Diskriminierung von Arbeiterkindern

schwarze feder 01.12.2007 13:10 Themen: Bildung Medien
In diesen Tagen ist sowohl die Internationale Grundschul-Leseuntersuchung (IGLU/PIRLS) als auch die internationale PISA-Studie erschienen. Die IGLU-Studie liefert sehr detaillierte Daten zur Diskriminierung von Arbeiterkindern: Während Arbeiter_innen die genaueste Einschätzung der Leistung ihrer Kinder haben, setzen sie sich im Gegensatz zu Akademiker_innen nicht gegenüber den Lehrer_innen durch, die für Arbeiterkindern die Latte für den Übergang zum Gymnasium immer höher legen und diesen für Akademikerkinder immer leichter machen.
Die Grundschüler_innen wurden getestet und erhielten entsprechende Punktzahlen. Es zeigte sich, dass sowohl Lehrer_innen als auch Eltern nicht objektiv und leistungsorientiert die Kinder auf die Schulen verteilen, sondern entsprechend der sozialen Herkunft.

Im Schnitt wurden bei einem Testwert Kinder mit 580 Punkten aufs Gymnasium empfohlen. Arbeiter_innen liegen in der Einschätzung ihrer Kinder sehr viel näher an diesem Wert als Lehrer_innen. Völlig falsch liegen die Eltern aus der oberen Dienstleistungsklasse in den Einschätzungen der "Leistungsfähigkeit" ihrer Kinder.

Im Einzelnen:

* Lehrer_innen empfehlen Akademikerkinder bereits mit 537 Punkten zum Gymnasium, Arbeiterkinder müssen hierfür aber 614 Punkte erreichen
* Eltern aus der oberen Dienstleistungsklasse sehen ihre Kinder bereits gymnasialtauglich, wenn sie nur 498 Punkte erreichen; Arbeiter_innen möchten ihre Kinder erst dann aufs Gymnasium schicken, wenn sie 606 Punkte erreichen.
* Entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil sind es nicht in erster Linie Arbeiter_innen, die ihre Kinder nicht aufs Gymnasium schicken möchten (bereits bei 606 Punkten), sondern Grundschullehrer-innen (erst ab 614 Punkten).
* Akademiker-innen setzen sich gegenüber Lehrer-innen besser durch als Arbeiter-innen, wenn sie ihre Kinder aufs Gymnasium schicken wollen.

Die IGLU-Studie errechnet auch die Wahrscheinlichkeit von Kindern aus privilegierten gegenüber Kindern aus benachteiligten Herkunftsgruppen, bei gleicher kognitiver und gleicher Lesekompetenz eine Gymnasialempfehlung zu erhalten. Ähnlich wie die am Dienstag erscheinde PISA-Studie kommt sie auf einen Wert der knapp über 2,5 liegt.



Iglu ist nicht mit dem Vergleich

(A) "Kinder der Oberen Dienstklasse / Kinder von un- und angelernten Arbeitern"

an die Öffentlichkeit gegangen, sondern mit dem Vergleich

(B) "Kinder der Oberen Dienstklasse / Kinder von Facharbeitern und leitenden Angestellten"

Bei A haben die reichen Kinder eine 2,5 mal höhere Wahrscheinlichkeit eine Gymnasialempfehlung zu bekommen, bei B haben sie eine 4,5 mal höhere Wahrscheinlichkeit von den Lehrern diese zu erhalten (bei gleicher kognitiver und gleicher Leseleistung wohlgemerkt! nimmt man die reale Wahrscheinlichkeit, dann ist sie noch viel höher, da Arbeiterkinder aus diversen Gründen eine geringere Leseleistung in der 4. Klasse haben).
IGLU ist nun mit der Variante (A) in die Öffentlichkeit gegangen und dies vermittelt, dass reiche gegenüber armen Kindern eine zweieinhalb mal größere Wahrscheinlichkeit haben von Lehrern zum Gymnasium empfohlen zu werden. Die sehr viel größere Benachteiligung von Kindern von un- und angelernten Kindern fällt unter den Tisch. Dies war übrigens auch schon bei einer der letzten PISA-Studien so, wo auch nicht auf den Extremgruppenvergle ich zurückgegriffen wurde.

IGLU macht deutlich, dass die Benachteiligung schlimm ist. IGLU verschweigt durch seine Konstruktion für die Presse, dass es noch viel schlimmer ist.

Die Ergebnisse der PISA-Studie liegen noch nicht vor. Aber in der AFP-Meldung ist auch die benachteiligte Gruppe mit Kindern von "Facharbeitern" bezeichnet worden und nicht mit Kindern von "an- und ungelernten" Arbeitern. Die Frage ist, weshalb IGLU und PISA mit dieser - wenn man das ganze Ausmaß der Diskriminierung darstellen will - "falschen Bezugsgruppe" an die Öffentlichkeit geht.


Die konservativen klassistischen Rückzugsgefechte der deutschen Bildungspolitiker des letzten Jahres gehen einher mit einer zunehmenden Irrationalisierung und Biologisierung/Demografisierung der Bildungs- und Familienpolitik. Die internationale Kritik an der institutionalisierten Diskriminierung im deutschen Bildungssystem wird zunehmend aggressiv bekämpft:

* Ende 2006: die Kritik der EU-Kommission am dreigliedrigen Schulsystem wird mittels der Vetomacht der deutschen und österreichischen EU-Mitglieder abgeschwächt
* Frühling 2007: auf die Kritik des UN-Menschenrechtsbeobachters am deutschen Schulsystem wird mit rassistischen Angriffen auf seine Person reagiert: der Herr Professor aus Costa Rica solle doch erstmal richtig deutsch lernen.
* Sommer 2007: Der UN-Menschenrechtsbeobachter bedauert während der internationalen Tagung der Lehrergewerkschaften in Berlin, dass noch immer keine offizielle Stellungsnahme auf seinen Bericht vorliege
* Sommer 2007: Der Präsident der OECD höchstpersönlich stellt in Berlin den internationalen Bericht "Bildung auf einen Blick" vor: das diskriminierende Bildungssystem in Deutschland wird vom Bericht und von ihm kritisiert. Zöllner und Schavan schweigen. Der konservative Lehrerverband fordert die Einstellung der Gelder an die OECD, wenn diese weiterhin solche "ideologischen Papiere" herausgebe.
* Spätherbst 2007: die CDU-Regierungen von Niedersachsen und Baden-Württemberg drohen den Rücktritt aus der PISA-Erhebung an, wenn der internationale PISA-Koordinator Andreas Schleicher nicht zurücktrete.

Die konservative klassistische Bildungspolitik ist nicht an einer leistungsorientierten Bildungspolitik interessiert. Wenn es einen Mangel an Studierenden gibt, weil das deutsche Bilgungssystem Nicht-Akademikerkindern den Zugang zur Uni erschwert, dann muss man auf eine eugenische bevölkerungspolitische Familienpolitik zurückgreifen, wie sie sich in der Änderung vom Erziehungsgeld zum Elterngeld zeigt: Es muss mehr Akademikerkinder geben.

Mittelpunkt der herrschenden Bildungspolitik sind nicht Leistung und Chancengleichheit sondern die biologistischen Begriffe (Hoch-)begabung und Chancengerechtigkeit, sowie die dahinter stehenden Gedankengebäude. Es sind nicht in erster Linie kapitalistische Interessen, die die Schulpolitik bestimmen, sondern ein Klassenkompromiss, der sich aus den Interessen konservativer Gruppierungen (privilegierte Eltern, die den Bildungsvorteil ihrer Kinder sichern und ausbauen wollen; konservative Lehrerverbände; die katholische Kirche, die ihre bischöflichen Gymnasien sichern wollen; konservative Bildungspolitiker, die in dieser Tradition stehen) mit denen des Kapitals.
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Ergänzungen

Ergänzung

schwarze feder 01.12.2007 - 15:11
Könnt ihr bitte noch den Text den Bereichen Bildung und Soziale Kämpfe zuordnen?

Und hier ist noch der Link zur Studie:  http://www.ifs.uni-dortmund.de/

Die Tabellen finden sich im Text-Dokument auf Seite 21.

Stellungnahme der Bundesregierung

schwarze feder 01.12.2007 - 16:19
Die Bundesregierung ignoriert auf ihrer Homepage den Aspekt der Bildungsbenachteiligung durch die Lehrer_innen. Auf die Kopplung von sozialer Herkunft und Lesekompetenz wird in einer Weise eingegangen, als seien die "Unterschichten" schuld am schlechten Abschneiden ihrer Kinder.

 http://www.bundesregierung.de/nn_1264/Content/DE/Artikel/2007/11/2007-11-28-iglu-studie.html

Spannend auch die Formulierung Schavans:

"Hier müssen alle weiteren Reformen ansetzen, um Chancengerechtigkeit über die gesamte Bildungslaufbahn hinweg zu ermöglichen. Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen auch, dass frühe Förderung der Schlüssel zu mehr Chancengerechtigkeit für alle Kinder ist. In Kindertageseinrichtungen können Begabungen frühzeitig gefördert sowie Benachteiligungen rechtzeitig erkannt und abgebaut werden".

Die Begriffe "Chancengerechtigkeit" und "Begabung" werden bewusst eingesetzt. Sie ersetzen die kapitalistischen Begriffe "Chancengleichheit" und "Leistung". Sowohl Lehrer_innen als vor allem auch Eltern aus den oberen Dienstleistungsklassen können mit dem Begriff "Begabung" die Gymnasialzuweisung ihrer Kinder legitimieren: "er hat zwar nicht die nötige Leistung erbracht, aber er kann es, er ist eigentlich begabt". In diesem Zusammenhang wird die These der Vererbung der Intelligenz wichtig.

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