Wahlbeobachtung in den kurdischen Gebieten

Bericht einer Wahlbeobachterin 30.07.2007 15:23 Themen: Weltweit
in den kurdischen Gebieten zur türkischen Parlamentswahl am 22.07.2007
„Ich habe angst“, sagt Orhan. Er ist mein Sitznachbar im Flugzeug auf dem Weg nach Diyarbakir, der Hauptstand der kurdischen Bevölkerung im Osten der Türkei. Seit 20 Jahren lebt er in Deutschland, jetzt besucht er seine Familie in Mardin, einer kurdischen Provinzstand an der syrischen Grenze. Er hat Angst, dass das türkische Militär ihn festhält, auch wenn er einen deutschen Pass hat. „Das interessiert hier nicht. Hier bin ich Kurde“. Sein Pass liegt kopiert zu Hause. Wenn er sich in zwei Wochen nicht gemeldet hat, soll seine Frau die Botschaft anrufen. Er begrüßt es, dass Menschen auf Einladung des türkischen Menschenrechtsvereins IHD aus ganz Europa anreisen, um die Wahlen 2007 zu beobachten. Insgesamt haben sich 35 Delegationen auf den Weg gemacht. Wie eine Lösung des so genannten Kurdenproblems aussehen könnte, frage ich ihn. „Generalamnestie und Anerkennung der kurdischen Sprache. Das wäre ein ernstzunehmender Anfang“, antwortet er. Die prokurdische Partei für eine demokratische Gesellschaft (DTP) tritt dieses Mal mit unabhängigen „1000 Hoffnung Kandidaten“ an. Damit umgeht sie die 10% Hürde, die vom Militär 1987 eingeführt wurde. Sie hat große Chancen, mit über 20 Kandidatinnen und Kandidaten in das türkische Parlament einziehen zu können und dann eine Fraktion zu bilden.

In Diyarbakir treffen wir auf dem Flughafen die schwedische Delegation des sozialdemokratischen Studentenverbandes. Sie hätten gehört, dass Abdullah Demirbas, Distrikt-Bürgermeister der Stadt Diyarbakir vom Gericht abgesetzt wurde, weil er zusätzlich kurdisch als Amtssprache eingeführt hat. In dem Distrikt Sur sprechen 72% der Einwohner kurdisch, und nur 24% türkisch. Nun läuft ein Verfahren gegen ihn, ebenso gegen den Oberbürgermeister von Diyarbakir Osman Baydemir wegen Billigung. Abdullah Demirbas wird nun vor den Europäischen Gerichtshof ziehen.

Wir besuchen die DTP. „Gäbe es die 10% Hürde nicht, würden wir viel mehr Abgeordnete im Parlament stellen können“, sagt uns der DTP-Vorsitzende von Diyarbakir, Hilmi Aydogdu. Nur 600.000 Wähler sind in Diyarbakir registriert, erzählt er uns. Dabei gibt es hier 1 Mio., viele Wohnblocks wurden aber für die Registrierung bewusst ausgelassen. Auch können viele Kurden nicht wählen, weil sie z.Zt. als Saisonarbeiter in anderen Städten arbeiten. Er erzählt uns auch, dass die Kandidatin Gülten Kisanak gestern auf dem Weg zu einer Wahlveranstaltung vom Militär aufgehalten und mit einer Waffe bedroht wurde. Wir besuchen Akin Birdal, langjähriger Vorsitzender des Menschenrechtsvereins IHD. Auch er ist unabhängiger Kandidat für Diyarbakir. 1998 wurde er durch ein Killerkommando in der Geschäftsstelle des IHD in Ankara lebensgefährlich mit 6 von 12 Schüssen verletzt. Akin Birdal ist Symbolfigur für die Bemühungen eines großen Teils der türkischen Gesellschaft um Demokratisierung, Beachtung der Menschenrechte und Lösung des so genannten Kurdenproblems „Bisher gibt es keine systematische Wahlbehinderung“, sagt er uns. „Es gibt allein gesetzliche und bürokratische Hindernisse“. Wir hören, dass der Wahlzettel geändert wurde und die Schrift verkleinert. Die DTP ist über die Dörfer gefahren und hat vor allem den Analphabeten erklärt, wo ihre Kandidaten auf dem Stimmzettel zu finden sind.

Unsere Wahlbeobachtung wird in Hakkari stattfinden. Hakkari ist eine der rückständigsten und ärmsten kurdischen Provinzen im äußersten Südosten an der iranisch/irakischen Grenze. Noch in den 60iger Jahren galt sie als verbotene Zone. 60-70% wählen dort die DTP, auch wenn diese die soziale Situation nicht verändern kann. Hakkari ist die stärkste Provinz der Kurden. Hier leben 250.000 Menschen. Die Provinz ist von militärstrategischer Bedeutung. 70% der Dörfer sind verbrannt worden. Die Flüchtlinge leben in großer Armut am Rande der Stadt. Hakkari hat die meisten Dorfschützer (vom Militär eingesetzte und bewaffnete protürkische Kurden), 7.000 an der Zahl. Die Feudalherrschaft der drei Clans ist ungebrochen. Ein Clanchef sitzt für die AKP als Abgeordneter im Parlament, sein Sohn hat jetzt auch ein Mandat. Auf dem Weg dorthin im Bus wollen Sicherheitskräfte mit uns Tee trinken. Sie fragen, woher wir kämen und was wir wollen. Nach 15 Stunden Busfahrt kommen wir in der Stadt Hakkari an.

Vor dem Parteibüro der DTP sind hunderte von Menschen, meist junge Männer. Die lila Fähnchen, Symbol der Hoffnung, werden gerade hektisch abgenommen. Der Wahlkampf ist zu Ende. Wir werden zum Bürgermeister gebracht. Metin Tekce ist seit 2004 im Amt. Er war die erste öffentliche Person, die aussprach, dass die PKK keine Terrororganisation sei. Aufgrund seiner öffentlichen Aussage „Ich bin kein Türke und bin nicht stolz ein Türke zu sein. Denn ich bin ein Kurde und Bürger der Türkei“ wurde gegen ihn ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Er sagt vehement, die Arbeitslosigkeit beträgt hier „160 -170 %“. Für die Bevölkerung gibt es nur jeden zweiten Tag Wasser, es gibt kein kommunales Krankenhaus, es gibt keinen Frauenarzt, nur 60% der Haushalte verfügen über Kanalisation. Er erklärt uns, dass sie allein für die Personalkosten des öffentlichen Dienstes jährlich 8 Mio. Lire benötigten, aus Ankara erhalten sie aber nur die Hälfte. Metin Tekce erzählt uns, dass die DTP mit 1000 Wahlhelfern und –helferinnen alle Bewohner Hakkaris aufgesucht hat. Auch er bestätigt die geringen Zwischenfälle von Wahlbehinderung. Ihn macht das stutzig. Bei den letzten Jahren wurden immer wieder massiv Kandidaten bedroht, Wahlkampfbüros überfallen, Wähler standen am Wahltag nicht mehr in den Wählerlisten, dafür türkische Soldaten, die in den Bezirken nicht wohnen. Stimmzettel wurden auf dem Müll gefunden, Urnen verschwanden, Generäle standen neben der Wahlkabine und sagten, wer gewählt werden soll. Das Militär drohte der Dorfbevölkerung, oft auch mit körperlicher Gewalt. Metin Tekce erzählt uns weiter, dass in Hakkari die Wahlkommission auf ein Angebot des Militärs eingegangen ist, die Urnen aus den Dörfern mit Militärhubschraubern in die Zentralstellen einzufliegen. Das Militär wollte keine Sicherheit für den Transport der Urnen auf dem Landweg garantieren, obwohl die PKK erklärte, an diesem Tag keine Aktionen durchzuführen.

Wahltag. Es ist 8 Uhr. Die Wahllokale haben seit einer Stunde geöffnet. Wir werden nach Cigli gerufen, einem Dorf an der irakischen Grenze. Das Militär soll das Wahllokal umstellt haben und die Namen der Wähler aufschreiben. Auf dem Weg dorthin schauen wir bei einem anderen Wahllokal vorbei. Soldaten laufen uns entgegen. Das Militär ist verpflichtet, einen Abstand von 100 m zum Wahllokal einzuhalten. Bis nach Cigli stoßen wir auf 4 Sperren des Militärs und der Jandarma, 1 ½ Stunden müssen wir warten.

Im Cigli ist die Stimmung im Wahllokal aufgebracht. Die Dorfbewohner erzählen uns, dass das Militär die Personalienkontrolle aufgehoben hat, als sie erfuhren, dass eine Delegation kommen wird. Trotzdem war das Militär im Wahllokal. Ein schnell herbeizitierter Richter versucht, die demokratische Maske aufrechtzuerhalten. Widersprüche werden sichtbar. Der Wahlleiter sagt uns, er hätte das Militär nicht gerufen, der Richter behauptet das Gegenteil. Die Gespräche mit der Dorfbevölkerung ergaben immer das gleiche Bild: Bedrohung und Einschüchterung, Bestechung. In einigen Fällen auch physische Gewalt. „Sich zu beschweren hat keinen Sinn“, sagt ein Bewohner, die Beschwerden würde der gleiche Richter bearbeiten und dieser fällt Entscheidungen zugunsten des Militärs.
Wir wollen noch das Wahllokal in Doganli besuchen. Es ist kurz vor Wahlschluss. Das Militär verweigert den Zugang. Ein Soldat zieht sich seine Kampfjacke an. Hektisch telefonieren die Offiziere, bis wir die Erlaubnis erhalten. 6 m vor dem Eingang des Wahllokals stehen drei große Militärfahrzeuge Marke Unimog.

Wir fahren zurück. Unser Resümee: In allen von uns besuchten Wahllokalen fand gezielte Wahlbehinderung und Wahlbetrug statt. Außerdem hat das Militär den vorgeschriebenen 100m Abstand nicht eingehalten. Ich frage mich, wie massiv die Wahlbehinderung bei den früheren Wahlen ausgesehen haben muss, wenn die kurdischen Vertreter bei dieser Wahl meinten, die Verstöße seien nur vereinzelt. Wir sitzen im Büro der DTP und warten auf die ersten Ergebnisse. Auf der Straße strömen die Männer zusammen. Es ist eine brodelnde Stimmung. Geschrei und Freudenrufe, wenn ihre Kandidaten Stimmenzuwachs erhalten.

3 Abgeordnete werden für Hakkari in das Parlament einziehen. Die DTP hat ebenfalls 3 Unabhängige für drei Bezirke aufgestellt, Sebahattin Suvagci, Hamit Geylani und Hetem Ike. Um 21.00 Uhr gibt der Bürgermeister offiziell bekannt, dass nur Hamit Geylani gewonnen hat. Die Freudenstimmung schlägt um in Entsetzen und tiefe Trauer. Innerhalb kürzester Zeit sind die Straßen leer, die Stadt gleicht einem Friedhof. Erst nächsten Abend in Diyarbakir erfahren wir aus der Zeitung, dass Sebahattin Suvagci und Hetem Ike in das Parlament einziehen werden. Wie die Fehlinformation am Wahlabend zustande kam, konnten wir nicht ermitteln. Nun kann Hakkari endlich feiern.
Es ist ein großer Erfolg, dass die DTP mit 24 Abgeordneten und davon 8 Frauen nunmehr im türkischen Parlament vertreten sein wird und eine Fraktion bilden kann. Das Ergebnis der Wahlen bedeutet, dass Europa und vor allem die Türkei nicht mehr um eine Lösung der Kurdenfrage herumkommen wird. Die DTP hat angekündigt, eine andere Diskussionskultur in das Parlament einzubringen, die Konflikte lösen kann. Akin Birdal sagte uns: „gerade nach den Wahlen ist die internationale Zusammenarbeit noch wichtiger“. Dazu braucht sie unsere internationale Solidarität und Unterstützung. (B.)
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