Zwitter & progressive LGBTs gg. Vereinnahmung

Zwischengeschlecht.org 23.08.2009 13:00 Themen: Biopolitik Blogwire Gender Soziale Kämpfe
Die ungefragte politische Adoption von Zwittern als Unterabteilung von "sexuelle Identität", "Sexualität", "(Trans-)Gender" usw. trägt bei zur Unsichtbarmachung der realen, zwangsoperierten Zwitter und ihrer spezifischen Anliegen in der öffentlichen Wahrnehmung.

Die Geschichte der Kritik an dieser Vereinnahmung inkl. Aufforderungen zur Selbstreflexion ist wohl so alt und vielfältig wie der Kampf der Zwitter gegen genitale Verstümmelung und für "Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit auch für Zwitter!" 

Wird 2009 das Jahr, in dem diese Kritik bei den organiserten LGBTs endlich ankam? 
Vertreter_innen englischsprachiger Zwitterorganisationen kritisieren seit langen Jahren Vereinnahmung ("appropriation") durch LGBT-Interessen:

Raven Kaldera:
"Dangerous Intersections: Intersex and Transgender Differences" (2001)
>>> http://ravenkaldera.org/intersection/DangerousIntersections.html

Chris Somers:
"The appropriation of the Intersexed" (2002)
zu unterst auf >>> http://www.intersexualite.org/Intergender-Index.html

Caitlin Petrakis Childs in einem Thread auf Queers United (2009):
>>> http://queersunited.blogspot.com/2009/07/word-of-gay-intersex-surgery.html

Nicky in einem Thread auf "A Room of our Own" (2009):
>>> http://aroomofourown.wordpress.com/2009/03/26/in-support-of-intersexed-classifiedraised-as-female

Ebensolange kritisieren Zwitter-Aktivist_innen den Missbrauch von zwangsoperierten Zwittern als "Daten- und Rohmaterial" im Rahmen von Gender Studies – und fordern stattdessen aktive Solidarität:

"Die Ergebnisse dieser Pilotstudie bestätigten unsere Vermutung, dass Intersex Hauptsächlich als Forschungsobjekt verstanden wird, um den Begriff der Zweigeschlechtlichkeit (und des Sexismus, sowie der Homophobie) zu dekonstruieren, und nicht als ein Thema gesehen wird, das in der realen Welt Implikationen für reale Leute hat."

"Auch wenn die Lehrenden die besten Absichten hegen, untergraben fehlendes Bewusstsein für und die fehlende Beachtung der Realitäten von Intersexuellen die adäquate Darstellung des Themas. Dabei werden unbeabsichtigt die Nicht-Sichtbarkeit und die Objektivierung der Intersexuellen perpetuiert." 

Emi Koyama / Lisa Weasel:
"Von der sozialen Konstruktion zu sozialer Gerechtigkeit. Wie wir unsere Lehre zu Intersex verändern." (2002)
>>> In: Die Philosophin. Forum für feministische Theorie und Philosophie. 14. Jahrgang, Heft 28, Dezember 2003: "Intersex und Geschlechterstudien". Tübingen: Edition Diskord, 2003, S. 79-89.

Progressive Feministinnen kritisieren seit über 10 Jahren die teils rassistischen Hintergründe des Umstands, dass Genitalverstümmelungen an Zwittern nicht auf der gleichen Stufe bekämpft werden wie Genitalverstümmelungen an Frauen:

"Deutlich ist jedenfalls, dass sich feministische Medien für Genitalverstümmelungen als alltäglicher medizinischer Praxis in modernen westlichen Gesellschaften nicht interessieren, während - häufig rassistisch gefärbte - Beiträge über "unzivilisierte" Praktiken der Klitorisbeschneidung und Verstümmelung in einigen afrikanischen Staaten durchaus zum bewährten Repertoire zählen."

Antke Engel:
"Ene mene meck und du bist weg. Über die gewaltsame Herstellung der Zweigeschlechtlichkeit" (1997)
Hamburger Frauen Zeitung, No. 53, Herbst 1997, S. 26-28
>>> http://blog.zwischengeschlecht.info/pages/Antke-Engel:-Ene-mene-meck-Hamburger-Frauenzeitung-53-1997

Gar Ansätze zu einer kritischen Aufarbeitung der feministischen (Ideen-)Geschichte und ihrer Verwicklungen in der Durchsetzung der genitalen Zwangsoperationen im Namen von "Gender" wurden schon geleistet:

"Ohne sich der Quelle bewusst zu sein oder darauf zu reflektieren, 'umarmte' die zweite amerikanische Frauenbewegung den nützlichen Begriff Gender und begründete mit ihm den Ursprung einer neuen wissenschaftlichen Spezies (Disziplin), die Gender Studies."

"Vonnöten ist allerdings nicht nur ein Bewusstsein der Gender Studies gegenüber der Real-Existenz von Intersexualität und den traumatisierenden Effekten des gegenwärtigen Gender Nrmalisierungsregimes, sondern es ist ebenso zentral, die Genealogie der Kategorie Gender erneut zu durchschreiten und die Geschichte ihrer Operationalisierung mit der Tatsache zu konfrontieren, dass sie sozusagen in ihrer Ursprungsszene schon 'operativ' war."

Gabriele Dietze:
"The Cutting Edge of Gender Studies. Die Geburt der Kategorie Gender aus dem Geist des Skalpells"
a.k.a "Schnittpunkte. Gender Studies und Hermaphroditismus" (2006)
>>>
In: Dietze / Hark (Hg.): "Gender kontrovers. Genealogie und Grenzen einer Kategorie." Königstein/Taunus: Ulrike Helmer Verlag, 2006, S.46-68. 

Auch progressive Schwule kritisieren seit Jahr und Tag die unreflektierte Vereinnahmung von Zwittern:

"Sie sehen nicht, dass die ungefragte Adoption von Hermaphroditen durch die Lesben-, Schwulen- und Transenbewegung einer Überrumpelung und Kolonialisierung gleichkommt und moralisch unzulässig ist, weil sie das eigentliche Anliegen von Menschen mit medizinischer Gewalterfahrung überdeckt":

Georg Klauda:
"Fürsorgliche Belagerung" (2002)
>>> http://gigi.x-berg.de/texte/belagerung

2009: Beendigung der menschenrechtswidrigen Genitalverstümmelungen an Zwittern als realpolitische Forderung

Als erste grosse LGBT-Organisation hat dieses Jahr der Lesben- und Schwulenverband Deutschland (LSVD) die Anliegen der Zwitter endlich ernst genommen. U.a. in einem sensationellen erstmaligen Wahlprüfstein Nr. 9 "Menschenrechtsverletzungen an Intersexuellen bekämpfen!" kritisiert der LSVD die genitalen Zwangsoperationen, Zwangskastrationen und Zwangshormontherapien an Zwittern ausdrücklich als "erheblichen Verstoß gegen das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit, Selbstbestimmung und Würde" und fordertkonkrete Massnahmen.

Mit dieser Formulierung bezog sich LSVD direkt auf die Forderungsliste des Dachverbandes der Selbsthilfegruppen Intersexuelle Menschen e.V. vom Juni 2008, die in der Präambel ebendiese Rechte explizit einfordert, sowie an erster Stelle die Beendigung der Zwangseingriffe. Auch OII Deutschland / IVIM fordert seit Frühjahr 2009 an erster Stelle "Das Recht auf körperliche Unversehrtheit" (gefolgt von "2. Das Recht auf Schutz vor medizinischer und/oder psychologischer Misshandlung, Bevormundung und Zwang")

Diese Solidarität des LSVD mit dem Kampf der Zwitter gegen Genitalverstümmelungen zeigte bereits erste Wirkung: 4 von 5 Bundestagsfraktionen bezogen darauf Stellung gegen genitale Zwangsoperationen!

(Die einzige Partei, die unbeirrbar an den Genitalverstümmelungen an Zwittern festhält, nämlich die CDU/CSU, verwechselte bezeichnenderweise in ihrem Statement "Intersexualität" einmal mehr mit "sexueller Orientierung" a.k.a "sexueller Identität" – und befindet sich damit leider in 'bester Gesellschaft' u.a. mit Bündnis 90/Die Grünen und Amnesty Schweiz ...)

Während der Kampf gegen die Zwangsoperationen als LGBT-Gender-Identität-Sexualität-usw.-Forderung politisch chancenlos ist, ist die Beendigung der medizinischen Verbrechen an Zwittern als eigenständige Menschenrechtsforderung mehrheitsfähig und kurzfristig durchsetzbar.

Zwischengeschlecht.org ruft alle fortschrittlichen LGBTQs und ihre Organisationen dazu auf,

  • ihre diesbezüglichen Positionen und Praktiken kritisch zu reflektieren 
  • den Jahrzehnte langen Kampf der Zwitter gegen Genitalverstümmelungen als eigenständigen Kampf um "das Recht intersexueller Kinder auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit" zu respektieren
  • die Zwitter in ihrem Kampf gegen Genitalverstümmelungen nach Kräften solidarisch zu unterstützen, NICHT die Leiden der Zwitter bloss als Aufhänger oder 'Material' für die eigenen Forderungen und Kämpfe zu benutzen!   

Die Durchsetzung der Beendigung der Genitalverstümmelungen an Zwittern würde am Sockel des Zweigeschlechtersystem möglicherweise mehr rütteln als 1000 Gendertheorien ...

Siehe auch:
- Mit der Hoffnung im Herzen 
- GPGF Basel 10.-12.09.09: Stop Vereinnahmung des Zwittersymbols im Namen von "Gender" und "Psychiatrie"! 
- "Genitalverstümmelung ein afrikanisches Problem?"
- Amnesty International zum x-ten Mal zur Unterstützung aufgefordert
- Zwitter als Kanonenfutter für die Transgenderagenda 
- Erneute Anfrage um Unterstützung an Deutschen Ethikrat
- Merkel & Co: Einladung zum Zwitterprozess!   

Creative Commons-Lizenzvertrag Dieser Inhalt ist unter einer
Creative Commons-Lizenz lizenziert.
Indymedia ist eine Veröffentlichungsplattform, auf der jede und jeder selbstverfasste Berichte publizieren kann. Eine Überprüfung der Inhalte und eine redaktionelle Bearbeitung der Beiträge finden nicht statt. Bei Anregungen und Fragen zu diesem Artikel wenden sie sich bitte direkt an die Verfasserin oder den Verfasser.
(Moderationskriterien von Indymedia Deutschland)

Ergänzungen

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

Zeige den folgenden Kommentar an