als „Gewerkschaften“ maskieren.

Die Bedingungen, die den massiven Protest in Griechenland hervorbringen, sind viel softer, als die rauen Konditionen, mit welchen die rumänischen ArbeiterInnen zu handeln haben. Wir werden sehen, ob der Geist der Solidarität so stark sein wird, wie er es in Griechenland ist. Aber wir müssen berücksichtigen, dass in Griechenland eine lange Tradition des Kampfes in basis-demokratischen Gewerkschaften existiert und ihnen radikale Ideen nicht fremd sind. Beides ist in Rumänien nicht der Fall. Wie auch immer – wir müssen Voraussetzungen für diese Art von Situationen schaffen und anarchistische Agitation wäre sehr nützlich in diesen Zeiten.

Syndikalismus.tk: In der Vergangenheit waren ja immer wieder Generalstreiks verschiedener Branchengewerkschaften angekündigt worden. De facto wurden sie nicht wirklich befolgt, bzw. die Masse der Streikenden blieb zuhause und trug den Protest nicht auf die Strasse und damit in die Öffentlichkeit. Sind die Gewerkschaften überhaupt in der Lage tatsächlichen Druck aufzubauen? Und in welchen Branchen siehst du den meisten möglichen Erfolg gewerkschaftlicher Aktionen?

Ein großer Teil der Beschäftigten, die zur Teilnahme aufgerufen wurden, blieb nicht zu Hause sondern auf ihrer Arbeitsstelle unter dem Druck der Ausbeuter. Ich habe es schon zuvor gesagt – die gelben Gewerkschaften haben das Monopol und die ganze Situation stinkt nach Betrug. Wer informierte die Beschäftigten darüber dass es ein großer Protest werden würde? Nicht die Gewerkschaftsführer. Die Geschäftsführer taten es und die Geschäftsführer entschieden auch, wer zum Protest gehen sollte und wer auf der Arbeit bleiben sollte. Es gibt überhaupt keine Kommunikation zwischen diesen Führern der Gewerkschaften und den Mitgliedern der Gewerkschaften. Chefs und Gewerkschaftsführer haben kein Interesse daran, realen Druck zu machen.

Wie auch immer – ich war genau so wie du von den Aktionen der RenterInnen beeindruckt. Ich weiß, das einige RenterInnen-Vereinigungen in Rumänien aktiv sind, aber ich weiß nicht, wer sie so gut organisierte. Getrieben von Verzweiflung haben sie Solidarität gezeigt, die niemand erwartet hatte. Sie haben auch aktuell angekündigt, am Montag, den 31. Mai erneut zu protestieren. Diesmal in Ketten, um zu zeigen, unter welchen sklavischen Bedingungen sie leben. Ihre soziale Situation ist eine der schlechtesten und sie kämpfen ums nackte Überleben. Ich muss nicht übertreiben zu sagen, das 2010 und 2011 die Jahre mit der höchsten Sterberate unter den RenterInnen sein werden. Mit ihren Unterstützungs-Renten waren sie schon jetzt nicht zu mehr in der Lage, als Essen zu kaufen. Mit dieser angekündigten 15%igen Kürzung und ohne medizinische Unterstützung (die Regierung hat bereits zahlreiche medizinische Versorgungsstätten geschlossen) und ohne finanzielle Unterstützung für Heizung und andere Notwendigkeiten; – diese Jahre die kommen, werden die allerschlimmsten in den letzten 60 Jahren für sie sein. Diese Einsparungen sind nichts anderes als ein Genozid.

Syndikalismus.tk: Sind KollegInnen aus deiner Branche auch am Protest beteiligt? Und gibt es unter ihnen eine Diskussion über die Kürzungen und für gemeinsame Aktionen dagegen?

Ich bin kein Mitglied einer Gewerkschaft und will das auch nicht sein. Im Falle einer „Neu-Organisation“ des Betriebes, werde ich einer der ersten sein, die Erwerbslos werden. Denn der Geschäftsführer wird eine Liste mit all denen erstellen, die gehen sollen. Und über diese Liste wird mit den Gewerkschaftsführern verhandelt werden. Das ist mehr als Sicher. Die Diskussionen mit meinen KollegInnen sind von dieser „Neu-Organisation“ bestimmt und viele von ihnen haben sich entschieden der Gewerkschaft beizutreten und an den Protesten teilzunehmen.
Diese Diskussionen über die Kürzungen wiegeln aber auch zum Aufstand auf, doch zu einem Aufstand, der schon beim entstehen von innen unterdrückt wird, bevor etwas von ihm an die Oberfläche tritt. Eine reine Propaganda der Worte bringt diesen Aufstand nicht einfach so zum explodieren. Die Menschen müssen sich der großen Macht bewusst werden, die sind in der Hand halten. Sie heißt: Solidarität.

Syndikalismus.tk: Wie würdest du die Stimmung in der Bevölkerung und speziell in der Arbeiterklasse einschätzen? Sind Themen wie Klassenkampf und der Kampf für eine antikapitalistische Gesellschaft wieder auf der Tagesordnung?

Die empörenden Situationen lassen unter den Menschen nichts anderes als Wut bestimmend sein, das ist vorhersagbar. Die Gewerkschaften wissen das, die Regierung weiß das und die Opposition schlägt ihren Vorteil daraus. Das ist nichts Neues unter der Sonne. Wie viel ist eingeflüstert bei den Protestdemonstrationen und wie viel ist authentisch – das sollte die Frage sein. In dieser Situation, wenn die Menschen ums überleben kämpfen, sollten die Proteste einem Konzept der Illegalität folgen. Mit parasitären Gewerkschaften im Rücken kann man sich leicht vorstellen, das Anti-Kapitalismus und Klassenkampf keine gängigen Begriffe auf der Tagesordnung der Leute sind und Rückforderungen ja grundsätzlich in alternativen Lösungen begrenzt sind; wie progressive Besteuerungen anstelle von Lohn- und Rentenkürzungen.

Der Mindestlohn hier liegt bei 705 Lei im Monat. Das bedeutet – dem Kurs der Nationalbank zu folge – 160 Euro. Auf der anderen Seite sind die Preise hier oftmals höher als in Deutschland. Nach 20 Jahren Kapitalismus, wenn du 65.000 Euro für eine Einzimmerwohnung bezahlen musst, während die meisten ArbeiterInnen zwischen 200, 300 Euro pro Monat verdienen – sollte dieser simple Fakt den Leuten klar machen, das Kapitalismus einfach nicht funktioniert.

Syndikalismus.tk: Gab es eine spürbare Beteiligung von AnarchosyndikalistInnen oder AnarchistInnen an den Protesten?

Nicht wirklich. Ich bin nicht organisiert und es gibt keine basisdemokratischen Gewerkschaften hier. Die anarchistische Bewegung in Rumänien steht an ihrem Anfang und ist mehr mit künstlerischen Manifestationen und in der Underground-Kultur aktiv.

Syndikalismus.tk: Was wäre das Beste, um die Angriffe der Regierung zu stoppen?

Generalstreik um die Ökonomie lahm zu legen. Und ich würde hinzufügen, als ein Hobby – die Sabotage der Banken, welche die gesamte Existenz der Menschen stehlen. Die Leute haben nichts zu verlieren. Anarcho-Syndikalismus für die Zukunft!

Syndikalismus.tk Hab vielen Dank für das Interview!

Original hier
 http://syndikalismus.wordpress.com/2010/05/29/„die-leute-haben-nichts-zu-verlieren-–-interview-mit-einem-rumanischen-anarchosyndikalisten-zu-den-protesten-gegen-die-sparmasnahmen-der-regierung/

Siehe auch

Rumänien: „Nieder mit Basescu“ – Wütender Protest der RentnerInnen gegen Kürzungen vom 15. Mai 2010 auf Syndikalismus.tk

Auch in Rumänien: Regierung kündigt extreme Lohn- und Rentenkürzungen zum 1. Juni an vom 07. Mai 2010 auf Syndikalismus.tk

Rumänien: Lehrer auf der Strasse gegen die Regierung und ein genereller Einblick ins Bildungssystem vom 29. März 2010 auf Syndikalismus.tk

Interview mit AnarchistInnen aus Iaşi (Rumänien) vom 12. November 2009 auf Syndikalismus.tk

* Die FAU Moers verfasste folgenden euphorischen Bericht über die Proteste: Rumänien: Gegen das Spardiktat – Größte Demo seit dem Sturz Ceausescus auf fau.org
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Ergänzungen

Tja, das alte Problem

Scherzkeks 30.05.2010 - 18:48
Syndikalismus.tk: Gab es eine spürbare Beteiligung von AnarchosyndikalistInnen oder AnarchistInnen an den Protesten?

Nicht wirklich. Ich bin nicht organisiert und es gibt keine basisdemokratischen Gewerkschaften hier. Die anarchistische Bewegung in Rumänien steht an ihrem Anfang und ist mehr mit künstlerischen Manifestationen und in der Underground-Kultur aktiv.

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Die meisten Anarchisten scheitern an an der schlechten Organisation...

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