Die Gründe für das französische Non

graik 30.05.2005 20:27 Themen: Soziale Kämpfe Weltweit
Die Europäische Politik ist entsetzt. Wie konnten die französischen Musterschüler nur gegen ihre schöne Verfassung stimmen? Das Nein der Franzosen ist ein Nein fuer, nicht gegen Europa. Ein Nein fuer eine andere, demokratische, soziale und friedliche Union. Aus den Strassen von Paris versuche ich die wichtigsten Gruende der Verfassungsgegner zusammenzufassen.
Das schwarze Schaf Europas -- Die Gründe für das französische Non.

"Um als tadelloses Mitglied einer Schafherde zu gelten, muss man vor allen Dingen ein Schaf sein."
Albert Einstein

Vor kurzem bin ich mit Eimer und Tapezierbürste und zusammen mit Leuten, die ich kaum kenne, durch unser Pariser "Quartier" gezogen und habe bunte Plakate mit einem dicken "NON" an die Häuserwände geklebt. Den Kampf um die Straße hat das "Nein" früh für sich entschieden -- 800 bis 1000 linke Bürgerinitiativen sind in ganz Frankreich aus dem Boden gesprungen, während das "Ja" seine eher ratlose als überzeugte Anhängerschaft kaum mobilisieren konnte. Indessen erleben die abgeschotteten politischen "Eliten" Europas ihren ganz persönlichen Albtraum. Wie konnte das Nein zur europäischen Verfassung in Frankreich jemals eine Chance haben? Die tonangebende Kampagne für das "Nein von links" vereinigt linksaussen Parteien, bisher vollkommen unbescholtene Bürger, Globalisierungskritiker, Bauernverbände, Gewerkschafter, frustrierte Sozialdemokraten und enttäuschte Grüne. Wie konnte dieser frisch zusammengewürfelte Haufen einer Ja-predigenden Allianz aus großen Medien und politischem Establishment die Stirn bieten?

2,5 Millionen Arbeitslose, die Abschaffung eines Feiertags ohne Lohnausgleich, verbitterte Arbeitskämpfe, die unermüdliche Privatisierung ehemals heiliger öffentlicher Dienste und natürlich der in der "Bolkenstein Direktive" kaum verschleierte Frontalangriff auf die gebeutelten Sozialsysteme haben sicher ihren Teil beigetragen. Die bei weitem mächtigste Waffe in den Händen der Verfassungsgegner aber war die Verfassung selbst. Im Gegensatz zu Deutschland und Spanien, haben es die französischen Politiker und Medienkonzerne nicht (oder nicht vollständig) vermocht die Buchdeckel geschlossen zu halten. Einmal geöffnet, entpuppt sich der "historische" Vertrag als abschließendes Todesurteil für die Demokratie in Europa, als Marschbefehl zu Aufrüstung und Krieg, und vor allen Dingen als bedingunslose Kapitulation vor neoliberaler Ideologie und Marktherrschaft.

Für den von der deutschen Presse eingelullten Leser kann eine solch radikale Analyse eigentlich nur Ausgeburt eines extremistisch oder sonstwie verborten Hirns sein. Aber ein großer Teil der französischen Bevölkerung würde sie so oder sinngemäss vermutlich ohne Zögern unterschreiben. Um mich herum stapeln sich an die 30 verschiedene Flugblätter und Sonderdrucke der Kampagne für das "NON", dicht gespickt mit Zitaten und Querverweisen auf das 448 Artikel schwere Vertragsungetüm. Es ist höchste Zeit das nachzuholen, was die deutschen Medien auf das Peinlichste vermeiden. Ich werde nun versuchen einen (subjektiven) Überblick über die wichtigsten Argumente zu geben, die zeitgemäss unbeteiligte französische Konsumenten (oder deutsche wie mich) in politische Aktivisten verwandelt haben.

Zwischen 60 und 80% der Gesetze, die unsere nationalen Parlamente beschließen, sind mittlerweile bloße Umsetzung europäisch verbindlicher Direktiven. Die nationalen Demokratien haben also längst den größten Teil ihrer Macht an Europa abgetreten. Die Frage von wem und wie diese europäischen Entscheidungen getroffen werden, ist in Wahrheit viel wichtiger, als wer in Deutschland oder Frankreich gerade die Wahl gewinnt und im europäischen Korsett mit nachgeordneten Themen rechtes oder linkes Marketing betreibt.

Die europäische Verfassung steht als internationaler Vertrag über nationalem Recht (Art. I-6). Sie erledigt damit ganz nebenbei so altmodische Regeln, wie zum Beispiel das im Grundgesetz verankerte Verbot eines Angriffskrieges. Die neue Verfassung geht aber in einem entscheidenden Punkt weit über die älteren Verträge hinaus -- Artikel I-7 legt lapidar fest: "Die Union besitzt Rechtspersönlichkeit." Damit handelt es sich bei diesem Vertrag aber um nichts anderes als eine Staatsgründung! Die Union kann nunmehr eigenständig Verträge unterzeichnen oder auch Krieg erklären. Wer hat die Macht in diesem neuen Staat? Wessen Interessen vertritt er? Was sind die Ziele und Werte seiner Politik?

1) Die Abschaffung der Demokratie

"Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus." Sinngemäß ist ein solcher Artikel Dreh-und Angelpunkt jeder demokratischen Verfassung. Die neue europäische Verfassung kennt ihn nicht. Sie wurde von einem Konvent ausgearbeitet, der von wem auch immer ausgewählt, jedenfalls nicht vom Volk gewählt war und ist ein Vertrag zwischen nationalen Regierungschefs (siehe Präambel) "zum Wohle" der europäischen Untertanen. Die Macht geht von den Regierungschefs aus. Sie bestimmen die Richtlinien der europäischen Politik (Art. I-21). Ihre Minister beschließen die Details und sind zugleich Gesetzgeber (Art. I-23). Die Chefs und ihre Minister besetzen die mit der Tagespolitik betraute Kommission (I-27). Nur diese Kommission, und nicht etwa das Parlament, darf Gesetze vorschlagen (I-26) und übernimmt aber auch gleich noch deren Ausführung. Das Parlament kann Gesetze (und Kommission) bestenfalls blockieren (I-34, III-396). Geht es um freien Wettbewerb (III-165), die Verteilung der Haushaltsmittel (III-404) oder die Entscheidung über Krieg und Frieden (I-40; III-205), hat das Parlament praktischerweise gleich gar nichts zu melden. Die Verfassung entledigt sich also auch des zweiten Grundpfeilers jeder echten Demokratie -- eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Juristiktion würde dem "wohlwollenden" Wirken der Regierungen nur im Wege stehen. Erfahrungsgemäss müssen sich aber Regierungschefs bei nationalen Wahlen nicht für ihre Europapolitik rechtfertigen und können statt dessen "Brüssel" zum bequemen Sündenbock für die eigenen Fehler erklären.

Für ihre Befürworter ist die Verfassung trotzdem ein "Meilenstein" zu einem noch "demokratischeren" Europa. Dies ist eine klare (Selbst)Täuschung. Diese Verfassung gilt, zumindest theoretisch, für alle Ewigkeit (IV-446), und sie kann praktisch nicht verändert werden. Jede Änderung bedarf der Einstimmigkeit von allen 25 Länderchefs und muss in allen Ländern ratifiziert werden (IV-443). Ohne den Druck eines Verfallsdatums, ist eine solche Einigkeit schlichtweg unvorstellbar.

2) Die universelle Herrschaft von Markt und freiem Wettbewerb

Was sind nun die Ziele dieser Union mit ihrer "ewigen" Verfassung? Laut Artikel I-3 sind dies vor allem "Frieden", "Wohlergehen ihrer Völker", "Freiheit", "Sicherheit", "Recht" und ein "Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb". Die genaue Festlegung einer Wirtschaftsordnung nimmt sich in einer Verfassung etwas merkwürdig aus. Markt und Wettbewerb sind also nicht mehr Mittel zum Zweck, sondern Zweck an sich! Was aber, wenn "freier und unverfälschter Wettbewerb" mit dem "Wohlergehen" der Völker unvereinbar ist? Der restliche Text lässt keine Zweifel, wo die Prioritäten liegen. Die "Grundfreiheiten" der Union (I-4) sind "der freie Personen-, Dienstleistungs-, Waren-, und Kapitalverkehr". Die in Frankreich berühmt gewordene "Bolkenstein-Direktive" lässt grüßen und wird später noch untermauert (III-144,147,148). Überhaupt hat es dieser Teil III in sich. 311 Artikel regeln jedes noch so kleine Detail der einzig wahren Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Nationalstaaten verlieren die Möglichkeit öffentlicher (soll heissen demokratisch kontrollierter) Wirtschaftsförderung (III-167). Nationale Projekte wie der französische TGV Hochgeschwindigkeitszug, der deutsche Transrapid oder der Britisch-Deutsch-Französische Airbus und die Ariane-Rakete sind von nun an verfassungswidrig. In Artikel III-314 verpflichtet sich die Union auch nach aussen zur "schrittweisen Beseitigung der Beschränkungen im internationalen Handelsverkehr und bei den ausländischen Direktinvestitionen sowie zum Abbau der Zollschranken und anderer Schranken." Es handelt sich dabei um eine Verschärfung des Artikel 110 des Vertrages von Rom (1957). Wirtschaftsnobelpreisträger Maurice Allais meint, "... die unbedachte Anwendung dieses Artikel 110 ... seit 1974 hat zu einer massiven Arbeitslosigkeit ohne jedes Beispiel und zur fortschreitenden Zerstörung von Industrie und Landwirtschaft geführt" (Le Monde, 16.05.2005).

Die Liste ließe sich fast beliebig fortsetzen. Art III-131 wirft ein besonders schönes Schlaglicht auf den Geist der Verfassung: Sollte es in einem Mitgliedsstaat zu einer "schwerwiegenden Störung der innerstaatlichen öffentlichen Ordnung" kommen, "... setzen sich die Mitgliedsstaaten miteinander ins Benehmen, um..." -- Ja was, Leben zu retten, in Konflikten zu vermitteln? -- Nicht doch, weit gefehlt! "... um durch gemeinsames Vorgehen zu verhindern, dass das Funktionieren des Binnenmarktes ... beeinträchtigt wird."

3) Das Ende des Sozialstaates

Eine europäische Sozialpolitik wird in Art. III-210 zunächst angedeutet, allerdings "unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten" und ist also tatsächlich verboten. Während die Staaten in den "freien" Wettbewerb um die niedrigsten Unternehmenssteuern treten, können die europäischen Wähler keine sozialen Mindestandards verlangen. Das französische Recht auf Arbeit mutiert zum "Recht zu arbeiten". Die Union wirkt auf die "...Anpassungsfähigkeit der Arbeitnehmer sowie der Fähigkeit der Arbeitsmärkte hin, auf die Erfordernisse des wirtschaftlichen Wandels zu reagieren" (Art. III-203). Die von französischen Politikern unter Tränen der Rührung angepriesene "Charta der Grundrechte" (Teil II) gilt in Wahrheit nur für die "Organe ... der Union .. und für die Mitgliedsstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union." Malta kann also beruhigt an seiner Todesstrafe festhalten und die Türkei, so aufgenommen, darf weiter Kurden foltern -- sie können dafür lediglich keine EU Beihilfen beantragen.

Die Franzosen begreifen ihre öffentlichen Dienste als demokratische Errungenschaft. Die Verfassung kennt statt dessen nur "Dienstleistungen von allgemeinen wirtschaftlichen Interesse", die den Wettbewerb nicht beeinträchtigen (III-166) und keine öffentlichen Beihilfen erhalten dürfen (III-167), wenn letztere den "...Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen." Eine weitere Innovation der Verfassung ist die Einführung eines Streikrechts für Arbeitgeber (II-88). Damit werden die in den meisten Ländern verbotenen Aussperrungen in Europa wieder eingefuehrt.

4) Programmierte Aufrüstung und Krieg

Die Union möchte "den Frieden ... fördern" (I-3). Der Weg dahin erscheint aber etwas ungewöhnlich: "Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern" (I-41 Abs. 3) und die für alle Mitglieder verbindliche Sicherheits- und Verteidigungspolitik muss mit der Politik der Nato "vereinbar" sein (I-41 Abs. 2, 7). Das europäische Parlament "wird über ihre Entwicklung auf dem Laufenden gehalten" (I-41 Abs. 8). Wie schon erwähnt, hat das Parlament bei der Entsendung von Soldaten keinerlei Mitspracherecht. Beim Beschluss von Militäreinsätzen darf der Ministerrat noch nicht einmal vom Gerichtshof kontrolliert werden (III-282).

Wie wird diese "Sicherheits"-Politik wohl aussehen? Die 2003 verabschiedete europäische Militärdoktrin gibt einen Vorgeschmack. Mit dem Blick fest gen Amerika gerichtet verfahren unsere Staatsmänner wie immer nach dem Motto "erst eifern, dann nacheifern". Während sie sich öffentlich über die "Bush-Doktrin" beschwerten, führten sie selbst das Prinzip des Präventivkrieges ein. Javier Solana, oberster Aussenpolitiker Europas erklärte nach der einstimmigen Annahme seines Strategiepapiers: "Daher müssen wir bereit sein, vor dem Ausbrechen einer Krise zu handeln" und weiter immer schön im Gleichschritt "Gemeinsam handelnd können die Europäische Union und die Vereinigten Staaten eine eindrucksvolle Kraft sein, die sich für das Gute in der Welt einsetzt." Dass auch George W. Bush die europäische Verfassung ausdrücklich gutheisst, war für die Franzosen dann aber alles andere als überzeugend.

Die französische Antwort

Die Mischung aus Unverfrorenheit, Überheblichkeit und Einschüchterung, mit der Regierung und viele Medien in Frankreich Partei für das Ja ergriffen, hat dem Nein vermutlich eher geholfen. Selbst noch in der Wahlnacht, war das Fernsehen offenbar bemüht das Nein in den Verruch von Rechts- und Linksradikalismus zu bringen. Während die Plakate und Flugblätter der bunten "Nein von Links" Kollektive die Strasse überschwemmen, während 59% der Sozialdemokraten und 60% der Grünen das Nein ankreuzen, dürfen der Nationalist Villiers und der Faschist Le Pen "ihren" Sieg vor der Kammera langatmig auskosten bevor der erste Vertreter der Linken (ausgewählt vom linken Rand) überhaupt zu Wort kommt.

Das französische Nein zur Verfassung hat sich nicht aus einem einzigen politischen Lager gespeist und Anhänger von Le Pen und Co. gehören leider dazu. Treibende und mit Abstand dominierende Kraft aber waren linke Bürgerinitiativen und Parteien. Das französische Nein richtet sich gegen unsere entrückten "Eliten", die die europäische Idee auf dem Altar des freien Marktes opfern. Frankreich hat für Europa gestimmt -- für ein anderes, ein demokratisches, gerechtes und soziales Europa.
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Ergänzungen

Das ist ja alles verständlich

StudentHH 30.05.2005 - 21:24
aber solltest du nicht verschweigen dass nicht nur Linke Gruppen das Nein erzwungen haben. Dazu gehören auch nationalistische und protektoristische Gruppen.
Das "Non" alleine für die Linke zu vereinnahmen finde ich doch etwas zu gewagt.

Das Rechte und das Linke Nein

graik 31.05.2005 - 15:25
Der Einwand ist berechtigt. Zwar hat das konservative Lager (mitsamt rechtem Rand) zu 70% mit Ja gestimmt, aber die Le Pen - Anhaenger haben zu 90% Nein votiert. Ich hab keine genauen Zahlen gefunden, aber nach
einer kurzen Ueberschlagsrechnung (zwischen 15 und 18% fuer Le Pen bei der letzten Praesidentenwahlrunde) nehme ich an, dass 10 bis 20% der Franzosen nicht von links sondern von rechts Nein gestimmt haben. Daran haette vermutlich aber auch keine Kampagne viel geaendert.

Das heisst das "Non de gauche" Lager kann nicht wirklich fuer sich in Anspruch nehmen, die Mehrheit der Franzosen zu vertreten, aber sie waren es, die die Debatte ueberhaupt ins Rollen gebracht haben und zwar von unten, gegen die grossen Medien, ueber Plakate, lokale Debatten in jeder Ecke Frankreichs, beinnahe taegliche Flugblattaktionen, Informationsstaende. Wir reden hier von vielen Tausend Freiwilligen die die Kampagne ueber Monate buchstaeblich auf der Strasse gefuehrt haben. Das erste Mal sind Themen wie Neoliberalismus und Demokratiedefizit bis weit in die Mitte der Bevoelkerung gedrungen, auf jeden Fall weit ins Lager der moderaten Sozialisten und Gruenen. Ich bin gespannt, was da noch draus wird...

Diskussion

StudentHH 31.05.2005 - 17:29
Da hast du wohl absolut Recht. Das Fehlen jedweder Diskussion (abseits von indymedia) also vor allem in der bürgerlichen Presse ist traurig aber bezeichnend zugleich.
Eine "NEIN" Diskussion in Deutschland wäre wohl zu schnell von den Nationalisten vereinnahmt und damit verunglimpft worden.
Schade dass es hier keine größeren "nein von links"-aktionen gab und ein europäisch-optimistisches "merci" nach frankreich...