Aktion auf der ARGE Freiburg

Günter Melle 29.09.2005 00:32 Themen: Soziale Kämpfe
Ver.di Erwerbslose gegen das Wirrwarr der Hartz-IV Bürokratie
Hartz IV - Bürokratie mit viel Seele und Systemfehlern -G.Melle-

28.09.05: Er habe Verständnis für die politischen Proteste der Erwerbslosen, meinte der Bereichsleiter aus der ARGE in Freiburg vor laufender Fernsehkamera und Anwesenheit des Lokalblattes BZ. Die ketzerische Äußerung fiel im kleinen Konferenzraum auf dem dritten Stockwerk im Seitentrakt eines dieser nicht übersehbaren massiven Gebäude, das gleich auf den ersten Blick unverkennbar die Verwaltung der derzeit wichtigsten gesellschaftlichen Aufgabe, der Arbeitslosigkeit, suggeriert. Der Anlass dieser Bemerkung war nicht etwa eine Pressekonferenz zur Bekanntgabe neuester Daten und positiver Fakten aus dem Bereich Fordern und Befördern, sondern die Verlegenheit bürokratischer Entscheidungsträger beim Protest von erwerbslosen Verdianern im Eingangsbereich für ALG2 Antragsteller/Innen. Unter Anwesenheit von Medien und Presse kam die nackte Anwendung des Hausrechts nicht in Frage und die Gruppe des Protests wurde kurzerhand zu Verhandlungen hinter geschlossenen Türen geladen.

Dennoch blieb genug Zeit davor, der Kundschaft für die Mangelware Arbeit, im Empfangssaal der ARGE Freiburg, Sinn und Zweck der Aktion mitzuteilen. Der Unterschied zwischen den erwerbslosen Verdianern und den übrigen von Hartz IV Betroffenen war offensichtlich. Erstere haben begriffen, dass die durch ein Armutsgesetz neu geschaffenen Realitäten nicht einfach hingenommen werden müssen. Wie in vielen anderen Fällen auch, bangte das Mitglied des Bezirkserwerbslosenausschusses Ver.di Südbaden Ingrid Wagner, um die fristgerechte Auszahlung ihres Folgeantrages. Zwei Tage zuvor noch wurde ihr von Seiten der ARGE bei telefonischer Rückfrage mitgeteilt, dass der Antrag noch nicht bearbeitet wurde. Ihr Sachbearbeiter war nicht erreichbar, die telefonischen Bemühungen über die teure 0180 Nummer durch den Dschungel des Bürokratienetzes endeten regelmäßig mit dem Hinweis „Kein Anschluss unter dieser Nummer“. Grund genug die Notbremse zu ziehen, um zu verhindern, dass der kommende Monat nicht zum existenziellen Fiasko wird. Kein Geld für Miete und für Essen stellt die Lebensweiche in gefährliche Richtung. Das wissen die organisierte Betroffenen, die sich wehren aber auch die, die geduldig auf die Annahme und Bearbeitung ihres Antrags warten. Das ist derzeit die überwältigende Mehrheit, Menschen kurz vor der Rente, allein erziehende Mütter, kranke Menschen, Jugendliche, deren soziale Herkunft bereits das Stigma der zukünftigen Arbeitslosigkeit anhaftet. Hartz IV reicht nicht zum Leben und nicht zum Sterben. Manchmal drucken Tageszeitungen Überschriften wie: „Wahnsinnige Mutter rastet aus“ oder „Aus Verzweiflung den Gashahn aufgedreht“. Würde die Hartz-Kommission als Autor, Schröder als Kanzler und die Parteien als Abnicker des Gesetzes zur neuen Armut in ihrer Verantwortung rechtlich annähernd gleich mit Berufsgruppen wie etwa in der Alten- und Krankenpflege gestellt werden, hätten sie schon längst hunderte Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung mit Todesfolge zu befürchten.

Für die organisierten Verdianer aus Freiburg und Offenburg ist der Zusammenschluss eine Überlebensfrage. Mann und Frau hilft sich weiter bei den unvermeidlichen Schwierigkeiten im Bürokratendschungel und in der Bewältigung des alltäglichen Lebens. Solidarität in der gemeinsamen Aktion macht das Leben erträglicher und verscheucht die düsteren Gedanken, die wie Gewitterwolken den Alltag bedrohlich verdunkeln. Solidarität bewirkt auch hier und da den Erfolg: die Verwirklichung einer Forderung oder die Abwehr einer konkreten Gefahr. Ingrid Wagner hat alle ihre Forderungen erfüllt bekommen. Die Bürokratie der Arbeitslosenverwaltung scheut nichts mehr als negative Schlagzeilen. Ihr Job ist es Millionen Euro darauf zu verschwenden, Langzeitarbeitslose in der Gesellschaft als Menschen darzustellen, deren mangelnder Wille zur Arbeit nun endlich durch effiziente Maßnahmen den Steuerzahler entlastet. Hartz IV war notwendig, ist auch das Credo der Bürokratie. Dass es dabei zu Fehlern kommt, liegt in der Kurzfristigkeit der verwaltungstechnischen Umsetzung begründet. Systemfehler in der Bearbeitungssoftware, Personalmangel, Schulungsdefizite des Personals, sind immer wieder die pragmatischen Argumente auf die verzweifelten Situationen in der Arbeitslosigkeit. Das tut uns leid, sagt der stellvertretende Geschäftsführer und reduziert tagtägliche Praxis auf Einzelfälle, das Unvermeidliche auf Vermeidliches. In dem Gespräch mit ihm im kleinen Konferenzraum im dritten Stock der ARGE sagen die Verdianer, dass das ganze Gesetz ein Systemfehler darstellt. Auch wenn es dazu gedacht ist, denen die Arbeit haben das Fürchten zu lehren, wird es unweigerlich dazu beitragen, dieses System neoliberaler Gestaltung gesellschaftlicher Realitäten ad absurdum zu führen. Die Formel des Neoliberalismus Freiheit des Kapitals führt zum Wohlstand für alle wird derzeit begleitet von staatlichen Maßnahmen, welche die verheerenden Auswirkungen dieser schon jahrzehntelang betriebenen Politik reparieren sollen. Statt Wohlstand für alle - Armenhaus für einen Teil der Gesellschaft. Statt Freiheit des Berufs und der Gestaltung des eigenen Lebens, Zwangsarbeit und verschärfte Reglementierung der individuellen Freiheiten. Statt Genuss der Früchte des technologischen Fortschritts, das Elend derer, die unter seinen Bedingungen arbeiten, arbeitslos sein und leben müssen.

Im Alltag heißt das, in der Wehrlosigkeit bleiben oder sich zu wehren. Ingrid Wagner und ihre Kollegen haben durch ihr entschlossenes Auftreten in der ARGE die Erfahrung gemacht, dass letztere Option nicht sinnlos ist. Die Bürokratie hat reagiert, die Forderungen der Gruppe nach sofortiger Auszahlung des Folgeantrages erfüllt. Nach zeitlicher Abwesenheit erschien der Teamleiter der Leistungsabteilung und präsentierte einen Bescheid, der um 5:21 Uhr zu früher Morgenstunde verschickt worden sei. Dieses Mal kein Systemfehler, die intelligente Verarbeitungssoftware hat zu arbeiten begonnen, als die Gruppe der Protestaktion noch schlief. Der seltsame Zufall verschaffte den zwanghaften Argumenten der Bürokraten das Alibi. Wir arbeiten - wenn es auch in der Öffentlichkeit nicht so ´rüberkommt - im Interesse unserer Kunden. Nun, die Kunden der ARGE sind eben nicht König, sondern Bittsteller.
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Ergänzungen

kunde ???

JüLa 29.09.2005 - 10:31
kunden bei der arge sind leute die arbeitskraft kaufen wollen.
erwerbslose sind aber gezwungen diese anzubieten, oder???

bisnano
JüLa

>

Du bist Deutschland

Michael Maurer 29.09.2005 - 11:02
Alltag in den Armutsbörden.
Ein Alltag der leider von der Öffentlichkeit weitestgehend nicht wahrgenommen wird. Einige wenige mutige Menschen die ihre Rechte kennen einerseits, und Millionen verängstigte, resignierte und verzweifelte, ihre Rechte nicht kennende Menschen andererseits. "Kunden!" Welch menschenverachtender Zynismus.
Meine Hochachtung für Günther Melle für diesen sehr einfühlsamen Artikel.
Günther, wir sehen uns.

Es geht immer weiter...

Autonom@ntifA 15.12.2005 - 15:37

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Repressionen durch das Jobcenter FHain-XBerg

Oliver 30.09.2005 - 13:40
Danke für das Mut machen, auch ich habe die Erfahrung gemacht, dass sowohl Widersprüche als auch Dienstaufsichtsbeschwerden zum Erfolg führen, nur muss man sich organisieren ... um wirklich mehr Schlagkraft zu bekommen ...ich werde gerade von Repressalien überrollt, weil ich mich gewehrt habe (die Waffen des kleinen Beamten: alles nochmal anfordern, was längst da ist; Drohungen mit Einstellung der Zahlung; wahrscheinlich demnächst auch einen 1-Euro-Job ...)... aber ich lass mich auch nicht unterkriegen, durchhalten, informieren, solidarisieren und gegen die Willkür ankämpfen.

@oliver

splash 02.10.2005 - 04:00

hi oli(oliver) . lass dich von der kacke nicht unterkriegen ;hasst du es schon mal über den oben genannten Erwerbslossenauschuß des DGB /bzw. von ver.di probiert meines erachtens ist dies noch der weg der am legalsten bzw. am einfachsten ist zu seinem recht zu kommen ...!Du bist nicht VERPFLICHTET dich unter DEINEN QUALIFIKATIONEN zu verkaufen , wenn du ne abgeschlossene Berufsausbildung/-lehre hast ....... (nach hartz 4 allerdings leider bis zu 30 % unter tarif...) mein wissensstand im mom.,

PS. : Liebe ver .dianer find euren Artikel echt cool ;wenn er denn wirklich von euch kommt ;als arbeitsöoser sollte mann /frau eben seine Rechte verstärkt wahrnehemen ,und das nicht nur am 3 .april auch wenn ich die demo gut fand ) sondern ALLTÄGLICH